Zweite Fortsetzung

Denselben Prozess allmählicher Abstraktion sehen wir auch auf dem Gebiete der Skulptur.

Der Träger primitivistischer Tendenzen ist hier der bekannte S. Konenkow, ein Renegat aus dem impressionistischen Lager, der seinerzeit den Beinamen des "russischen Rodin" geführt hat. In der volkstümlichen Märchen- und Mythenwelt hat der Meister jene künstlerischen Motive gefunden, die ihn von A. Rodins Einfluss befreit und ihn nicht ohne gefährliche Versuchung, die durch die moderne Stilisierung an ihn herangetreten war, zur volkstümlichen Gestaltung volkstümlicher Psyche angeregt haben. ("Der Greis" der Galerie Tretjakowskij vgl. Abb. 35 u. 36, "Die Märchenerzählerin Maria Kriwopolenowa" u. a. neue Werke.) Konenkows Primitivismus ist nicht blinde Kopierung nach volkstümlichen Mustern. Dem Bildhauer scheinen diese nur ein ideales Vorbild zu sein, welches neue schöpferische Möglichkeiten nicht ausschließt. Und so entstehen reichere Formen, in welchen archaisch-elementare Weisheit zur Synthese mit kompliziertem geistigen Drang der Gegenwart gebracht wird. Die höchste Konsequenz Konjenkows Schaffen offenbart sich in seinem letzten Werke — dem Denkmale "Stepan Rasin und seine Genossen"*) Hier hat sich seine Plastik noch nicht zur notwendigen Monumentalität entwickelt, dem Meister fällt der Übergang von der Atelierkunst zur Straßenkunst schwer, aber die Wirkung des Monumentes war gewaltig: Auf dem alten Schafott der russischen Zaren, wo Rasin hingerichtet wurde, am "Schönen Platz" — der Ader der russischen geschichtlichen Ereignisse — erschien am 1. Mai 1919 sein großes hölzernes Gebilde, im Kreise seiner sechs Genossen stehend; zu seinen Füßen die "persische Fürstin", die im Volksepos so oft besungen wird. Die Figuren primitiv flächenhaft modelliert; die Köpfe der guillotinierten Räuber auf bunt bemalten Postamenten; die hölzerne Skulptur mäßig mit nüchternem Farbensinn koloriert; technische Feinheiten sind nicht beabsichtigt, denn sie könnten den Eindruck der halbwilden Natur dieser volkstümlichen Urkraft abschwächen. Konenkow scheint eine monumentale Kunst anzustreben, es ist aber noch fraglich, ob ein Nacherleben altertümlicher plastischer Formen die moderne Skulptur zur Lösung ihrer mannigfaltigen Probleme führen kann. In einem anderen monumentalen Werk Konenkows — in dem "Memorialbrett" zum Gedenken der Revolutionsopfer (4:6 m) wird der Zeitgeist mit naivem revolutionärem Pathos aufgefasst, Konenkows Kunst kann nicht monumental sein, da sie das Spezifische der Plastik oft einer impressionistischen Auflösung opfert.


*) Stepan Timofejewitsch Rasin, der „Ataman" (Hauptmann) der Wolgaräuber, war der Führer einer großen anarchistischen Bewegung, die unter der Herrschaft des Zaren Alexej Michailowitsch in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts entstand und das große Wolgagebiet beherrschte. Die Gestalt Stepan Rasins ist in der volkstümlichen Poesie sehr beliebt, wo er als Volksführer, der unter dem Zarenjoch leidet und selbst aus dem Volke entstiegen ist, idealisiert wird. Sein Name wurde mit Recht in die Zahl berühmter Revolutionäre, denen neue Monumente errichtet werden sollten, aufgenommen. Die moderne russische Poesie hat im Volksepos entsprechende Balladen („Bylini") und Lieder aufgesucht, um sie zu großen revolutionären Epopöen umzuwandeln, So hat es der bekannte expressionistische Dichter Wassilij Kamenskij getan, der in seinem „Stenka Rasin" ("Kollektives Schauspiel", wurde 1918 im Moskauer Dram. Theater aufgeführt) den Räuberführer mit der Gloriole eines sozialen Kämpfers gekrönt hat. Wie ich erfahren habe, steht die Übersetzung dieses Werkes ins Deutsche bevor. Der Verf.

Jene Richtungen der jungen russischen Plastik, die im engeren Zusammenhang mit verwandten ästhetischen Umwälzungen auf dem Gebiete der expressionistischen Malerei sich entwickeln, finden kürzere Wege zum skulpturalen Stil der Gegenwart und sind bestrebt, auch hier den Künstler aus alten konventionellen Fesseln zu befreien. Die Zahl der jungen Plastiker in Russland im Vergleich mit der der Maler ist sehr gering, eine Erscheinung, die man in der gesamten europäischen Kunst antrifft. Vielleicht hat diese Zurücksetzung den Vorteil, dass die Plastik in solcher Weise von demoralisierender Wirkung der modernen Überproduktion und von prinzipienlosen Experimentatoren verschont bleibt. Kubistische Tendenzen, die ihrem Wesen nach auf dem Gebiete der Plastik besonders fühlbar werden mussten,nimmt Archipenko(vgl. Abb. 37— 39)auf. Noch geschlossener, gedrängter ist die plastische Sprache Koroljows, der auf das Gegenständliche verzichtet, die absoluten Elemente der Skulptur sucht und im kristallinischen Gefüge der einzelnen plastischen Teile, in der Resultante der divergierenden Bewegungen eine überzeugende Monumentalität anstrebt. Sein Michael Bakunin-Denkmal) ist ein glänzendes Beispiel dafür, um so mehr, da der Künstler sich hier bemüht hat, sich von jeden materiellen Fesseln zu befreien und den stürmischen rastlosen Geist des Ideologen des Weltanarchismus zum prägnantesten Ausdruck zu bringen.

*) Moskau. Mjasnizkij-Tor. Das Monument wurde im September 1919 enthüllt. Als äußerster Ausdruck neuer Stiltendenzen der expressionistischen Plastik wurde es einer scharfen Kritik aller Feinde der Neuen Kunst unterworfen. Es wird wohl das erste expressionistische Monument der Welt sein I Leider fehlt uns heute die photographische Abbildung des Werkes. Als unzulänglichen Ersatz bringen wir eine Erinnerungsskizze. Der Verf.

Dieses Monument (sowie entsprechende Werke der Petersburger Plastiker, die beachtenswerte Versuche der Anwendung der gegenstandslosen Kunst zur Monumentalskulptur gemacht haben, und die Experimente der jungen Bildhauer der „Freien staatlichen Kunstwerkstätten") offenbart eine überraschende konsequente Monumentalität in seinem starken dynamischen Ausdruck. Das Streben nach monumentalen Wirkungen, das der jungen Kunst so eigen ist, eine Ehrfurcht vor dem Material, die Bekämpfung des Dilettantismus in technischer Hinsicht — alles das tritt in diesen ersten Versuchen zutage. Die Tatlinsche "Skulpto-Malerei" dagegen enthält zu viel unplastische, ja sogar antiplastische Elemente, um monumental -plastischen Lösungen gewachsen zu sein. Übrigens meint W. Tatlin, dass jene Versuche expressionistischer Gestaltung geistiger Größen nichts als ohnmächtiges Flüchten aus unserer Zeit unaufhaltsamer Mechanisierung und Rationalisierung seien. Auch in seinen Projekten neuerer Monumente schöpft er seine Formen unmittelbar aus der Maschinenwelt, baut sein Werk "maschinenmäßig" auf, fürchtet sich nicht, sein "Maschinenherz" zu offenbaren, sich vertrauensvoll dem "Unding-Großstadt" zu nähern. Leider hat Tatlin seine Projekte nicht realisiert — so weit ist der künstlerische Radikalismus der Räte-Mezänen noch nicht gediehen — aber in lebhaften Schilderungen jener künstlerischer Möglichkeiten, die ein "Monument der Maschine" bieten könnte (vgl. Tatlins Aufsatz in der Zeitschrift "Die Kunst", Moskau 1919, Nr. 2) macht er uns mit seinen Absichten vertraut. Das Monument soll nicht zur Verschönerung der Stadt oder zur Förderung politischer Ideen bestimmt sein, sondern, technisch und rationell bedingt, utilitaristischen Zwecken dienen. Das Monument soll zu einer lebendigen Maschine umgewandelt werden. Es soll sogar Innenräume mit einer Radiostation, Kinos, Telegraph, ein Kunstausstellungslokal etc. enthalten! Jede technisch unsinnige „Schönheit" und Dekoration soll durch einen reichen "Maschinenschmuck" ersetzt werden. Das rhythmische Wesen dieser lebendigen Maschine sei auch die konsequenteste monumentale Gestaltung des Zeitgeistes. Die Grenzen zwischen der Kunst und der Maschinentechnik, ja sogar innerhalb der Kunst, die Grenzen zwischen der Malerei (der der Tatlinismus entsprungen ist), der Plastik (die er durch Skulpto-Malerei ersetzt; vgl. letzte Werke von Alexander Archipenko) und der Architektur (deren künstlerische Möglichkeiten mit "Maschinenschmuck" und Eisenbeton aufzuhören scheinen) sind in diesen Projekten undeutlich, widersprechen den ursprünglichsten künstlerischen Voraussetzungen und können die Frage rechtfertigen, ob dieser Tatlinismus nicht ein zeitlich bedingter Auswuchs eines künstlerischen Ultra-Materialismus seiJ) Es ist jedenfalls eine äußerste Reaktion gegen jene Kunstrichtungen, die noch heute fest und treu auf dem Boden der organischen Natur stehen, gegen jenen Idealismus, der sehnsüchtig wartet, wann "das Handwerk, das ehrliche gehaltvolle Werk der Hand, sie von dem befreien wird, was Hand in Hand mit jeder Industrialisierung geht, von der Herrschaft, von dem übermächtigen Einfluss der Maschine auf unser Denken und Empfinden".**)

Um das Missverständnis zu vermeiden, als ob nur diese extremen Erscheinungen der neuen Kunst von der russischen Rätemacht gefördert werden, als ob die neuen Denkmäler der russischen Hauptstädte ausgesprochen "expressionistisch" sind, müssen wir auf die Ergebnisse der oft erwähnten großen Wettbewerbe für neue Monumente hinweisen.

Bekanntlich wurde im Mai 1918 von der russischen Regierung eine Konkurrenz für Entwürfe zu ca. 60 (!) neuen Denkmälern ausgeschrieben, die den großen Revolutionären der Welt — seien es nun soziale Kämpfer oder Weltgenien der Wissenschaft und Kunst — errichtet werden sollten. Es war eine Revue über die Kräfte der modernen russischen Plastik und eine günstige Gelegenheit für einen intensiven Wettstreit der Künstler. Die Wettbewerbe wurden in einem so großen Maßstab organisiert, ) dass es fast unmöglich war, sich des Überangebots des Dilettantismus zu erwehren. Die meisten Entwürfe waren machtlose Wiederholungen der bequemen Traditionen der alten Monumental -Skulptur (z. B. das Moskauer Skovoroda-Denkmal, das Marx-Engels-Denkmal, der Moskauer ,,Räteverfassungs-Obelisk" von Andrejew u. a.). Die Künstler suchten ein getreues Gebilde der historischen Persönlichkeit zu geben, blieben in alten Konventionen der Porträts-Skulptur gebannt und rangen vergeblich nach reiner Gestaltung geistiger Potenzen. Es sind selbstverständlich nicht mehr jene plumpen Zaren- und Generäle-Monumente, die noch vor kurzem Russlands Städte bevölkerten.

*) Ich erinnere mich, wie diese aktuelle Frage in einer lebhaften Diskussion im Moskauer „Roten Hahn" (früher Café Pittoresque" am 31. März 1919) von Alexej Toporkow in einem Vortrag „Der Künstler und die Maschine'' besprochen wurde. Die meisten der anwesenden Künstler behaupteten, sie seien ihres Zusammenhanges mit den materialistischen Tendenzen im Leben und der Politik, mit industrieller Entwicklung bewusst.
**) Vgl. Karl Schefflers „Die Zukunft der deutschen Kunst". Bruno Cassierer Verlag Berlin 1919.
***) Vgl. Verzeichnis Nr. VII.

(Jetzt sind die künstlerisch-minderwertigen Objekte dieser zaristischen Plastik zum größten Teile demoliert worden, so z, B. das Moskauer Alexander III. -Monument, Generals Skobelew-Monument und mehrere andere in Petersburg und der Provinz). Und doch ist sich heute der durchschnittliche russische Bildhauer des wesentlichen Unterschiedes zwischen dem Monumentalen und dem Kolossalen noch nicht bewusst. Wenn nicht die jüngeren Künstler schon einer konsequenteren Monumentalisierung der Kunst gewachsen wären, stände die moderne russische Monumentalskulptur vor der Gefahr eines Völkerschlacht-Denkmals oder einer revolutionären Siegesallee, um so mehr, da im heutigen Russland die Kunst staatlich gefördert und vom Tendenziösen und Offiziösen nicht gesichert ist. Jene Entwürfe offenbaren ein billiges revolutionäres Agitations-Pathos oder überhaupt nur einen schülerhaften Dilettantismus. Derart ist der größte Teil der Versuche einer revolutionären Monumentalkunst im heutigen Russland beschaffen. Vorläufig sind diese Entwürfe, in Gips, Beton, Alabaster ausgeführt, auf Straßen und Plätzen ausgestellt und dem Urteile der Öffentlichkeit ausgesetzt. Diejenigen von diesen Entwürfen, die am besten den Willen der Gemeinschaft künstlerisch zu gestalten wussten, sollen in Bronze gegossen werden. Unter anderen Monumenten, die neuen künstlerischen Forderungen noch nicht gewachsen sind, aber doch künstlerisch eine Bedeutung besitzen, und technisch vollkommen sind, sind solche Werke zu erwähnen, wie das Dostojewskij -Denkmal, oder das "Monument der menschlichen Gedanken" (beide in Moskau, am Zwetnoj-Boulevard; Bildhauer D. Merkulow), die eine imponierende Monumentalität offenbaren, ohne aber auf die Wirkungen konventioneller Denkmalplastik zu verzichten. Der Künstler geht hier von ägyptischen Vorbildern aus, in denen ihn besonders die geschlossene Masse interessiert. Die Beherrschung des Materials ist bei ihm vollkommen. Es sind die einzigen neuen Monumente, die in Stein (finnländischer "schwarzer" Granit) ausgeführt sind. Das Dostojewskij -Monument ist über 10 m hoch.

Wie gesagt sind dagegen die meisten Entwürfe dilettantisch. Die jüngeren Plastiker haben den Beweis erbracht, dass sie nicht fähig waren, einen eigenen Monumentalstil zu schaffen (wobei wir eine Leistung wie das Bakunin-Monument als eine vereinzelte Ausnahme betrachten müssen).

Bemerkenswert sind auch jene Monumental-Reliefs, die in großer Anzahl von jungen russischen Bildhauern angefertigt und zur „Monumentalen Propaganda" in die Wände staatlicher Gebäude eingefügt wurden. Mehreren Künstlern ist es dabei gelungen, das Spezifische der dekorativen Skulptur in ihrer Unterordnung unter die Architektur zu reifen Losungen zu bringen. In gedrängten plastischen Worten sucht der Künstler die gegebene Idee reliefmäßig zu gestalten und das notwendige Agitationsmoment so hervorzuheben, dass das Relief zu einem monumentalen Plakat wird, sich nicht im Straßenbetrieb auflöst und nicht unbeachtet bleibt. Bedeutende Aussprüche großer russischer und europäischer Menschen werden fixiert und treten in solcher Weise den Massen näher.

So liest z. B. jedermann, der an den Säulen des Moskauer Hoftheaters vorübergeht, die schönen Worte Tschernischewskijs auf einer monumental wirkenden Plakette:

"Erstrebt die Zukunft, wartet auf sie, glaubt ihr,
übertraft aus ihr in die Gegenwart — wie viel man
übertragen kann".





Dieses Kapitel ist Teil des Buches Neue Kunst in Russland 1914-1919