Die schöpferischen Errungenschaften

      Konstantin Ssomow: Der Traum.

Wir hoffen keiner fraktionellen Einseitigkeit beschuldigt zu werden, wenn wir auch die impressionistischen Gruppen der heutigen russischen Kunst als vollständig degenerierend bezeichnen. Wohl sind noch die schöpferischen Errungenschaften dieser Richtungen jung und frisch, sie beherrschen den „Geschmack", die Zeit aber geht einen anderen Weg, wählt ein anderes Tempo und so befindet sich auch der lebensfreudige Impressionismus jenseits der Gegenwart. Bevor er noch seine klassische Phase erreicht hat, ist er schon im Strudel des heutigen Kunstlebens untergegangen. Eben deshalb vielleicht suchen die Reste des Impressionismus in eklektischen Wiederholungen, in misslungenen Versuchen, sich den neuen Forderungen anzupassen, ihre verlorenen Lebensrechte wieder zu gewinnen, die fortschreitenden Jungen einzuholen. Ein solches Urteil bilden wir auch auf Grund unserer unmittelbarer Eindrücke — der Besuche der Ausstellungen des ,,Vereins russischer Künstler" und anderer impressionistischer Gruppen Russlands der letzten Jahre. Diese Ausstellungen bieten ein ziemlich langweiliges Bild, da das Kontingent ihrer Teilnehmer auf einen Kreis längst bekannter, heute machtlos sich selbst wiederholender Künstler beschränkt ist. Immer objektiv bleibend, machen wir den Leser auch mit dieser stagnierenden Kunst, die sich aber noch immer der Sympathien der Majorität erfreut, vertraut.


Je mehr wir uns der Neuen Kunst nähern, desto schwerer fällt es uns, von nationaler Kunst zu reden. Freilich kann man, den geläufigen Mitteln der Kunstforschung nach, in einer kleinlichen ,,wissenschaftlichen" Arbeit einen spezifisch deutschen — französischen — holländischen — Impressionismus und Expressionismus finden. Aber je mehr sich die heutige Kunst in ihre eigenen künstlerischen, oft experimentalen Aufgaben vertieft, desto unnützer erscheint uns eine derartige nationale Differenzierung. Wir werden auch nicht dem Laien folgen, der im russischen Impressionismus den Verfall der nationalen russischen Kunst durch „französische Einflüsse" bejammert. Gewisse künstlerische Weltideen wurden von der russischen Kunst aufgenommen, trotz ihrer nationalen Spiegelung erscheinen sie der Majorität als ,,fremde Kultur", ,,fremde Seele".

So sehen wir einen russischen Dégas — W. Serow, einen russischen Monet — J. Levitan, einen russischen Rodin — S. Konenkow etc. etc. Freilich sind sie Russische Künstler, freilich offenbart sich oft in ihrem Schaffen der orientalisch-russische Geist; nicht aber das nationale Moment, sondern absolut künstlerische Werte bestimmen ihre Bedeutung für die allmenschliche Kunst. Bei Konstantin Korowin tritt eine orientalische Farbenlust hervor, bei Michael Wrubel slawisch vertieftes Suchen nach metaphysischer Erkenntnis, bei Levitan die Lyrik der russischen Landschaft, bei Konenkow die volkstümliche Märchenphantasie, bei Maljawin das Prisma der russischen Palette, und doch werden wir heute nicht mehr das spezifisch Russische in ihrer Kunst suchen, um es z. B. dem Deutschen gegenüberzustellen, wie es die fleißigen Sammler der nationalen Verdienste in majorem gloriam dieses oder jenes Volkes bis heute noch zu tun pflegen.

Die künstlerischen Traditionen der Führer des russischen Impressionismus — wie W. Serows (†), M. Wrubels (†), J. Levitans (†), werden von den Mitgliedern der ,,Vereinigung russischer Künstler" und anderen Gruppen weitergepflegt. Hier sehen wir folgende eigentümliche Gruppen:

Die Gruppe Maljawin-Korowin erscheint in ihrer Schaffens- und Lebenslust als typische Vertreterin des russischen Impressionismus. Maljawins ,,Baby" (russische Bäuerinnen) mit ihrem Parben-Bacchanal, Korowins impressionistisches Empfinden der modernen Großstadt, seine orientalischen saftigen Krimlandschaften sind im Auslande, als nationale Züge des russischen Impressionismus, gut bekannt. In heutigen Ausstellungen sehen wir als Nachfolger dieser Künstler: Winogradow (südliche Landschaft- und Genrebilder) und Schukowskij (Interieurs aus alten russischen Gütern und Palais). Der Maler Bytschkow pflegt ländliche Genreszenen, der populäre K. Juon das Leben der grauen russischen Provinz. Wenn wir dazu die Landschaftsmalerei Perepletschikows (†), Baron Klodts (Epigonen der großen Kunst J. Levitans), die Porträts Maljutins und Uljanows, die bekannten Zeichnungen Leonid Pasternaks (Serow-Schule), die impressionistischen Plastiken S. Konenkows, der Frau Krandjewskij und des Fürsten P. Trubetzkoj beifügen, so gewinnen wir eine klare Vorstellung des doktrinären Impressionismus Russlands. Etwas Isoliertes bedeuten in diesen Ausstellungen: die großen religiösen Freskokompositionen Viktor Wasnezows † (?), der Pointillismus J. Grabars, die dekorativen Landschaften Krymows, der nicht mehr die Impression, sondern die reine Gestaltung der Farbe anstrebt, schließlich die eigentümliche Gruppe der Künstler des linear-ornamentalen und stilistischen Impressionismus (eine deutsche Parallele z. B. Klimt oder Leistikow), dessen künstlerische Rolle und Einflüsse von großer Bedeutung sind. Hierzu gehört der in Deutschland sehr bekannte Konstantin Somow, ein tiefer slawischer Lyriker, ferner Alexander Benois, Nikolai Roerich, M. Dobuschinskij, Leon Bakst und andere bekannte Künstler, die die Impression ins Dekorative umstilisieren. Die Mehrzahl dieser Künstler sucht die spielerische Anmut des Rokokos einem raffinierten Ästhetizismus à la Beardsley dienstbar zu machen. Aus der Gegenwart flüchtend, bringen sie in ihr Schaffen einen toten Widerklang toter Epochen und finden so ihre Basis in jenen Gesellschaftsgruppen, die keinen Mut haben, in das ,,Morgen" zu sehen. Dieser letzte Widerhall einer verklungenen Epoche in diesem Dekorations-Linearismus ist kein Zufall. Es ist der Ausklang eines modernen Ästhetizismus, der sterbend noch einmal in der Vergangenheit schöpferische Motive sucht, um gleich darauf den Platz für neue, parallel sich entwickelnde Richtungen zu räumen. Eine hohe Stufe der dekorativen Kunst, des Kunstgewerbes, der Bücherillustration etc. (in Russland: Somows, Bilibins, Mitrochins und Lancérés graphische Werke zu Prachtausgaben, Dobuschinskijs und Golowins Theater-Dekorationen, Wrubels und Roerichs dekorative Fresken) gehören zu dieser Stilentwicklung. Selbstverständlich kann diese Gruppe keine neuen Errungenschaften in den letzten 5 Jahren aufweisen. Es wäre noch zu erwähnen, dass diese Künstler auf dem Gebiete des Theaters, des Kunstgewerbes, des Buchwesens auch weiterhin noch tätig sind.

Die letzte Etappe des russischen Impressionismus bedeutet jene Gruppe sanfter lyrischer Träumer, die sich um 1910 unter dem Obdach der Zeitschrift ,,Das goldene Vließ" und der Vereinigung ,,Die blaue Rose" gebildet hat. Bei Borissow-Mussatow, der im Auslande so viel bewundert wurde, war ein eklektischer Retrospektivismus noch nicht überwunden. Seine Errungenschaft war die malerische Umwandlung des Dekorativen — ohne illustrativ graphische Übertreibung, (Im Gegensatz zu den rein linearen Werken von Benois, Bilibin, Roerich, Bakst, Lancéré u. a.) Die Sujets aber blieben dieselben: Schwärmende Jungfrauen in Biedermeierkostümen, sorgfältig frisierte Alleen, intime Pavillons, schlammige Teiche — alles in statischer Ruhe hinter dekorativer Nebligkeit, die den Eindruck des Traumes und der Sehnsucht nach dem Gestern erzeugen soll.

In ihren früheren Werken befinden sich solche Künstler, wie N. Ssapunow, B. Ssudejkin, P. Kusnezow, (s. u.) noch unter dem Einfluss dieses Sentimentalismus. Eine gewisse Verschwommenheit, durch einschmeichelnd hybride, flimmernde Farben erzielt, kämpft gegen die brutale Deutlichkeit des Wirklichen an. Später tritt bei ihnen, insbesondere bei N. Ssapunow*) die Freude an Phantasmen, an theatralischen Impressionen, an Übertreibung der Lokalfarbe hervor. Eine absichtliche Vernachlässigung der Linie verleiht den Werken Ssapunows jenes Zauberhafte, Intime und Illusionistische, das als das Reizvollste der russischen Retrospektivisten zu bezeichnen ist. *)

*) Ferneres über ihre Tätigkeit siehe im Abschnitt über die Theaterdekoration.

In die Sackgasse des Formalismus geraten, suchen die letzten Epigonen des Impressionismus einen Ausgang ins Seelisch-Expressive. Es entsteht eine Verzweigung, die der gesamten Stilentwicklung nicht untergeordnet ist und chronologisch den Anfängen des Expressionismus entspricht. Ein Künstler, wie Mikolajus Tschurljanis *), ist für diese Stilstufe der russischen Kunst besonders typisch. Er ist halb Maler, halb Musiker. Er sucht in Linie und Farbe Ausdrucks-Äquivalente für musikalische Themen. Er will die Malerei, die den Raum allein kennt, und die Musik, die nur mit der Zeit rechnet, synthetisch verbinden. Er gestaltet die Harmonie der Sphären, die Bewegung der Welten im Kosmos. Die singende Farbe und der leuchtende Laut — das ist sein synthetisches Ziel. Tschurljanis will die Kunst zum Mysterium erheben, er macht den Versuch einer Synthese von bildender Kunst und Musik, einen fast naiven Versuch, der aber, jeder Theoretisierung und Berechnung bar, den Reiz einer halb unbewussten Gesetzmäßigkeit besitzt. Seine ,,Symphonien", ,,Sonaten" und ,,Präludien" verraten ungeachtet ihrer Schönheiten jenen Mangel an künstlerischer Gestaltungskraft, der ihn zur Überschreitung der natürlichen Grenzen der bildenden Kunst, im Suchen nach ,,vierter Dimension" und Metamorphose, veranlasst. Auf diesem Wege konnte die russische Malerei nicht zu einem neuen Stil gelangen, die Statik der bildenden Formen stand der kinetischen Natur der Musik in einem unüberwindbaren Widerspruch gegenüber. Noch 1914 erregten die Werke Tschurljanis (gest. 1911) großes Aufsehen in Künstlerkreisen. Dem überraschten Betrachter jener ,,Symphonien" standen mannigfaltige geistreiche Bücher und Erklärungen zur Verfügung, die die Dekadenz der alten Kunst und das Verirren in jene Sackgasse dokumentierten. Das Talent von Tschurljanis wurde von den Kunstkritikern, die diese günstige Gelegenheit für eine Popularisierung methaphysischer Kunst auszunützen versuchten, anerkannt. Heute ist der talentvolle Fehler Tschurljanis eher eine Warnung als ein Weiser für die jungen russischen Künstler. *)

*) Vergl. Abbildung 17: Tschurljanis: Andante aus der Sonate „Chaos".
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Neue Kunst in Russland 1914-1919
006 Der Traum, Konstantin Ssomow

006 Der Traum, Konstantin Ssomow

025 Entwurf zu Robin et Marion, M. W. Dobuschinskij

025 Entwurf zu Robin et Marion, M. W. Dobuschinskij

026 Entwurf zum Teufelsmysterium von A. Remisow, M. W. Dobuschinskij

026 Entwurf zum Teufelsmysterium von A. Remisow, M. W. Dobuschinskij

027 Entwurf zu einem Theatervorhang . . , N. N. Ssapunow

027 Entwurf zu einem Theatervorhang . . , N. N. Ssapunow

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