Dritte Fortsetzung

Anknüpfend an die Versuche der dekorativen Skulptur ist es wohl hier am Platz, an die Dekorationen von Innenräumen zu erinnern, die von Grigorij Jakulow im Moskauer Café Pittoresque (1916; heute: "Der rote Hahn", Tonhalle der Theater-Abteilung des Aufklärungskommissariats) unter Mitwirkung von W. Tatlin ausgeführt wurden; wobei aber trotz Tatlins Mitarbeit die Unterschiede zwischen Kunst und Maschine, Skulptur und Malerei nicht ganz aufgehoben wurden. Das "Café Pittoresque", das Chef d'oeuvre von Jakulow, bietet ein seltsames Bild: geistreich in die Wände eingefügte "Contre-Reliefs", deren Wirkungen durch stilgemäße Bemalung gesteigert wird, scheinen mit ihren eckigen einander überschneidenden Flächen den Raum zu erweitern, ohne die architektonische Einheit zu verletzen; ohne übertriebene Asthetisierung sind auch das Podium, (die Stätte unzähliger Wortkämpfe in verschiedenen Fragen des neuen Kunstlebens) die Tische und Bänke zu Kunstwerken erhoben; von der gewaltigen gläsernen Kuppeldecke, deren Scheiben dem Stil entsprechend, dekorativ (aber nicht ornamental) bemalt sind, hängt reicher plastischer Schmuck herab; ähnliche plastische Konstruktionen umgeben auch die Bühne. Sind es Flugzeuge? oder Dynamomaschinen? Dreadnoughts? Das Unterscheidungsvermögen des Betrachters wird betäubt, er ahnt aber eine rastlose Dynamik in diesen halbmaschinellen, halb dekorativen Gebilden, deren Konstruktion, das Rätselhafte der modernen Maschine betonend, Quelle einer seltsamen Unruhe sind.

Der orientalische Schönheitsinstinkt, die russische Vorliebe zum Farbig-Dekorativen ist auch der Ausgangspunkt der modernen dekorativen Kunst. Diese wird heute von großen Unternehmungen, wie z. B. Dekorationen der Städte an revolutionären Gedenktagen, die mit einem wahrhaft monumentalen Maßstab rechnen, befruchtet. Mit keckem Übermut versuchen heute die jungen russischen Künstler auf Straßen und Plätzen eine neue farbenfrohe Monumentalkunst ins Leben zu rufen, wobei sie vielleicht unbewusst dem historischen Vorbilde der Basiliuskathedrale nacheifern. Bekanntlich wurde die erste Revolutionsfeier (25. Okt. alt. St. 1918) fast ausschließlich von Korporationen expressionistischer Künstler organisiert, die diese erste günstige Gelegenheit für monumentale Unternehmungen, deren Schauplatz oft ganze Städte waren, glänzend ausgenützt haben; und zwar haben die Maler mit ihren Riesenkulissen, die die Wände hoher Häuser dekorierten, mit ihrer entschlossenen und rücksichtslosen "Futurisierung" der Stadt vielmehr erreicht, als die Plastiker, die zahlreiche, aber ziemlich harmlose Entwürfe neuer Porträtmonumente auf Straßen aufgestellt haben.


Nur ein paar Skizzen von diesen malerischen Spielen:

Der Moskauer "Ochotnyj Rjad" ("Jägermarkt"), ein ausgedehnter Platz mit unzähligen kleinen Buden, die in einer schnurgeraden Reihe .sich längs den alten Häusern hinziehen. Einer der ältesten Stadtteile, wo der kaufmännische Geist des alten Moskaus unter dem Schutze der goldenen Kuppeln der orthodoxen Kirchen jahrhundertelang sein traditionelles Leben geführt hat. Ein plötzlicher kirchenräuberischer Anschlag auf diese versteinerte Tradition wurde von den jungen Künstlern gemacht: Die Rückseite jener grauen Buden, ja sogar die benachbarten Häuser wurden spöttisch mit farbigen lustlosen Ornamenten aus dem Reiche der volkstümlichen Kunst bedeckt, mit buntem, lachendem Schmuck, der gleichzeitig auch rein künstlerische Werte enthielt. Dieser Sturm auf die graue Zitadelle hundertjähriger Traditionen war den Künstlern gelungen.

Der Moskauer "Theaterplatz". Ihn beherrscht das strenge Empire des Hoftheaters. Große pseudo-europäische Hotels verleihen dem Platz den Eindruck plumper billiger Üppigkeit. Auch dieses Platzes hat sich das Draufgängertum der jungen Generation bemächtigt. So wurden z. B. die Bäume und Blumenbeete der großen Anlagen, die diesen Platz schmückten, nicht verschont und mussten auch den kapriziösen künstlerischen Absichten dienen, indem sie mit Farbe begossen, mit Stoffen umhüllt, mit allerlei Schmuck dekoriert wurden, um den Märchengarten des legendären Zwergen Tschernomor (Puschkin, "Ruslan und Ludmila") darzustellen. Die künstlerisch armselige Architektur der benachbarten Häuser verschwindet hinter den kolossalen Kulissen, auf denen wirkungsvolle Embleme und Allegorien der Revolution dargestellt wurden, ohne aber künstlerische Ziele über politische Tendenzen und revolutionäre Pathetik zu vergessen.

Ein sonderbares Bild bot der Petersburger Residenzplatz während der Revolutionsfeier. Hier rangen die extremsten Richtungen der Neuen Kunst um die Oberhand (unter der Ägide des "Kollegiums der Bildenden Künste", des Aufklärungskommissariats und des Staates). Der geschmacklosen großen Alexandersäule, die noch kommenden Generationen die Ruhmestaten der Zaren verkünden sollte, wurde ihres stolzen Eigendünkels beraubt. Eine etwas naive, aber doch gut benutzte Anwendung kubistischer Mittel (z. B. die Überschneidung der Säule mit runden und eckigen bemalten Flächen, die sich besonders am Postament anhäuften) verfolgte die Aufgabe, die stolze Statik dieser Säule in Frage zu stellen. Gewaltige Fahnen und Panneaux, von den Schülern der staatlichen Kunstwerkstätten und den besten Petersburger Malern geschaffen, schmückten die Stadt in vollkommener Anpassung an die oft widerstrebende Architektur.

Es ist unmöglich. Erschöpfendes über die Fülle dieser dekorativen Unternehmungen mit ihren geistreichen Varianten mitzuteilen. Es wäre noch zu betonen, dass die Künstler bereits sechs bis sieben derartige Revolutionsfeiern mit ihren Dekorationen unterstützt haben. Diese Feiern sind für die Künstler und ihre Korporationen von großer Wichtigkeit, sowohl in materieller wie auch in künstlerischer Beziehung.

"Die Kunst dem Volke"! „Die Kunst auf die Straße"! "Die revolutionäre Kunst" sind heute beliebte Schlagwörter jener Künstler, die an diesen Straßendekorationen mitarbeiten. Sie brechen mit allen Traditionen reiner Kunst und sind bestrebt, die Mittel und Ergebnisse der neuen Malerei für die Straße zu verwerten:

      "Lass das Wahrheitsgewinsel,
      Was alt ist, aus dem Herzen wetze:
      Die Straßen sind unsre Pinsel.
      Unsre Paletten — die Plätze!"

                        (Majakowskij).

Zu diesen Versuchen einer neuen Monumentalmalerei gehören u. a. die Dekorationen der sogenannten „Propaganda-, Literatur- und Instruktionszüge." Hier entfalten die jungen Maler die künstlerische und agitatorische Kraft ihrer Gestaltungen auf — den Wänden der Waggons. Diese werden sehr wirkungsvoll — wenn auch ausgesprochen tendenziös — mit volksblattartigen Darstellungen und Allegorien bemalt, die seltsame koloristische Genüsse bieten. Wenn auch die Künstler sich von einer unaufrichtigen Anpassung an den volkstümlichen Geschmack nicht frei halten, so verstehen sie doch in Übereinstimmung mit den sonderbaren technischen Bedingungen einer Eisenbahndekoration den Reiz der Volksblattepik, die sachliche Anschaulichkeit jener Volkskunst in einem neuen Maßstab zu gestalten. Die entfernteste russische Provinz und das isolierte Dorf, die von diesen "Propagandazügen" besucht wurden, erlebten unerwartete ästhetische Freuden an jenen bald satirischen, bald pathetischrevolutionären, bald ornamentalen dekorativen Kompositionen.

Unzählige staatliche Aufträge, Wettbewerbe, Ausstellungen dekorativer Kunst etc. bleiben im heutigen Russland ein lebendiger Impuls für immer neue dekorative Experimente. Die jungen Künstler versuchen sich vor "offiziöser Malerei" zu hüten und neue Formen für den neuen Inhalt zu suchen. Leider sind aber von den Initiatoren jener dekorativen Unternehmungen (Fresko-Dekorationen staatlicher Gebäude, Volksfeste, Plakaten-Wettbewerbe etc.) am meisten die Dilettanten aus dem "Proletkult" (s. u.) beliebt, da es den schaffenden Künstlern selbstverständlich schwerer fällt, in den Dienst der politischen Propaganda ohne weiteres zu treten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Neue Kunst in Russland 1914-1919