Erste Fortsetzung

Der Bericht über das Neue in der Kunst Rußlands wäre nicht vollständig, wenn wir nicht auf anderen künstlerischen Gebieten — wie auf denen der Graphik, der Skulptur, des Kunstgewerbes, der dekorativ-theatralen Kunst und der Architektur etc. — die Evolution des Kunstgeistes verfolgen würden. Umsomehr da der Zeitstil als solcher, dessen heutige Formen immer deutlicher werden, ohne die "kleinen Künsten" nicht zu begreifen ist. Wie in jeder Periode einer vagen Stilbildung nähert sich allmählich auch heute die Kunst dem Handwerk und das künstlerische Handwerk dem Leben. Die Grenzen „reiner" Kunst schwinden.

In der expressionistischen Graphik, in der Vervollkommnung des modernen Holzschnittes und der Radierung sehen wir die besten Kräfte der jungen Kunst Russlands an der Arbeit: Sie scheinen gerade in der Technik der Xylographie besonders günstige Mittel zum Gestalten künstlerischer Erlebnisse gefunden zu haben.


Die Graphiker Wadim Falilejew, Pawlow, OstroumowaLebedewa, Kruglikowa u. a. haben noch nicht die Gefahren impressionistischer Labilität und Oberflächlichkeit, die in der Graphik an sich verborgen sind, überwunden, erweitern aber die technischen Möglichkeiten ihrer Kunst. Boris Grigoriew, Ssergej Tschechonin und ihre Nachfolger versuchen schon etwas Wesentliches, fast monumental Ausdruckvolles aus der SchwarzWeiß-Kunst zu machen. Aber erst Marc Chagall, Natalie Gontscharowa, Jurij Annenkow erschöpfen die künstlerischen und technischen Möglichkeiten der Graphik. Anknüpfend an die Errungenschaften dieser Meister entsteht eine Schule expressionistischer Zeichner (heute entwickelt sie sich in den graphischen Abteilungen der "Freien staatlichen Kunstwerkstätte"). Grigorjew, Petrow-Wodkin und ihre Schüler haben schon das raffinierte graphische Saltomortale des "Beardsleyismus'' und späterer Impressionisten satt bekommen und flüchten in die slawische und byzantinische Archaik. Diese Bewegung kommt in der Graphik umso schärfer zum Vorschein, als die Primitive der "Ikony" und "Lubki" den Künstler besonders veranlasst, eben in der Zeichnung das lineare Wesen ältester Malerei nachzuerleben. Nicht nur formale Tendenzen, sondern eine sonderbare geistige Übereinstimmung im Streben nach spiritueller Dematerialisierung in konventionellen, fast symbolischen Formen, in irrationellen künstlerischen Dissonanzen, führen diese Graphiker zu altrussischen Kirchenfresken, in die Märchenwelt der scythischen Plastiken mit ihrer gesunden Rohheit eines halbwilden Volkes und lassen sie die in dem heutigen volkstümlichen Kunstgewerbe noch erhaltenen Traditionen jener Kunst aufzusuchen. Auf russischem Boden fasst der Primitivimus besonders kräftige Wurzeln, da hier die Volkskunst, die mit echt slawisch-zähem Konservatismus ältere Kunstformen sorgfältig aufbewahrt, noch lebt. Erst am Ende des XVII. Jahrhunderts wurden jene Formen durch das unaufhaltsame Eindringen abendländischer ("basurmanischer") Kultur als offizielle Kunst verdrängt, um aber in "altgläubigen" Zweigen der orthodoxen Kirche, (unter den Bauern im Norden Russlands und in Sibirien) in den "Lubki", in den illustrierten Volksschriften, in der altertümlichen Tracht, in der Architektur, im Hausrat etc. zu Tage zu treten. Die erwähnte GraphikerSchule findet immer neue Kunstwerke in der unerschöpflichen Schatzkammer des slawischen Volksgeistes, aber je umfangreicher die Zahl der Epigonen, desto mehr wird das Nacherleben primärer Kunstformen zur zeitlichen Kunstlaune und Mode eines satten Publikums, das in dieser Kunst neue ästhetische Genüsse sucht. — In einer anderen Richtung entwickelt sich das graphische Werk Chagalls (heute setzt er sein Suchen eben auf dem Gebiete der Graphik fort), Annenkows*), Filonows u. a. Sie versuchen der Bücherillustration wieder ihre eigenen Ziele und Mittel zu verleihen, eine expressionistisch-konzentrierte, gedrängte Sprache, ein optisches Resümee des entsprechenden literarischen Handelns, seiner entscheidensten Momente. Sie finden in der Graphik das geeignetste Mittel zum Festhalten ihrer subjektivsten Erlebnisse und Visionen. Eine Neue Graphik erblicken wir aber erst in jenen Richtungen, die das Moment der Unterhaltung und der Anekdote, das Stoffliche und das Gegenständliche, das technische Experiment bis aufs letzte ausgetilgt haben um dem Geist freien Ausgang in das Abstrakte zu öffnen. Die Dematerialisierung erreicht in Kandinskijs Kunst ihren Höhepunkt. Kandinskijs Kunst ist aber eine spezifisch malerische Kunst und eine Kandinskij -Graphik kann man sich schwer denken. Und doch entsteht eine abstrakte Graphik und zwar aus jenem "Suprematismus", der in seinem Verzicht auf die Farbe und seinem Interesse für das Planimetrische in seinem Wesen selbst graphisch und linear ist. Diese Graphik ist noch in den Anfängen. Es ist sicher kein Zufall, dass eben in Russland diese Richtung so viel Boden gewonnen hat. Denn in den nationalen Zügen der Russen kann man dieselben Symptome eines Strebens nach endgültiger Befreiung von der Materie, nach schöpferischer Freiheit des Geistes bemerken, die in der Kunst zu jenen anarchistischen Übertreibungen führen.

*) Bedeutende graphische Werke letzter Jahre: Illustrationen zu Maxim Gorkijs Werken, Jewreinows „Das Theater für sich selbst", Alexander Blocks „Die Zwölf", auch zahlreiche Porträts, Landschaften etc.

D. Burljuk: Zeichnung

Der abstrakte Expressionismus ist geschichtlich und psychologisch berechtigt, er existiert, aber nur Aktion und Schaffen können zum "Stil unserer Zeit" führen, nicht passive ohnmächtige Verzweiflung des Künstlers. Die kommenden schaffenden Kräfte werden vielleicht im Zeichen einer gewissen Versöhnung mit den geltenden Traditionen der Kunst und den Relationen zwischen Künstler und Betrachter stehen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Neue Kunst in Russland 1914-1919