Neue Kunst in Russland 1914-1919

Mit einem Vorwort von Dr. Leopold Zahn und 54 Abbildungen
Autor: Umanskij, Konstantin (1902-1945) sowjetischer, Diplomat, Künstler, Redakteur, Journalist, Erscheinungsjahr: 1920

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Kunst, Künstler, Malerei, Sowjetunion, Skulptur, Kultur, Deutschland, Fenster nach Europa, Kräfte, Volkskunst, Volksblatt, Petersburg, Moskau, Sperlingsberge, Kreml, Europa, Orient, Westeuropa, Bollwerk, Dünkel, Barbarenland, Nationalismus, Puschkin, Dostojewskij, Ära Bismarck, Chagall, Kandinskij,

A. Ostroumowa-Lebedewa: Säule vor der Petersburger Börse (Holzschnitt).

              Vorwort von Dr. Leopold Zahn

Ich will nach Europa fahren, Aljoscha, ich werde von hier aus geradenwegs hinfahren. Ich weiß es ja, dass ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch! Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, dass ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde — wenn auch mit der vollen Überzeugung im Herzen, dass das alles schon längst ein Friedhof ist, und in keinem Fall mehr als das. Und nicht aus Verzweiflung werde ich weinen, sondern einfach aus dem Grunde, weil mir meine Tränen Glück sein werden. Ich werde mich an der eigenen Empfindung berauschen. Die kleinen, klebrigen Frühlingsblätter, den hohen blauen Himmel liebe ich! Hier handelt es sich nicht um Verstand, nicht um Logik, hier liebt man mit dem ganzen Innern, mit dem ganzen Eingeweide, mit dem ganzen Leibe, seine ersten jungen Kräfte liebt man.
      Dostojewskij: Die Brüder Karamasow.

Der Strang der Nikolaibahn verknüpft zwei Städte, in denen der Dualismus Russlands mit symbolhafter Eindringlichkeit sinnfällig wird: Moskau und Petersburg. Moskau, etwa von den Sperlingbergen aus gesehen: ein Organismus, dessen historisches Wachstum kommentarlos begriffen wird, Schichten, die sich konzentrisch um einen Urkern legen, wie Jahresringe eines Baums. Der Kreml umschlossen vom Kitaj-Gorod, vom Bjelyj-Gorod und vom Semljanoj-Wal.

Der Gesamteindruck, vor allem vom Farbigen her bestimmt (Gold und Weiß im hieratischen Zweiklang dominierend), durchaus uneuropäisch. Man sagt Orient, um das Schwelgerische, Farbige, Irrationelle, Scheherezadenhafte dieses Anblicks zu bezeichnen. Alle diese Eigenschaften am stärksten potenziert in der Wassilij-Blaschenyj-Kathedrale auf dem Roten (will heißen: schönen) Platz vor den Mauern des Kreml. Kleinere und größere turmartige Einzelbildungen um ein Zentralmotiv zusammengedrängt. Formen, die einer märchenhaften Pflanzentropik entlehnt zu sein scheinen. Eine orgiastische Farbenbuntheit. Der Grundriss scharadenhaft. Ein Gemengsel von Einzelzellen auf verschiedene Niveaus verteilt, ohne logische innere Bindung. Alles irrationell, atektonisch, vegetativ. Europäische Ästhetik erweist sich hier unzulänglich. Eine Legende erzählt: der Baumeister dieser Kirche wurde von Iwan dem Schrecklichen geblendet. Damit er nicht mehr imstande sei, etwas ähnlich Schönes zu schaffen. Wie sehr muss diese Kirche dem russischen Schönheitsgefühl entsprochen haben!

Petersburg wird nach Moskau als krasser Antagonismus empfunden. Eine Rasterstadt. Breite, endlose, schnurgerade Straßen, die sich rechtwinkelig kreuzen. Eine eklektische Architektur, die ehrfurchtsvoll nach westeuropäischen Paradigmen schielt, wobei sie sich von altem „Klassischen" am meisten imponieren lässt. So sind der Kasanskaja-Kathedrale die Kolonnaden Berninis in verkümmerter Nachbildung vorgelegt, so schmücken getreue Kopien nach Ghiberti die Tore derselben Kirche, so lehnt sich die Isaaks-Kathedrale an St. Peter in Rom an usw. Unter Alexander I. ist Petersburg eine Empirestadt geworden. Starow baute im römischen Stile (Taurisches Palais), Sacharow im griechischen (Admiralität). Puschkin, begeistert sich für den Plan einer Straße, in der alle historischen Stilarten vertreten sind. Deshalb liebt er auch Petersburg und besingt es im „Mednyj Wsadnik". („Ich liebe dich Tochter von Peters Geist, ich liebe dein nobles und strenges Antlitz“,) Nicht der Instinkt eines Volkes hat für diese Stadt den Platz gewählt, sie ist nicht geworden in jahrhundeterlanger Arbeit, gefördert, gerechtfertigt durch geographische Lage und klimatische Vorteile, sondern der diktatorische Wille eines Menschen hat sie in einer sumpfigen, feindlichen Landschaft als Bollwerk wider einen Nachbarstaat errichtet und in zähem Kampf gegen widerstrebende Naturgewalten zu einer Rivalin der alten, organisch gewordenen Zarenstadt Moskau emporgezüchtet.

Man hat Petersburg das Fenster nach Europa genannt; gewiss ein Fenster, aber eines, durch das man nicht nach Russland hineinsehen kann. Der Newskij-Prospekt führt aus Russland heraus, nicht nach Russland hinein.

Am stärksten, am konzentriertesten fühlt man Russland in Moskau, beim Anblick des Kremls, dieser Zentrale hieratischer und weltlicher Macht, dort, wo man Orient sagt, um das Uneuropäische, Fremdartige in ein Wort zu bannen. Orient? Eher schon: Nordischer Orient. Aber auch damit deuten wir nur an.

Russland: Was ist es denn eigentlich? Über China sind wir besser im Bilde wie über dieses osteuropäische Monstrum. Russland ist etwas Diffuses, Werdendes, Gestaltsuchendes. (Man sagt auch Barbarenland, aber mit einigem Recht nur dann, wenn man mit Flaubert fühlt, dass es nichts Komplizierteres gibt, als einen Barbaren.)

Westeuropäischer Dünkel bemitleidete Russland als ein zurückgebliebenes Stück Europa, als eine Art Halbfabrikat, dessen Vollendung wir uns nur in einer fortschreitenden Entbarbarisierung, Europäisierung vorstellen können. Wenn auch seit dem 18. Jahrhundert alle diese Sapadniki, die sich unter Zaren, Beamten, Künstlern, Intellektuellen fanden, die „Entwicklung" Russlands nach diesem hochmütigen Gesichtspunkt Westeuropas bestimmen wollten, so drangen ihre Bemühungen, ihre Experimente und Reformen im Sinne des materialistischen „Fortschritts" doch nicht bis zur Tiefe des russischen Millionenvolkes durch. Der Muschik blieb was er war: ein Gläubiger, der an dem Gefühl seiner Gotteskindschaft nicht irre wird.

Im Namen dieses Muschiks spricht Dostojewskij sein Anathema über Europa aus. Sein Kampf gegen Europa, sein Glaube an die Heilsendung Russlands hat nichts mit Nationalismus und Chauvinismus zu tun, sondern kommt aus einem religiös gesteigerten Bewusstsein. (Man lese die visionäre Rede, die er 1880 bei der Puschkinfeier in Moskau hielt.) Prophet und Dichter treffen bei ihm wieder zusammen, wie es im Jugendalter aller Kulturen war.

Dostojewskij hat ein neues Evangelium der Menschenliebe verkündet. Seitdem wir es verstanden zu haben glauben, haben wir unseren Hochmut aufgegeben und sprechen von einem russischen Messianismus. Die geistige und künstlerische Bedeutung der russischen Frage (wenn wir sie ganz erfassen: die religiöse Bedeutung) überwiegt heute für uns das politische Moment (das der Ära Bismarck so wichtig war).

So sehen wir heute mit einer viel innerlicheren Spannung auf Russland. Wir erwarten „ab Oriente" neue Offenbarungen — geistige und künstlerische, zu denen wir uns schon zu alt fühlen. Die größten russischen Epiker des 19. Jahrhunderts — Dostojewskij vor allem — sind uns wertvoller geworden als alle Dichtungen westeuropäischer Provenienz. In der bildenden Kunst Russlands fesselt uns seit Chagall und Kandinskij das leidenschaftliche Ringen um Befreiung aus jahrhundertelangem Epigonentum, die chaotische Genesis einer autochthonen Kunst.

Aus dem Buche, das diese Worte einleiten, erfahren wir, wie dieser Kampf in den Jahren des Krieges und der Revolution weiterging. Noch immer ist es ein Kampf der Instinkte gegen aufgedrängtes Wissen. Die Kräfte, verbraucht zum Werk der Zerstörung, scheinen noch immer nicht für aufbauendes Schaffen auszureichen. Wir staunen über eine ungeheure Aktivität, die ungeduldig nach allen Richtungen ausgreift, vor dem Unmöglichen nicht zurückscheut, vom Tage fordert, was vielleicht nur ein Jahrhundert gewähren kann. Wir bewundern einstweilen die Tapferkeit des Kämpfenden, noch nicht den Triumph des Siegers.
            L. Zahn.


      Russisches Volksblatt: Szene in einem Dorf.

                Nachwort des Verfassers

Von unmittelbaren Eindrücken einer intensiven Mitarbeit an den russischen Kunstreformen ausgehend, beansprucht dieses Buch nicht den Titel einer Geschichte der Neuen Kunst Russlands. Vielmehr ist es eine Zusammenfassung von rohem Informationsmaterial, dessen Bearbeitung und Ergänzung erst durch die Wiederherstellung des internationalen Kunstverkehrs bedingt ist. Persönliche Beziehungen zu den führenden russischen Künstlern, die Beteiligung an ihrer administrativen Arbeit und mannigfaltige Erlebnisse und Erinnerungen haben es mir ermöglicht, trotz des Mangels an wichtigen Materialien — russischer Kunstliteratur, Reproduktionen etc. — diesen (seit den Kriegsjahren den ersten) Bericht über russische Kunst zustande zu bringen. — Leider konnte der Text nicht in ausreichender Weise mit Abbildungen nach Werken der jüngsten Entwicklung unterstützt werden. Wenn auch beinahe alle Werke, die wir hier reproduzieren, in Deutschland bisher unbekannt geblieben sind und zum größten Teile in die Kriegs- und Revolutionszeit gehören, fehlen doch noch mehrere die Errungenschaften der jüngsten — vor allem der der abstrakten — Richtungen dokumentierende Abbildungen: Lücken, die hoffentlich eine zweite Auflage ausfüllen wird.

Ich spreche an dieser Stelle allen Persönlichkeiten, die dem Zustandekommen dieses Buches dienlich waren, meinen Dank aus, insbesondere den Herren Alexander Eliasberg, Johannes von Guenther und Dr. Leopold Zahn.

        Konstantin Umanskij.

Moskau - Der Kreml

Moskau - Der Kreml

Moskau - Basilius-Kathedrale

Moskau - Basilius-Kathedrale

Moskau - Die Börse

Moskau - Die Börse

Moskau - Die Zaren-Glocke

Moskau - Die Zaren-Glocke

Moskau - Die Zaren-Kanone

Moskau - Die Zaren-Kanone

Moskau - Glockenspieler

Moskau - Glockenspieler

Moskau - Kaiser-Proklamation

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Moskau - Roter Platz

Moskau - Roter Platz

Moskau - Kaiserliches Opernhaus

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An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

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Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

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Reiterstandbild Peter I.

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Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

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Pferdeschlitten

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Ganz privat - Teestunde am Samowar

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Kosaken

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