Vierte Fortsetzung

Auch auf der Bühne hat sich der junge russische Künstler seine Rechte erworben und schreitet rasch zur Harmonisierung der künstlerischen Mittel des Theaters fort. Eben dieses Streben zur ästhetischen Einheit verschiedener Faktoren der theatralischen Arbeit bestimmt den Wert der letzten Errungenschaften der neuen russischen Theaterdekoration. Wohl hat schon vor dem Kriege der russische Expressionismus die Anwendung seiner Kunstideale auf der Bühne angestrebt. Da aber die moderne bildende Kunst in Russland an der Spitze der gesamten künstlerischen und kulturellen Entwicklung stand und der Mangel an neuer Dramaturgie sehr fühlbar war, entstand ein dissonierender Zwiespalt: die neuen künstlerischen

Forderungen des Dekorateurs blieben im Rahmen des alten Repertoirs unerfüllbar, der Schauspieler und der Dichter standen dem Maler fremd gegenüber. Das russische Theater ist heute einem stilistischen Gleichgewicht bedeutend näher. Die Stilentwicklung der russischen Theaterdekoration ist in großen Zügen die folgende:


Die impressionistischen Dekorationen Konstantin Korowins schlagen die Brücke. Die Theatertechnik und der Maßstab der Theaterdekoration bietet dem Impressionisten eine günstige Gelegenheit für eine fast monumentale Farben- und Lichtwirkung. Der Dekorateur kümmert sich immer weniger um das Mileu und um die historisch-ethnographische Wahrheit. Geistreiche Experimente theatralischer Impression führen zu einer Trennung des Malers vom Schauspieler, die an eine Vergewaltigung der Forderungen des gegebenen stofflichen Inhaltes grenzt. Da dieser Stilstufe des russischen Theaters eine hohe Entwicklung des Balletts und der Oper, die dem Dekorateur viel mehr Unabhängigkeit bieten, entsprechen, so löste sich diese Dissonanz in der malerischen Phantastik und koloristischen Spielen der Impressionisten auf. Es entsteht eine Reaktion gegen diese Vernachlässigung der stilistischen Forderungen. Schon bei den Impressionisten S. Golowin und N. Roerich wird die Wiederkehr der Dekoration als solcher, ihrer Stilwahrheit — wenn auch in einer neuen Auffassung — fühlbar. Hier konnten selbstverständlich die Tendenzen der russischen Stilisten — wie Dobuschinsklj, Bakst, Ssomow, Benois, Lancere u. a. — denen das spezifisch Dekorative und die streng historische Stilreinheit so eigen ist, leicht die Oberhand gewinnen. Dobuschinskijs Dekorationen im "Moskauer künstlerischen Theater" sind eine wichtige Etappe in der Entwicklung der russischen Theaterdekoration. Solche Meisterwerke, wie Benois Aufführung des "Kaufmanns von Venedig", Leon Baksts Ballettentwürfe oder Golowins "Judith" sind auch außerhalb Russlands bekannt. Hinter Raffinement und konventioneller Stilisierung vergisst nicht der Künstler die gegebenen Raumprobleme in Übereinstimmung mit dem dramatischen Vorgang, Hand in Hand mit dem Regisseur, Autor und Schauspieler zu lösen. Diese Künstlergruppe sucht die Kunstideale der Rokokozeit wieder zu beleben und da auch das Repertoir und die gesamte Theaterarbeit ebenso retrospektiv und eklektisch gerichtet sind, wird eine harmonische Stileinheit erzielt, die vor uns als ein abgeschlossenes Resumme verklungener Epochen an der Grenze der Neuen Zeit steht und mit einer erstaunlichen Rücksichtslosigkeit den „großen Irrtum" — das Leben von heute — ignoriert. Hier finden die Lebens- und Kunstideale des Rokoko ihre prägnanteste Gestaltung. Dieser Richtung stehen sogar noch jüngere KünstlerDekorateure, wie N. Ssapunow und S. Ssudejkin nahe, jene Träumer, die den Zuschauer in die Welt märchenhafter Buffonaden und raffinierter Erotik einführen wollen. Das strenge Stilisieren hat sich wieder aufgelöst, die Dekoration ist malerischer und breitzügiger, die Farben lockerer und freundlicher. Der impressionistischen Dekoration gegenüber erzeugen diese Dekorateure ein viel feineres Raumgefühl, eine sicherere Gestaltung der Formen, die sich nicht in Impressionen auflösen. Hier wird die theatralische Outrierung zum Selbstzweck, der Künstler will den Schauspieler und den Zuschauer von der Natur und von der Wirklichkeit isolieren, er will nicht verheimlichen, dass er das Theater nur als einen Ausdruck des menschlichen Spieltriebes betrachtet. Rokoko-Pastoralen, Moliere-Komödien, russische volkstümliche Burlesken, die tatsächlich an das Spielerische grenzen, sind hier besonders beliebt. (Vgl. N. Ssapunows Entwurf zu einem Theatervorhang für Molieres ,,Der Bürger als Edelmann", Abb. 16 und S. Ssudejkins "Die Karuselle", Abb. 15).

Die strenge Objektivität der Stilisten räumt den Platz einem unruhigen Suchen. Farben und Formen jener Buffonaden verraten schon die ersten Symptome der kommenden Deformation. Die tote Statik der historisch-stilistischen Dekoration wird in den Experimenten A. Lentulows und A. Exters bis aufs Letzte verdrängt. Jene Versuchung, die an den Dekorateur durch das affektierte Theaterleben herantritt und ihn zu Übertreibung, zu Gesten und zu billigen Effekten veranlasst, ist noch nicht überwunden. Aber hier realisiert der Expressionist doch zum erstenmal seine Versuche einer neuen Raumgestaltung auf der Bühne, Wenn auch den Künstler die Bühnenbewegungen und das Tempo des Werkes interessieren, so erreicht er noch immer nicht jene Stileinheit, die nur von einer entsprechenden Revolutionierung des Repertoirs ausgehen kann. So hielten z. B. die "Moskauer Kammerspiele" ("Kamernyj Theater"), die zuerst den Mut hatten, dem neuen Maler entgegenzukommen, noch immer an Beaumarchais Komödien oder Shakespeares Tragödien fest und befreiten nicht den jungen Schauspieler und Künstler von den Konventionen der alten Bühne. Immerhin schließt es nicht solche Errungenschaften aus, wie Lentulows „Sakuntala" (Kalidasa), Exters „Salome" und "Figaros Hochzeit" oder die eigenartigen Aufführungen der stimmungsvollen Harlekinaden und Pantomimen („Der Schleier der Pierette", "Der blaue Teppich", „Der König Harlekin" u. a. m.). Die letzten Experimente Lentulows („Der Dämon" von M. Lermontow im Opernhaus des Moskauer A.u.S.R. und „Hoffmanns Erzählungen" von Offenbach im Studientheater des „Kunst- und Aufklärungsvereins der Moskauer Arbeiter-Genossenschaften", Sommersaison 1919 u. a. m.) verraten das besondere Interesse des Dekorateurs zur Ausnützung der modernen Theatertechnik: unerwartete Dekorations-, Beleuchtungs- und Perspektive-Variationen, technische Ausbildung der Dekoration im Sinne ihrer Mobil- und Kombinationsfähigkeit. Jener Zwiespalt zwischen dem Bühnenwerk und seiner formalen Umgebung wird aber noch immer nicht gelöst. Soweit sich nun die jüngsten Versuche beurteilen lassen, offenbaren sie folgende neue Tendenzen.

Dem neuen Theater, dem Theater der Massenbewegungen entgegenkommend, sucht G. Jakulow die Dynamik des Kollektiven in neuen Formen zu gestalten und kommt zum konsequenten Entschluss, dass alle Traditionen der alten Arbeit zu verlassen sind und dass ein neuer Theaterorganismus zu schaffen ist. Nur die Arena scheint ihm zur freien schöpferischen Entwicklung jenes neoklassischen Theaters geeignet zu sein.*) Noch ist die Bühne des Reizes des Experimentalen nicht beraubt, der in der Anwendung kubistischer Tendenzen fortlebt, aber das entscheidende Moment ist das Ringen nach Vereinfachung und Elementarisierung der dekorativen Bühnenarchitektonik, wobei z. B. einfachste spirale- oder stufenartige Konstruktionen angewandt werden. Diese Versuche greifen auf die Theatertheorien Fedor Komissarschewskijs zurück, wie sie als Reaktion gegen die stilistischen Spiele des Stanislawskij-Theaters (Moskauer Künstlertheater) zu nüchternster und minimaler Leinwanddekoration geführt haben, deren Ziele mit der allgemeinen Angebung der Raumverhältnisse beschränkt werden und auf Schmuck und Effekte verzichten müssen. (Vgl. z. B. Die Aufführung Shakespeares "Der Sturm" im erwähnten „Studientheater" .)

*) Man vergleiche diese Bestrebungen mit Reinhardts Regiearbeiten.

Die Kurven dieser Entwicklung der russischen Theaterdekoration führen heute wieder zu einer Objektivität des Künstlers, und dem entsprechend, zur Wiederkehr der inneren Einheit der theatralischen Arbeit. Jurij Annenkow, der diesen neuen Forderungen erfolgreich entgegenzukommen wußte, meint, dass der Dekorateur von dem gegebenen Inhalt und Sujet ausgehen müsse, dass die neuen künstlerischen Mittel und ihre Elastizität zu jeder vom Verfasser geforderten psychologischen Nuance die entsprechenden plastischen Formen ins Leben rufen werden. Anderseits müsse der Maler auf jenem theatralischen Gebiete, das auf dem formalen Momente beruht — seien es nun die Bewegungen des Schauspielers oder das Requisit, die Kostümierung, die Schminke, die Frisur, schließlich die technische Einrichtung, die Beleuchtung, der Dekorationswechsel etc. — diktatorisch herrschen, denn in seiner Analyse des psychologischen Wesens des Werkes erreiche er dasselbe Verständnis für den szenischen Rhythmus, wie der Regisseur. In seinen wunderbaren Dekorationen zu Frank Wedekind's "Die Büchse der Pandora" (Moskau, Komissarschewsky-Theater, Wintersaison 1918/19) hat Annenkow diese Diktatur des Dekorateurs rücksichtslos durchgeführt, wobei er vor keiner Vergewaltigung der Wirklichkeit Halt machte und seine Arbeit in einem organischen Zusammenhang mit der des Verfassers, des Spielleiters und des Schauspielers zu jenem vollkommenen stilistischen Gleichgewicht führte. Diese Experimente wurden wiederholt ("Eine dumme Geschichte", "Die roten Tropfen" u. a.) und jedesmal wurde die dekorative Umgebung aus inneren Motiven des Werkes heraus geschaffen. Annenkow scheint mit diesen Werken der Theaterdekoration neue Wege zu weisen. Nicht nur seine raffinierte psychologische Anpassung an das Bühnenwerk, sondern auch die vollkommene Beherrschung der reichen technischen Möglichkeiten eines modern eingerichteten Theaters, beweisen die Lebensfähigkeit und Aktualität der Versuche Annenkows.

Auch die gegenstandslosen Tendenzen der neuen Kunst erlebten ihre Verwertung auf der Bühne. So konnte z. B. der Zuschauer in Wagners "Lohengrin" (Moskau, Opernhaus des A. u. S. R. 1918/19) abstrahierte "suprematistische" Kompositionen, deren unaufhörlicher Wechsel, deren fluktuierende Beleuchtung die Stimmung angeben sollte, an Stelle gewöhnlicher gegenständlicher Dekorationen sehen. Auch hier versuchte der Maler (F. Fedotow) zum Inhalt und zur Handlung adäquate Formen zu finden.

Das weitere Schicksal der Entwicklung der russischen Theaterdekoration hängt selbstverständlich mit dem gesamten Theaterleben eng zusammen, welches allerdings heute in einem sehr intensiven Tempo fortschreitet und jeder bedeutenden neuen Richtung auf dem Gebiete der bildenden Kunst die Bühne zur Verfügung stellt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Neue Kunst in Russland 1914-1919