Zweite Fortsetzung

Schon während der schwierigen ersten Monate der Bismarck'schen Ministerschaft (September 1862 bis Februar 1863) hatte der frühere preußische Gesandte Gelegenheit, die Festigkeit der Position zu erproben, die er sich in den Regierungskreisen der russischen Haupt- und Residenzstadt geschaffen hatte. Stolz auf ihre junge Freiheit und von dem herrschenden Geist pseudoliberaler Großsprecherei bis in die Knochen infiziert, gefielen unsere demokratischen Journale sich darin, in Sachen des preußischen Konflikts entschieden auf die Seite der Fortschrittspartei und der parlamentarischen Opposition zu treten und über den „Blut- und Eisenmann" gerade so absprechend und hochfahrend zu urteilen, wie ihre erleuchteten Berliner Kollegen. Mit innerem Behagen ignorierte man in den Kreisen unseres liberalen Presselöwentums die Intimität der Beziehungen des preußischen Premierministers zum allerhöchsten Hof und zum Reichskanzler; mannhafter Freimut und unerschrockene Gesinnungstüchtigkeit ließen sich nicht glänzender und nicht bequemer betätigen, als wenn man in den Chorus miteinstimmte, welchen das „gesamte gebildete Europa" über den junkerhaften Lenker der preußischen Politik angeschlagen hatte. Herr v. Bismarck hat von jeher die Schwäche gehabt, die Bedeutung der periodischen Presse zu überschätzen und Äußerungen derselben, die nicht in seinen Kram passen, wie ernste, ihm bereitete Hindernisse zu behandeln. Es genügte, dass Berliner Blätter sich gelegentlich darauf beriefen, dass man in dem „jugendlich aufstrebenden" Russland des „bauernbefreienden Zaren" über den „unseligen" Führer der „Reaktionspartei" gerade so ungünstig urteile wie in Berlin, damit Herr v. Bismarck durch seinen Gesandten nicht nur beim Kanzler, sondern auch beim Minister des Innern (dem obersten Chef der Pressverwaltung) freundschaftlich reklamieren und unter Berufung auf die (damals noch uneingeschränkte) Macht der kaiserlichen Präventiv Zensur bitten ließ, den Pressepöbel im Zaum zu halten. Dasselbe Ersuchen wurde an eine Anzahl hochgestellter Personen gerichtet, auf deren Geneigtheit man in Berlin rechnen zu können glaubte. Die Sache war aber nicht so einfach, wie der ehemalige preußische Gesandte sich gedacht haben mochte. Seit den Maifeuersbrünsten, die fast unmittelbar auf Herrn v. Bismarcks Übersiedelung nach Paris gefolgt waren, ganz besonders aber seit jenen September-Ukasen, welche die Umgestaltung der Justiz und die Begründung eines provinziellen Selfgovernments angekündigt hatten, befand die Moskau-Petersburger Presse sich in einer Erregung, die man sehr viel lieber der preußischen „Reaktion" als den heimischen Zuständen zugewendet sah. Die Zensur hatte die Zügel seit Jahren so lang hängen lassen, dass dieselben sich nicht sofort wieder straff anziehen ließen, am wenigsten wo es sich nicht ein Mal um ein russisches Interesse, sondern um die inneren Verhältnisse eines fremden Staates handelte. So gut war Herr v. Bismarck indessen bei seinen alten Freunden angeschrieben, dass diese ohne Rücksicht auf die obwaltenden Schwierigkeiten seinen Wünschen nach Kräften zu willfahren suchten; ein Circulair des Ministers wies die Zensoren an, auf eine den freundschaftlichen Beziehungen Russlands zu Preußen entsprechende maßvolle Besprechung der Berliner Landtagshändel hinzuwirken und private Einflüsse ließen sich's angelegen sein, auf den guten Willen der einflussreicheren und der „Gesellschaft" näher stehenden Journalisten hinzuwirken. Wenn auch nicht viel, so wurde doch etwas erreicht, wenn auch um den Preis einer Verstimmung einzelner „nationaler“ Schriftsteller gegen unsern „guten Freund und Nachbar".

Von all' diesen Kleinigkeiten war aber nicht mehr die Rede, als im Frühjahr 1863 der polnische Aufstand ausbrach und dem neuen Ministerpräsidenten Preußens Gelegenheit bot, durch Abschluss der bekannten Grenzkonvention nicht nur die gelobte Treue für Russland zu betätigen, sondern den kühnsten Wünschen unseres Gouvernements zuvor zu kommen. Fortan war Herr v. Bismarck nicht mehr der preußische Reaktionsminister und nicht mehr der Mann der sich gegen den heiligen Geist des Liberalismus aufgelehnt, sondern nur noch der getreue Nachbar und Freund, der sich in der Stunde der Gefahr als Mann von Wort und zugleich als scharfsichtiger Vertreter seiner eigenen und der russischen Interessen bewährt hatte. Die Moskauer Nationalen der Slawophilenpartei, in der Folge die tätigsten und begeistertesten Vorkämpfer der Russifikation des „Weichselgebietes“, waren die einzigen, die nicht sofort in den allgemeinen Chorus einstimmten; in den Tagen, da Iwan Aksakoff unverhohlen sein Bedauern darüber aussprach, in der polnischen Frage nicht sein letztes Wort sagen zu können, gab es spitzfindige nationale Politiker, welche in dem Abschluss der Grenzkonvention eine Falle sahen, die der schlaue preußische Minister der russischen und der slawischen Sache gestellt haben sollte. „Kommt der Wielopolski'sche Plan einer russisch polnischen Aussöhnung zu Stande“, so sollte Herr v. Bismarck (nach einer von Moskau aus kolportierten Version) einem seiner Vertrauten gesagt haben, „dann werden unsere slawischen Nachbarn all' zu mächtig und laufen wir Gefahr, dereinst Posen, am Ende gar das gesamte rechte Weichselufer an sie abtreten zu müssen; darum müssen wir mit der polenfeindlichen Partei in Russland gemeinschaftliche Sache machen und Russland dazu verführen, sich auf immer mit dem Polentum zu verfeinden". So scharfsinnig das auch klang — auf die Dauer war mit dieser Konjektur Nichts auszurichten: als die Moskau'sche Zeitung ihren gewaltigen Schlachtruf gegen Polen ausgestoßen und Preußens loyale Haltung als Akt echt Staatsmännischer Weisheit gelobt hatte, verstummte das Geflüster der slawophilen Superklugen und war über die polnische Frage und das Verhältnis zu Preußen das letzte Wort gesprochen. — Mochte es auch noch gelegentlich vorkommen, dass über Herrn v. Bismarcks innere Politik vom Golos oder der russ. Petersburg. Zeitung unliebsame Urteile gefällt wurden, — war auch nicht zu vermeiden, dass Preußens schleswig-holstein'sche Politik von der Mehrzahl unserer Journale im Sinne Dänemarks beurteilt wurde — im Großen und Ganzen stand das günstige Urteil über den Urheber der Konvention von 1863, über welches man zur Zeit der Gefahr einig geworden war, auch nach glücklicher Beseitigung derselben unveränderlich fest. — Man war bei uns politisch genugsam geschult, um sich zu sagen, dass so reale Verdienste um das russische Interesse, wie Herr v. Bismarck sie erworben, nicht unbelohnt bleiben dürften und dass die dänische Angelegenheit für Russland am Ende keine entscheidende Bedeutung habe.


Ein vollständiger Umschwung trat indessen nach den Ereignissen von 1866 ein. Der Golos, der sich schon im Jahr 1865 als besonders eifriger Dänenfreund geriert hatte, sprach zuerst aus, dass die Schlacht von Sadowa ein verhängnisvolles neues Kapitel der europäischen Geschichte eingeleitet habe und dass die unaufhaltsam gewordene Einigung Deutschlands eine Gefahr für Russland bedeute. Ihm stimmten mit beinahe alleiniger Ausnahme der russ. Petersb. Zeitung sämtliche große Journale beider Hauptstädte zu und die heftigsten Angriffe gegen den seiner Zeit so hochgepriesenen preußischen Minister fanden jetzt die dankbarsten und eifrigsten Leser. Die bekannte Antipathie der Königin Olga von Württemberg gegen Alles was den preußischen Namen trug*) und des Großfürsten Konstantin zeitweilige Parteinahme für seinen Schwager, den entthronten König Georg von Hannover, trugen das Ihrige dazu bei, um das Feuer der gegen Herrn v. Bismarck entzündeten Feindseligkeit zu schüren und die öffentliche Meinung gegen den plötzlich emporgekommenen Nachbarstaat aufzuregen. Vor Allem zeichnete die Armee sich durch unverhohlenen Neid über die preußischen Erfolge aus; so herzlich man den verhassten Weißröcken die im Jahr 1859 durch Frankreich empfangene Züchtigung gegönnt hatte, der sechswöchentliche Siegeszug, der die preußische Armee bis vor die Tür Wiens führte, war allen national fühlenden Herzen ein Gräuel und ein Ärgernis. Die günstigen Berichte, mit denen die im preußischen Hauptquartier weilenden Offiziere von der Suite des russischen Militärbevollmächtigten die offizielle Chronik der böhmischen Kriegsgeschichte begleiteten, trugen nur dazu bei, die Verstimmung der jüngeren Offiziere über Preußens beispiellose Erfolge zu steigern. Den Hauptangriffspunkt für die Petersburger und Moskauer Feinde und Neider der Bis marck'schen Politik bildete aber das Zusammentreffen der Vergrößerung Preußens mit der seit 1866 zunehmenden Unzufriedenheit der Deutschen in den Ostseeprovinzen.

*) Wenige Wochen vor Ausbruch des deutsch-österreichischen Krieges feierte das Kaiserpaar das Fest seiner silbernen Hochzeit, das mit großem Pomp begangen wurde. Zu dieser Feier waren die beiden im Auslande lebenden Schwestern des Monarchen, die in Quarto bei Florenz weilende Großfürstin Marie und die Königin Olga nach Petersburg gekommen. Da der Krieg bereits damals unvermeidlich geworden zu sein schien, wandte die Königin ihren ganzen Einfluss auf, um den Kaiser und den Reichskanzler für die Sache Österreichs und der Mittelstaaten zu gewinnen. An der entscheidenden Stelle abgewiesen, wusste die intrigante Fürstin doch sehr zahlreiche einflussreiche Würdenträger zu ihrer Auffassung zu bekehren und das bereits vorhandene Misstrauen gegen den preußischen Ehrgeiz zu schärfen.

Obgleich die in diesem Grenzlande herrschend gewordene Verstimmung nur die Frucht der Politik war, welche die Miljutin und Selénny inauguriert hatten und obgleich jeder Zurechnungsfähige sich sagen musste, dass weder in Berlin, noch in Riga oder in Mitau jemals auch nur einen Augenblick an die Möglichkeit einer Verschiebung der preußisch-russischen Grenze gedacht worden war, erging die Leichtfertigkeit und Böswilligkeit gewisser journalistischer Wortführer sich in den abgeschmacktesten Märchen von geheimen Plänen, welche in Berlin gegen die Sicherheit des befreundeten Nachbarstaates geschmiedet werden sollten. Jetzt mit einem Mal erinnerte man sich, dass Graf Keyserlingk, der Kurator des Dorpater Lehrbezirks und ehemalige esthländische Landrat, ein Jugendfreund des norddeutschen Reichskanzlers sei; dass man den Baron Uexküll und einige andere livländische Barone häufig im Bismarck'schen Hause gesehen hatte und dass im Jahre 1865 das Gerücht gegangen war, der ehemalige preußische Gesandte in Petersburg habe dem Großfürsten Konstantin bei Gelegenheit eines Berliner Hofballs den Rath gegeben, den konfessionellen Händeln in den Ostseeprovinzen durch Aufhebung der Vorschriften über die gemischten Ehen ein Ende zu machen. Dinge, für deren Geringfügigkeit man Jahre lang den richtigen Maßstab besessen, wurden jetzt mit einem Male zu Symptomen einer bevorstehenden Katastrophe aufgebläht und bloß der Unzugänglichkeit des Kaisers für Insinuationen solcher Art und der beispiellosen Geduld und Vorsicht, die Herr v. Bismarck den Feindseligkeiten unserer Presse entgegensetzte, war zuzuschreiben, dass der Plan, Misstrauen zwischen Petersburg und Berlin zu säen, ohne Folgen blieb. Einzelne Journale, wie namentlich der (seitdem von seinem Preußenhass gründlich kurierte) Golos, sahen es in den Jahren 1868 und 1869 förmlich darauf ab, die Berliner Presse zu Angriffen gegen Russland herauszufordern, indem sie von dem in Wahrheit ängstlich gefürchteten Nachbarstaat mit affektierter Geringschätzung sprachen, den leitenden Minister desselben davor warnten, das Vasallenverhältnis zu lockern, in welchem Preußen seit den Zeiten des Kaisers Nikolaus zu Russland stehe u. s. w. Die verschiedenen ziemlich unglücklichen Versuche, welche in Petersburg lebende preußische Diplomaten machten, um Herrn Katkoff und andere publizistische Haupthähne zu versöhnlicheren Anschauungen zu stimmen (der damalige Militärbevollmächtigte Herr v. Schweinitz bot der Moskauer Zeitung gegen das Versprechen einer freundlicheren Haltung, bestinformierte Berliner Korrespondenten an), schienen nur Öl ins Feuer gießen zu sollen, weil sie in perfidester Weise an die große Glocke gehängt wurden — kurz die Schwierigkeiten, in die man das preußische Kabinett zu verwickeln suchte, waren so beträchtlich, dass lediglich ein so genauer Kenner des Petersburger Terrains, wie Herr v. Bismarck, ihnen gewachsen bleiben konnte.

Dass die Mehrzahl unserer großen Journale beim Ausbruch des letzten Krieges für Frankreich Partei ergriff; dass die nationalen Wortführer auch nach der Katastrophe von Sedan der einmal eingeschlagenen Richtung treu blieben ; dass gewisse Leute ihr Möglichstes taten, um die Zwecke zu unterstützen, welche Herrn Thiers zu uns führten; dass man dem großen Publikum trotz der Unterstützung, die Preußen und die deutsche Presse der Gortschakoff'schen Kündigung des Pariser Vertrages zu Teil werden ließ, Wochenlang einzureden suchte, Österreich und England würden in ihren demonstrativen Protesten gegen das russische Vorgehen unter der Hand von deutscher Seite unterstützt, — das Alles ist ebenso bekannt, wie die warme Sympathie, welche der Kaiser vom ersten Beginn des Krieges an dem Waffenglück seines Oheims bewies. Seit Alexander II. sein bekanntes „djäda maladèz“ (mein Oheim der tüchtige Kerl) gesprochen, war in den maßgebenden Kreisen unserer Generalität der einzige Gesichtspunkt für die ungeheuren Umwälzungen, welche das Gleichgewicht des Weltteils umgestalteten, — die alte preußisch-russische Waffenbrüderschaft; es gehörte in dieser, freilich eng begrenzten Sphäre, zum guten Ton, gerade so zu reden, als sei die preußische Armee von 1870 in der Tat nur die „russische Avantgarde“, zu welcher eine bekannte Phrase Friedrich Wilhelms IV. sie im Jahre 1853 machen gewollt. Nicht rasch und nicht ausführlich genug konnten die Berichte vom Kriegsschauplatz beschafft werden, für welche das preußische Hauptquartier und Prinz Reuss übrigens noch besser zu sorgen wussten, als Graf Golenitschew-Kutusoff und der zum Flügeladjutanten ernannte Obrist V. Doppelmair; jedes Detail der Truppenaufstellung wurde mit leidenschaftlichem Eifer diskutiert, über die Haltung der einzelnen preußischen Truppenkörper und Regimenter so genau Buch geführt, als gelte es eine künftige Verwendung derselben für die Interessen des heiligen Russland. Wie ein junger Lieutenant konnte der sonst so verschlossene, apathisch dreinsehende Monarch sich freuen, wenn eines „seiner“ Regimenter neue Lorbeeren gepflückt, wenn einer der ihm bekannten Offiziere eine Auszeichnung erhalten hatte. An dem abendlichen Kartentisch Sr. Majestät war damals buchstäblich von Nichts als den neuen Wendungen die Rede, welche diese merkwürdigste aller Kriegsgeschichten genommen und des Kaisers bekannte Phrase bei dem Eingehen neuer Nachrichten (thschudnoje djélo, d. h. eine merkwürdige Sache) , galt nicht selten Meldungen, die, wenn sie heimischen Interessen gegolten hätten, keiner Silbe aus dem Allerhöchsten Munde gewürdigt worden wären. Kein seltsameres Schauspiel konnte es geben, als diesen für das preußische Kriegsglück jugendlich begeisterten Monarchen in Mitten einer Bevölkerung, die jede Frankreich ungünstige Wendung der Geschicke mit kaum verhehltem Bekümmernis aufnahm, die sich alle Mühe gab, ihre von der kaiserlichen abweichende Auffassung der Lage in Wort und Schrift zum Ausdruck zu bringen ! Nur der geborene, in seinem Herrschergefühl keinen Augenblick beirrte, absolute Monarch, konnte so unbekümmert um die gute oder böse Meinung der Stimmführer seines Volks (das eigentliche Volk war wie immer ein passiver Zuschauer) die Wege gehen, die ihm gutdünkten, und mit dem Zucken seiner Braunen die Sympathien zum Schweigen bringen, welche nicht nur in vielen seiner Diener, sondern auch in seinem Sohne für die dreifarbige französische Fahne lebten. Freilich standen die älteste Dame der kaiserlichen Familie, die Großfürstin Helene und die einflussreichsten Personen des Hofs und der Ministerien Graf A. W. Adlerberg, die beiden Grafen Schuwaloff (der Oberhofmeister und Graf Peter, der Chef der dritten Abteilung), Fürst Gortschakoff, Walujeff, der Oberjägermeister Baron W. K. Lieven, v. Reutern, Graf Heyden u. A. zu der Auffassung ihres Kaisers, — allerdings ohne es Sr. Maj. an Begeisterung für die Sache „unserer Alliierten“ gleich tun zu können.

Bei so entschiedener Parteinahme für den Sieger von Sedan, war es für den Kaiser wie für den Hof selbstverständlich; dass der lang verheißene, schließlich auf den April des vorigen Jahres angesetzte Besuch Kaiser Wilhelms wie eine Staatsaktion ersten Ranges behandelt und vorbereitet wurde. Schon als Prinz Friedrich Karl und Graf Moltke im Dezember 1872 behufs Teilnahme an dem Georgsfeste nach Petersburg gekommen waren, hatte der Zar den Repräsentanten der preußischen Armee eine Aufmerksamkeit erwiesen, die dem Hof und Allem, was sich zur Gesellschaft zählte, eine unweigerlich liebenswürdige Haltung zur Pflicht machte*). Beim Herannahen des Tages, der den „djäda-maladez“ und dessen Ruhmesgenossen nach Petersburg führen sollte, war der hohe, melancholisch apathisch aussehende Herrscher des Winterpalais wie ausgewechselt: so erregt, so um das Einzelste des Empfangszeremoniells bekümmert und von einem Gedanken beherrscht, hatten Adlerberg und die übrigen Generale der Suite den Kaiser seit Jahren nicht gesehen, wie in den Tagen, die darüber bestimmen sollten, ob die Berliner Ärzte dem Kaiser-König den ersehnten Besuch gestatteten oder nicht.

*) Auf die Stimmung der Moskau’schen Zeitung Preußen gegenüber, ist der Besuch von entschiedenem Einfluss gewesen, den Prinz Friedrich Karl während seines Aufenthaltes in Moskau dem Lieblingskind der beiden publizistischen Dioskuren Katkoff und Leontjeff, dem „Lyceum Sr. K. Hoheit des weiland Großfürsten-Thronfolger Nikolai Alexandrowitsch“ machte. — Es bedurfte der Sachunkenntnis deutscher Zeitungsschreiber, damit Katkoffs gegen den Prinzen getaner Ausspruch: „er sei stets ein Verehrer deutscher Bildung, nie ein prinzipieller Gegner Preußens, sondern nur ein Zweifler daran gewesen, ob auch das zu Deutschland gewordene Preußen Russlands Freund bleiben werde“, für merkwürdig gehalten wurde. — Sei es, dass der berühmte Publizist durch seinen fürstlichen Besuch wirklich von der Grundlosigkeit seiner Befürchtungen überzeugt, sei es, dass seine Eitelkeit bestochen worden — die Moskauer Zeitung hat seit dem Dezember 1872 ihr Urteil über Preußen wesentlich modifiziert.

Zehn Mal am Tage trat der Kaiser an das Wetterglas, um sich davon zu überzeugen, ob die Witterung das Reiseprojekt fördern oder hindern werde; je nachdem das Barometer fiel oder stieg, zeigte die Stirn Alexanders II. sich gefurcht oder glatt, war der Kaiser still und übellaunig oder aufgeräumt und gesprächig — bis zum letzten Augenblick sah man dem Monarchen die Besorgnis an, der Besuch; auf den er sich so sehnlich gefreut hatte, werde durch die Ungunst des Himmels zurückgehalten oder doch an dem ihm gebührenden glänzenden Einzug verhindert werden. Alle Einzelheiten des den Gästen zu bereitenden Empfangs hatte der Kaiser (dessen Gleichgültigkeit gegen Festivitäten sonst nur unterbrochen zu werden pflegt, wenn das Herkommen verletzt wird) persönlich mit dem Oberpolizeimeister seiner Residenz General Trepoff geordnet; sein ausdrücklicher Befehl hatte vorgeschrieben, dass preußische und deutsche Fahnen neben den russischen die Balkons und Fenster der Häuser an dem Wege vom Warschauer Bahnhof zum Winterpalais schmücken sollten, auf seine Anweisung hatte die Polizei hunderte von Büsten des deutschen Kaisers*) anschaffen und den Hausbesitzern zur Verfügung stellen lassen; nicht nur die Treibereien sämtlicher Kunstgärtner der Residenz, auch die kaiserlichen Gartenanlagen wurden geplündert, um Fenster und Türen mit dem Grün zu schmücken, das unser karger Norden erst beim Beginn des Sommers hergibt — weder Kosten noch Mühen sollten gescheut werden, um dem Einzuge des deutschen Kaisers in die Hauptstadt seines Neffen und Freundes einen noch nicht dagewesenen Glanz zu verleihen. Kaiser Alexander zählte buchstäblich die Stunden bis zur Ankunft seiner Gäste und hielt Tagelang seine gesamte Umgebung mit Fragen und Aufträgen in Atem, die man bei ihm, dem gewöhnlich passiven, schon durch seinen Gesundheitszustand an größerer Ausgiebigkeit verhinderten Manne; längst nicht mehr gewohnt war. Reiselustig und mobil ist dieser Fürst (der in Petersburg immer nur kurze Zeit hintereinander weilt) immer gewesen und so verstand es sich von selbst, dass er schon Tags vor der Ankunft der Berliner Gäste nach Gatschina ging, um ihnen hier den ersten Empfang zu bereiten.

*) Diese Büsten waren sämtlich zu klein geraten und verfehlten aus diesem Grunde des gewünschten Eindrucks; von der Polizei verteilt, waren sie nach einem Model gegossen, das den Größenverhältnissen eines massigen Zimmers, nicht denen der Straße entsprach.