Der künstlerische Kampf

Russisches Volksblatt: Der Prinz Bova.

        Mit 100 cm Mörsern eurer Kehlen
        Erschießt den alten Kram.

                        W. Majakowskij


Der künstlerische Kampf ist im letzten Jahrzehnt so intensiv, der Antagonismus der kulturellen Generationen wird so scharf, dass es heute dem Laien oft scheint, es gäbe zwei Künste. Die Kunstgeschichte gibt uns mehrere glänzende Beispiele (Anfänge der Renaissance in Deutschland, die ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts auf Russland bezogen — die Kunstkämpfe im Anfang des 18. Jahrhunderts unter Peter dem Großen etc. etc.) in denen wir mit Erstaunen analoge Erscheinungen sehen, die einen Wechsel der künstlerischen Generationen begleiten. Wenn sich heute dieser Kampf in den schärfsten Formen vollzieht, so liegt der Grund in all' den großen kulturellen und politisch-sozialen Umwälzungen, die die ganze Welt nicht nur auf dem friedlichen Gebiete der Kunst erschüttern. Wir werden zu beurteilen haben, ob ein unvermeidlicher progressiver Evolutionsgang oder eine barbarische Revolution eines verwilderten, alle Werte der Kultur verneinenden Geschlechtes vorhanden ist.

Werfen wir einen Blick auf die ,,alte" Kunst in Russland in ihrem heutigen Zustand! Wir bekommen eben hier den Eindruck, als ob wir auf ein Gebiet gerieten, das mit der eigentlichen Kunst, wie wir sie heute, durch lange Erfahrung belehrt, begreifen, nichts zu tun hat. Erschreckt durch den steten unvermeidlichen Gang der Geschichte und durch die unaufhaltsam andrängenden frischen Kräfte, den nahenden Tod spürend, verteidigen die ablebenden Menschen in ihrer Agonie trotzig die Rechte auf weiteres Leben, d. h. auf ein isoliertes Gebiet, wo man alte, angewohnte Traditionen weiter kultivieren kann. Dies sind meine Eindrücke von den Ausstellungen der russischen ,,Realisten" wie sie sich, in wissenschaftlicher Kurzsichtigkeit nennen — sowie von den meisten Ausstellungen, die mir auf deutschem Boden begegnet sind. Unter dieser ,,alten Kunst" verstehen wir alle nichtfortschrittlichen Gruppen der heutigen Kunst, gleichgültig ob sie der naturalistischen, impressionistischen oder einer anderen Schule angehören (wobei wir allerdings unsere Auffassung von künstlerischer Entwicklung beim Leser voraussetzen müssen).

Die Vertreter der russischen naiv-realistischen Schule schließen sich im ,,Russischen Verein für Wanderausstellungen" *) zusammen. In Kürze wird er das 50jährige Jubiläum seines Bestandes feiern, aber seine schöpferische Periode schwindet schon an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, wo die jüngeren Kräfte, — „Verein russischer Künstler" (impressionistische Schule) und ,,Die Kunstwelt" (in der schon Cezanes Einflüsse zu bemerken sind) in die Arena des russischen Kunstlebens treten.

Der russische Naiv-Realismus bedeutet nur in stofflicher Hinsicht eine nationale Kunst; der deutsche Leser kann sehr leicht eine Vorstellung von den Ideen und künstlerischen Mitteln der ,,alten Kunst" in Russland gewinnen, wenn er sich die Werke eines Defreggers, Knauß, Grützner vor Augen hält. Dem Freunde der „wahren, schönen Kunst" in dessen Hände eventuell dieses Büchlein geraten ist, wollen wir folgende Neuigkeiten aus dem Gebiete der ,,alten" russischen Kunst mitteilen.

*) Dieser Verein wurde 1871 vom Künstler Nikolai Kramskoj mit einer zahlreichen Gruppe seiner Anhänger, als Zeichen des Protestes gegen den Klassizismus der Kaiserlichen Akademie gegründet, womit eine neue Ära für die russische Kunst eingeleitet wurde. Der Verf.

Schon seit 1910 waren die umfangreichen Jahresausstellungen des Wanderausstellungvereins (,,Obschtschestwo Peredwischnych Wystawok") nur mehr Manifestationen eines ohnmächtigen Eklektizismus. Die XLVII. Ausstellung des Vereins (1918), ist als letzte selbständig organisierte zu betrachten, da die nächsten Ausstellungen (die II., III. und VII. staatliche Ausstellungen in Moskau — Wintersaison 1919 — , schließlich ein Teil der ,,Ersten Freien staatlichen Ausstellung" in Petersburg April/Juni 1919) schon vom Staate organisiert wurden. In der ,,Rechten Föderation" des allrussischen gewerkschaftlichen Verbandes der bildenden Künstler hat sich dieser Ausstellungsverein aufgelöst.

Wenn wir zu den individuellen Kräften dieser Schule übergehen, so sehen wir nach wie vor den großen Ilja E. Rjepin *) als unermüdlichen Mitarbeiter der Ausstellungen (sein letztes großes Werk, eine neue Variante seiner ,,Wolga-Treidler" wurde 1919 im Winterpalais in Petersburg ausgestellt), ferner die Gebr. Makowskij , deren süßliche Provinz- und Dorf-Genreszenen beweisen, dass ihr und ihrer Freunde Schaffen noch immer an den armseligen Ideen einer abgelebten Kunst festhält. In der religiösen und landschaftlichen Malerei des bekannten W. Polenows, in den großen historischen Kompositionen Lebedjews (mit dessen Tode — 1918 — die Reihe großer Geschichtsmaler, wie Ssurikow, Pjerow u. a. schließt), in der Genremalerei Bogdanow-Belskijs etc. etc. wird in dem Lustrum 1914/19 nichts Bedeutendes geschaffen. Was die Reaktion dieser Künstler auf die welterschütternden Ereignisse betrifft, so ist diese — wenn sie vorhanden ist — rein äußerlich und die Impotenz der retrograden Künstler, in ihrem Schaffen den Zeitgeist zum künstlerischen Ausdruck zu bringen, wurde in den letzten Ausstellungen anschaulich genug bewiesen. Im Chaos des Krieges und der Revolution konnte die billige Moral, die rosarote Sentimentalität, der schreiselige Hurrapatriotismus, so in dieser Kunst zum Ausdruck kommt, nicht auf weitere Existenz Anspruch erheben. Und wenn die zählebigen Reste dieser Pseudokunst noch immer von der Majorität als Kunst betrachtet und gewürdigt werden, so liegt der Grund eben in dem blinden ästhetischen und allgemein-kulturellen Konservativismus, der sich auch in Deutschland breit macht, und mit dem heute der russische Künstler seinen erfolgreichen Kampf unternommen hat.

*) Wenn wir die noch nicht bestätigten Nachrichten über seinen Tod in Kuokala (Finnland), wo er ständig in seiner Villa „Penaten" wohnte, beiseite lassen. Der Verf.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Neue Kunst in Russland 1914-1919
005 Der Prinz Bova, Russisches Volksblatt

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021 Le roi, Alexander Benois

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022 Das Karusell, S. Ssudejkin

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023 Entwurf zu den Dekorationen für Borodins Oper Pskowitjanka, A. J. Golowin

023 Entwurf zu den Dekorationen für Borodins Oper Pskowitjanka, A. J. Golowin

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