Das Wollen zur Stilbildung

O. Rosanovva: Das blaue Höschen.

      Wir sind nicht das Heulen der Genieaffen :
      „Alles erlaubt!"
      Wir warten auch nicht auf des Feldwebels:
      „Rührt Euch!"
      Um den Rücken der Kunst
      Zu recken,
      Zu strecken.

                  W. Majakowskij.


Nicht nur den individuellen Leistungen nach, sondern im gesamten Wollen zur Stilbildung, zur neuen Kunst erscheinen uns — und oft mit Recht — die jungen russischen Künstler als Führer und Verkünder der werdenden Kunst, Von äußeren, von sozialen und von geistigen Erschütterungen begünstigt und beschleunigt, hat sich in Russland die größte Befreiung der Kunst und des Künstlers aus allen traditionellen Sklavereien vollzogen. Die gewerkschaftliche Selbsttätigkeit hat hier ihre vollendete Form gefunden. Die Reaktion der Kunst auf die Revolution und die "Kunst-Revolution" wirft mehrere Probleme auf, die auch den Interessen des deutschen Künstlers entsprechen, da sie auch auf deutschem Boden zur revolutionären Lösung reif geworden sind. Die alten Grenzen der Kunstkritik und Kunstforschung sind für alle diese Probleme zu eng gezogen. Um den Begriff "Neue russische Kunst" festzustellen, werden wir uns nicht auf das Rein-Ästhetische beschränken, sondern uns auch mit den Zusammenhängen der Kunst mit dem sozialen Leben der russischen Gegenwart vertraut machen.

Die Kurve der künstlerischen Entwicklung ist zu kompliziert, um sich einer strammen Theorie unterzuordnen. Vom Transzendentalen berührt, sucht der moderne Kunstgeist verschiedene, oft diametral entgegengesetzte Wege zum Stil unserer Zeit. W. Kandinskij behauptet mit Recht, dass "jede Theorie nur ein Fall ist, an dessen Seite viele andere Fälle mit gleichem Recht existieren können". Und doch kann und muss man jene Leitlinie und alle jene gemeinsamen ästhetischen Grundsätze der Neuen Kunst finden, die an die Stelle agitatorischer Manifeste eine wissenschaftliche Ideologie des Expressionismus und seiner mannigfaltigen Zweige setzen.

Versuchen wir die leitenden Tendenzen des russischen Expressionismus festzustellen:

Von der Naturdarstellung zur rein künstlerischen Gestaltung; vom Statischen zum Dynamischen; von der impressionistischen Auflösung des Gegenstandes zu immer strengeren Analyse desselben; durch die Ausschaltung alles Zeitlichen und Zufälligen — zur architektonischen Bildgestaltung; aus der empirischen Erscheinungswelt ins Transzendentale; vom Monothematischen zum Polythematischen; vom Rhythmus der Natur zum Maschinenrhythmus der Gegenwart; von der Naturnachahmung zur künstlerischen, vom Naturvorbild unabhängigen Eigenschöpfung: mit diesen Schlagworten können wir Richtungen und Wege nach nachimpressionistischer Stilbildung andeuten. Es sind zunächst die sich im Verein ,,Die Kunstwelt" zusammenschließenden Neo-Impressionisten und "Cezannisten", die in Russland die strenge Umwertung aller in der Gesellschaft eingewurzelten ästhetischen Werte durchgeführt haben. Ferner— "der Karobube" (Bubnowyj Walet), in welchem der eigentliche doktrinäre Expressionismus in Form eines Kubo-Futurismus sich breit macht, um aber in den letzten Jahren (1915 — 1919) der gegenstandslosen abstrakten Malerei, dem "absoluten Expressionismus" den Platz zu räumen.

Am Anfang führt der Weg des russischen Expressionismus von den raffinierten, lockeren Farbenspielen des Impressionismus z. B. eines — N. Ssapunow (in seinen theatralen Buffonaden), eines Sarjans (in seinen koloristischen geradezu ornamental stilisierten Werken, orientalischen Landschaften, Stilleben etc.), eines Igor Grabar (in seinem Pointilismus) oder eines P. Ssudejkin und anderer NeoImpressionisten — zu den ersten Versuchen etwas architektonisch Wesenhaftes, Dauerndes zu geben, wie sie bei dem "russischen Cezanne" Ilja Maschkow in einem tiefen Sichbesinnen zum Ausdruck kommen. Streng und ernst, fast asketisch allen Farbenfreuden entsagend, studiert er den Gegenstand, sein Material, seine Form und seine Farbe. Das Motiv der Unruhe in diesem Zustand des unermüdlichen Suchens und Tastens wächst permanent, mit ihm auch die Deformation und Korrektion des Alten, die weitere Revolutionierung der Kunst auf dem Wege zur Autonomie des Kunstgeistes. Die ersten Triebe des russischen Expressionismus haben auf dem Boden der volkstümlichen russischen und orientalischen Primitive kräftige Wurzeln gefasst und die dumpfe Atmosphäre des herrschenden ungesunden Ästhetizismus revolutionär erfrischt. Außer J .J. Maschkow (Moskauer-Schule) der sicherlich bleibend Monumentales geschaffen hat, bestimmt noch das Werk J. Petrow-Wodkins (PetersburgerSchule) und des eigenartigen Boris Grigorjews, der eine Schule glänzender Illustratoren eröffnet, den Stil zahlreicher Epigonen. Bei Petrow-Wodkin und Grigorjew offenbart sich jenes Streben der Moderne nach künstlerisch-elementarer, volkstümlicher Expression-Archaik, welches später in stereotyperen Formen einen neuen Stilismus zu schaffen droht. Bei ihnen ist der Primitivismus noch unmittelbar von dem russischen Volksgeist — seinem Leben und seiner Kunst — befruchtet, wir sehen hier die alten "Ikonen", die Kirchenfresken und „Lubki" (Volksholzschnitte) aus dem geschichtlichen und ethnographischem Staub wieder aufleben und den modernen künstlerischen Tendenzen in glücklicher Harmonie entsprechen. Der bekannte Pawel Kusnezow ist mehr geneigt, im Orientalisch-Exotischen jungfräulichen Boden für die Neue Kunst zu finden. Die Primitivisten Russlands können heute durchaus nicht als fortschrittlich und führend bezeichnet werden. Sie erscheinen in ihrem Nacherleben ältester Kunstformen, das bald bewusst, bald unbewusst zum Ausdruck kommt, als einseitige Stilisten. Wenn man von nationalen Verdiensten sprechen darf, so sind solche Meister wie Maschkow, Kusnezow, Petrow-Wodkin, Grigoriew, wie auch Nathan Altmann, Fedotow, A. Jawlenskij u.a. einem größeren Interesse und weiterer Bekanntschaft beiden deutschen Freunden der Neuen Kunst wert. Abbildungen können wir heute leider nicht in genügendem Anmaß beibringen, wir hoffen aber, dass die Errungenschaften dieser Künstler im allgemeinen auf deutschem Boden bekannt sind.

N. Kulbin: Marinetti.

Eine konsequentere Form erreicht der russische Expressionismus in den Werken der Mitglieder des "Karobuben" (seit 1910). Die dreidimensionale Tiefenkunst der Kubisten erfasst den Zeitgeist am stärksten und rottet die letzten Reste impressionistischer Oberflächenmalerei aus. Es ist der Geist Picassos und Delaunays, der diese Gruppe beseelt. Die einzelnen kubistischen Künstlergruppen sind ebenso mannigfaltig und kompliziert wie die künstlerischen Möglichkeiten, die der Kubismus bietet. Hier gibt es keine Ruhepausen nach gefundenen Lösungen, — rastlos suchen die jungen Künstler neue Antworten auf immer neue Fragen, die im Prozess des Suchens unaufhörlich hervortreten. Die Probleme des Farbenkubismus sucht Aristarch Lentulow (vgl. S. 40) zu lösen. Impressionistische Freuden gewinnen hier ihren letzten Widerklang, um aber vor den neuen Raumund Formproblemen ohnmächtig Halt zu machen. Künstler wie David Burljuk, P. Kontschalowskij, A. Exter, A. Morgunow, Falk, Kulbin und N. Gontscharowa führen ihr Schaffen zum stereometrisch geordneten Tiefenstil, zur polythematischen Gestaltung des komplizierten Zeit- und Kunstgeistes, zum urbanistischen Rhythmus und zu nüchterner Analyse.

Als plötzliches Wiederaufleben alter Mysterien treten uns die mystisch-symbolistischen Visionen Filonows entgegen, die sich der Formensprache des klassischen Kubismus bedienen. Bald scheinen sie uns eine machtlose Reaktion gegen den unaufhaltsamen Drang der Stadt, der Maschine, des Materiellen und Rationellen zu sein, bald — aus diesen Elementen selbst geboren. Filonow ist jedenfalls ein großer Meister. Seine Technik hat die Vollendung des Klassischen. In filigraner Zergliederung einzelner Raumteile, deren dreidimensionale Natur restlos zum Ausdruck gebracht ist, in zahllosen Kristallen scheint das Spezifische und Äußerste der expressionistischen Anschauungsweise einen Höhepunkt erreicht zu haben und im Einklang mit der mystischen Phantasie und der geistigen Natur seiner Bilder zu stehen, so dass der Betrachter zum Glauben an die Visionen des Künstlers gezwungen wird. Die Technik dieses "akademischen" — fast möchte man sagen — klassisch raffinierten Kubismus hilft auch den Künstlern Marc Chagall und Jurij Annenkow ihre visionäre Welt und die komplizierte Psyche des heutigen Menschen und Künstlers zu gestalten. Marc Chagall (vgl. Abbildungen 29 u. 30) ist im Ausland gut bekannt; Kandinskij, Archipenko, Burljuk, Jawlenskij, Chagall, das sind die wenigen, hier geläufigen Namen junger russischer Künstler. Den Freunden von Chagalls Kunst berichten wir, dass er sich immer weiter im Graphisch-linearen vervollkommnet und den Motiven aus dem Leben der jüdischen Bevölkerung der Stadt Witebsk treu bleibt. In der großen Kunstschau im Winterpalais — Petersburg Sommer 1919 — ist Chagall ein ganzer Saal eingeräumt gewesen, so dass dort sein individuelles Antlitz und die feinsten Züge seiner Seele anschaulich hervortraten. Völlig unbekannt ist hier der junge Petersburger Jurij Annenkow der bald im volkstümlich Archaischen, bald im Visionär-Mystischen bald im Subjektiv Psychologischen, bald im Satyrischen mannigfaltige Motive für seine virtuosen Linien- und Formenspiele sucht. Die letzten Werke Chagalls (,, Gratulation", "Betender Jude", "Ich und meine Frau" u. a.) und Annenkows (Illustrationen zu Gorkijs und Jewreinows Werken, zu Alexander Blocks ,,Die Zwölf", sowie auch „Selbstbildnis", "Sündenfall") befremden durch eine gewisse akademische Kühle. (Vgl. S. 28 und 42.) Dies aber ist als Reaktion gegen die Anarchie des befreiten Kunstgeistes und Dilettantismus, als Kultivierung der Meisterschaft des künstlerischen "Könnens", der äußeren Technik zu erklären. Unterdessen sind aber auch auf anderen Gebieten des Kubismus zahlreiche positive Werte der technisch -malerischen Faktur geschaffen und die Kunstsprache mit neuen, ausdrucksvollen Worten bereichert worden. Hier ist der rechte Platz, um die Wladimir Tatlin Gruppe zu erwähnen, denn diese schafft nicht nur neue Worte der Kunstsprache, sondern eine neue Kunstsprache selbst. Das Bild als solches ist tot, — so behauptet der "Tatlinismus". Dem Dreidimensionalen ist es zu eng auf der Bildfläche, neue Probleme fordern zu ihrer Lösung reichere technische Mittel, schließlich wird die Notwendigkeit "Bilder", "Kunstwerke" zu schaffen, die nur den Laien unterhalten — im besseren Falle abstoßen — kritisch bedacht. Und so entsteht (191 5) jene Tatlinsche "Maschinenkunst", deren Vorstufen in Experimenten Picassos und Braques (19 13) zu suchen sind. Die Kunst ist tot — es lebe die Kunst, die Kunst der Maschine mit ihrer Konstruktion und Logik, ihrem Rhythmus, ihrem Bestandteile, ihrem Material, ihrem metaphysischen Geist, — die Kunst des "Kontrereliefs", Dieses findet keine Art von Material der Kunst unwürdig. Holz, Glas, Papier, Blech, Eisen, Schrauben, Nägel, elektrische Armatur, gläserne Splitter zum Bestäuben der Flächen, die Mobilfähigkeit einzelner Teile des Werkes etc. — alles das wird zu rechtmäßigen Mitteln der neuen Kunstsprache erklärt und ihre neue Grammatik und Ästhetik fordert vom Künstler weitere handwerksmäßige technische Ausbildung und einen engeren Bund mit seinem mächtigen Alliierten — der herrschenden Maschine. Ein Triumph des Intellektuellen und Materiellen, die Verneinung- der Rechte des Geistes auf isolierte Autonomie, eine Quintessenz der heutigen Wirklichkeit — der souveränen Technik, des siegenden Materialismus — , so muss man die "Kontrereliefkunst" erklären, die die "heiligen" Worte wie "Kunst", "Malerei", "Bild" in Anführungszeichen gestellt hat.

Der Tatlinismus ist — wie wir bereits angedeutet haben — keine autochthone russische Kunstrichtung; seine Anfänge gehen auf französische Initiative zurück. Wir verstehen aber, dass diese Maschinenkunst sich gerade im heutigen Russland in vollkommenem Einklang mit der Gesinnung der Zeit fühlt.

Das "Geistige in der Kunst" triumphiert heute in Russland in jenen Richtungen, die den ,, absoluten Expressionismus" anstreben. Wir müssen auf diesem Gebiete folgende zwei Gruppen auseinander halten: 1. Die einsame Kandinskij -Gruppe und 2. die K. Malewitsch Gruppe, die den sogenannten "Suprematismus" vertritt.

Marc Chagall: Graphik (m. Gen. v. „Sturm").

Wassilij Kandinskijs Schaffen ist hier in Deutschland nicht weniger bekannt und geschätzt als in Russland. Kandinskij reicht aber nicht zur Charakterisierung der neuen russischen Kunst aus aber; er ist ein glänzendes Dokument für das Tempo selbst der russischen Kunst und für die fast prophetische Rolle, die sie in der Entwicklung der Weltkunst spielt (1909 wurden schon von Kandinskij jene absoluten Werte des abstrakten Expressionismus gefunden, die 1920 außerhalb Russlands als aktuelle Kunstaufgaben gelten). Wenn einer, so verdient Kandinskij den Beinamen des "russischen Messias". Sein Einfluss im russischen Kunstleben und das Kontingent seiner Epigonen ist aber nicht so bedeutend, wie es sich anscheinend den deutschen Kandinsky-Freunden aufdrängt. Ein Künstler wie Kandinskij muss aber vielleicht einsam bleiben, — es ist das beste Pfand für weitere Offenbarungen seiner tiefen Geistigkeit. Mit seinem Schaffen hat er den Sieg absoluter Kunst vorbereitet, — die gegenstandslose Malerei geht aber heute einen anderen Weg. Und doch ist Kandinskij keine zeitliche individuelle Erscheinung — Zufälle gibt es nicht in der Entwicklung der Neuen Kunst. Er ist die äußerste Reaktion gegen die Natur und der äußerste Ausdruck der Natur der Kunst. "Warum ärgern sich alle, wenn sie diese naturellen Seiten der Kunst sehen, statt sich zu freuen? Die Natur schafft ihre Form zu ihrem Zweck. Die Kunst schafft ihre Form zu ihrem Zweck". Kandinskijs Kunst ist prägnanteste authentische Kunst und soweit Kunst tatsächlich anorganisch und selbständiges Element, isolierte Natur ist, bleibt Kandinskij unübertroffen. Aber die notwendige Ergänzung fand Kandinskijs Kunst erst im "Suprematismus", wie der russische Künstler Kasimir Malewitsch seine und seiner Nachfolger Kunst seit 1915 zu nennen pflegt. Diese Richtung ist nicht so sehr eine Reaktion auf dem Kubismus, sondern eher seine organisch bedingte logische Weiterentwicklung. Verständlich und zwanglos erscheint uns dieser notwendige Prozess der Zerlegung des den Raum schaffenden stereometrischen Organismus in seine planimetrischen Bestandteile. Es entsteht eine konsequente Flächenmalerei, aber die Künstler derselben sind vor der Gefahr einer Dekoration, Ornamentik und anderer kunstgewerblicher Verirrungen sicher: Sie gehen einen anderen Weg, suchen den Nullpunkt der Kunst *) und schließen siegreich den Prozess analytischer Subtraktion ab — machen aber Halt an der Schwelle der künftigen Kunst, warten auf kommende synthetische Kräfte. Erbarmungslose Hebung der planimetrischen Natur der Bildfläche. Imponierend ist die Zahl der Anhänger dieser Richtung, deren Werke auf allen Ausstellungen in Fülle vertreten sind (struktiv, aufgebaute, farbig „bemalte" Flächen **). Zu den Nachfolgern Malewitschs zählen: Olga Rosanowa (†1919), Klühn, Nikolai Puni, Rodzenko u. a. Identische Erscheinungen in der Poesie und Literatur (Abstrahierung des Lautes als solchen und seine absolute Gestaltung bei Viktor Chljebnikow, A. Krutschonychu.a.) so wie in der Tonkunst (Arthur Lurje) beweisen, dass der absolute Expressionismus nicht etwa willkürlich Zufälliges, sondern etwas geschichtlich Berechtigtes ist. Es ist das letzte Wort der „Neuen Kunst" und ihrer revolutionär

*) Unter „Nullpunkt der Kunst" versteht K. Malewitsch den beinahe vollkommenen Verzicht auf alle Ausdrucksmittel der Kunst (Farbe, Form usw.). So z. B. hat er 19 19 in der X. staatl. Ausstellung ein Bild: „Weiß auf Weiß" gezeigt, Äußerster Nihilismus der russischen Kunst.

**) Da wir wieder keine Abbildungen beibringen können, so empfehlen wir dem Leser in den Zeitschriften „Dada" (Nr. I u. 2 u. a.) und „Sturm" die Entstehung dieser zweidimensionalen Malerei, anderseits des „Kontrereliefs" (Werke der Künster: H. Arp, Brambolini, Oswald Herzog, Rudolf Bauer, M. Janko u. a.) aus den jüngsten Phasen des Kubismus (letzte Werke Robert Delaunays auch O. Lüthy. Lionel Feininger, J. Molzahn u. a. zu beobachten.)


deformierenden Kraft und die erste Ahnung künftiger Synthese. "Abstrakter Expressionismus ist vollendeter Expressionismus; er ist die Reinheit der Gestaltung. Er gestaltet geistiges Geschehen körperlich, er schafft Objekte und nimmt nicht Objekte-Gegenstände. Dem materiellen Expressionismus dient noch das Objekt zur Gestaltung. Er abstrahiert das Wesen eines Gegenstandes durch Ausscheiden alles Unwesentlichen zur Reinheit und Größe. Es ist das Nacherleben einer Objekts-Gestaltung in Vergangenheit. Die Abstraktion offenbart den Willen des Künstlers; sie wird Ausdruck. Der abstrakte Expressionismus ist das Gestalten des Geschehens — des Lebens an sich; es ist Gestaltung in Gegenwart. Der Künstler hat bei seiner Intuition keine Vorstellung von Gegenständen. Er lässt Formen entstehen, die Träger seines Erlebens sind und sein müssen. Es werden Objekte, die nicht der Natur entnommen, aber der Natur verwandt sind, gestaltet. Dinge zu schaffen, die sich jeder Verwandtschaft der Natur entziehen (so will es Kandinskij. D. Verf.), wird es niemals geben. Selbst die freieste Gestaltungsform — die Gestaltung des Dinges an sich — das Spiel der Phantasie — ein intellektueller Impressionismus — wird seine objektive Spiegelung dort finden, wo das Leben der Natur zerstört ist — im Chaos — , wo der Wille vernichtet ist und es jedem überlassen bleibt zu sehen, was er will. Schönheit in der Freiheit der Phantasie zu empfinden, ist eine Verflachung der Kunst, wie wir es erst vor kurzem im Realismus erfahren haben. Schönheit im Allgemeinsinne ist dekorative — oberflächige — Geistigkeit. Absolute Schönheit ist der Wille. Wo kein Wille, ist der Zufall; Zufälligkeit ist das Chaos — die Unordnung — das Fehlen organischen Lebens." *).

In dieser Reaktion, die gegen die Kandinskij -Kunst die organische Form wieder in die Kunst aufnimmt, spürt man schon deutlich jene synthetischen Motive, jene Reinigung von revolutionären Auswüchsen, die den Beginn der neuen, klassisch -reifen Phase des Expressionismus bedeuten: ,,Der abstrakte Expressionimus ist die Evolution des Naturalismus, die aus der Revolution des Kubismus und Primitivimus hervorgegangen ist. Jede Flucht zur alten Kunst war eine Kunstlaune — Mode — und keine Kunst. Nur als Reaktion zum Naturalismus bildeten sich Primitivisten und Kubisten. Das einseitige, aus Reaktion hervorgegangene Nacherleben ältester Kunst hat wenig mit einer Vergeistigung der Kunst gemein. Aus rein geistigem Gestaltungsdrang ging der Futurismus hervor. Er sucht Gestaltung der Expression durch Gegenstände". Wenn die „abstrakten Expressionisten" die „Suprematisten" noch eine gewisse fraktionelle Beschränkung überwinden, und ihre Aufbaukraft durch weitere Möglichkeiten ihrer Kunst beweisen, so werden eben sie es vielleicht sein, die die reichen Errungenschaften der experimentellen Momente der Neuen Kunst zur Synthese bringen werden.

*) Vergl. „Sturm" 1919, 2. Heft. „Der abstrakte Expressionismus v. Oswald Herzog.

Übrigens treten uns im hastenden Kunstleben Russlands noch jüngere Kunstrichtungen entgegen, nämlich der "Imaginismus" (sein erstes Manifest — Februar 1919) der "Farbendynamos und der tektonische Primitivismus." (Erste Ausstellung — XI. Staatliche — Juni, August, 1919). Der "Imaginismus" ist eine ganz junge Richtung, die eine neue Schönheit — die Schönheit der unaufhörlich sich verändernden Gestalten — proklamiert, und den Expressionismus als "in gelben und blauen Sonnen versunken" erklärt. Eigentlich der modernen Poesie entstiegen, hat der Imaginismus unter jenen Künstlern, die von den Sensationen neuer Proklamationen, Manifesten und Gesellschaftsskandalen angezogen werden, zahlreiche Anhänger gewonnen. Zunächst ist es der talentvolle Georgij Bogdanowitsch Jakulow (ein Armenier), der das dynamische Moment des Kubismus in meisterhaften Formen zum höchsten Ausdruck bringt und die resultierende Linie zwischen der asiatischen und europäischen Kunst zu finden versucht. (Letzte Werke : "Das Pferderennen", "Der Kampf", zahlreiche theatrale Entwürfe etc.). Das Technische und die tektonische Komposition interessieren ihn am meisten, er ist ein glänzender, reifer Kubist, aber das alles bedeutet eigentlich noch nicht eine eigene Richtung.

Die jüngste Gruppe — die ,,Tektonischen Primitivsten" (Führer: Alexej Grischtschenko und Schewtschenko) verfährt durchaus eklektisch, indem sie z. B. Cezannes Motive variiert, nur mit einer stärkeren Intensivierung der Farbe. Diese Richtungen sind noch zu jung (1919), um über sie ein abschließendes Urteil fällen zu lassen.

Sollen wir es wagen, die künftige Entwicklung der neuen russischen Kunst zu prophezeihen?

Olga Rosanowa († 1919): Die Tänzerin.

Viele Anzeichen scheinen dafür zu sprechen, dass der gegenstandslose Expressionismus seine letzten Konsequenzen bereits gezogen hat und auf einem toten Punkt angelangt ist. Eine Rückkehr zum Gegenständlichen scheint unvermeidlich. In einer gegenständlichen

Kunst also, die sich die expressionistischen Prinzipien und Errungenschaften zu nutze macht, wird die Neue Kunst ihren Weg ins Ewige, Absolute, Klassische finden.

Der Krieg, vielleicht auch die Revolution scheinen durch tiefe geistige Erschütterungen die Entthronung des Marinetti-Futurismus beschleunigt zu haben. Dieser war nur ein machtloses Jammergeschrei der Romantik moderner Jugend; Manifeste, Eselschwänze, Reklame und Skandale waren vielleicht als aktive Übergangsmittel notwendige Revolutionsakte; es war die erste Ohrfeige, die der Gesellschaftsgeschmack erhielt und zwar eine so kräftige, dass ein weiteres "epater le bourgeois" nicht mehr die heutige Taktik des Künstlers in Beziehung zum Betrachter bestimmen braucht. "Die Krise der Kunst" ist vorüber, die Kunstatmosphäre scheint sich zu verdünnen. Die schaffenden Kräfte der Kunst treten hervor. Und wenn in Russland sich noch Künstlergruppen finden, die die ungesunden Auswüchse der "Sturm- und Drangperiode" noch nicht überwunden haben, in lustigen Streichen und Putschen fortfahren und auf Plätzen, Straßen und Boulevards "Anhänger" suchen, in der Tat aber machtlos einer blinden Opposition der Menge gegenüberstehen, so gibt es auch solche, die sich wieder auf den eigentlichen Zweck der Kunst besinnen. Ohne übertriebener Isolierung vom Leben, vom Volk, dem hungrigen, tausendköpfigen Publikum, versuchen sie doch wieder eine feste Grenze zwischen Schaffen und Erfindungskunst — und zeitlicher revolutionärer Propagandakunst, zwischen Schöpfer und Betrachter, Kunst und Leben, Leben und Künstler zu finden.

Marinetti selbst hat einmal dem Futurismus eine nur 10jährige Lebensdauer prophezeiht. Und so ist es uns verständlich, dass heute die jüngeren russischen Künstler aufrichtig proklamieren:

„Der kleine Schreihals, der sich bald Expressionismus, bald Futurismus, Primitivismus, Kubismus etc. nannte (geb. 1909), ist nach schwerem Leiden 1919 gestorben."

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Neue Kunst in Russland 1914-1919
007 Das blaue Höschen, O. Rosanowa

007 Das blaue Höschen, O. Rosanowa

028 Entwurf eines Kleides zu Turandot, A. N. Ssapunow

028 Entwurf eines Kleides zu Turandot, A. N. Ssapunow

029 Ein heißer Tag, M. S. Ssarjan

029 Ein heißer Tag, M. S. Ssarjan

030 Nocturne, M. S. Ssarjan

030 Nocturne, M. S. Ssarjan

008 Marinetti, N. Kulbin

008 Marinetti, N. Kulbin

009 Graphik (m. Gen. v. Sturm), Marc Chagall

009 Graphik (m. Gen. v. Sturm), Marc Chagall

010 Tänzerin, Olga Rosanowa (gest. 1919)

010 Tänzerin, Olga Rosanowa (gest. 1919)

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