Zweite Fortsetzung

Während der Jahre vom österreichischen bis zum französischen Kriege (1866 bis 1870) stand der Großfürst so direkt unter dem Einfluss der Verstimmung über die Vertreibung des ihm verschwägerten Königs von Hannover, dass es den Gegnern Preußens und der russischdeutschen Allianz leicht wurde, ihn zu Angriffen gegen dieselbe zu bewegen. Nicht ohne Grund führte man die leidenschaftliche Sprache, welche die Moskauer Zeitung in den Jahren 1868 und 1869 gegen den deutschen Kanzler führte, auf den Einfluss des noch vor wenigen Jahren mit Katkoff heftig verfeindeten Ex-Statthalters von Polen zurück. Erst als ein in den höheren Kreisen der Gesellschaft vielfach besprochener Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung über die russischen Verbündeten des Hietzinger Hofes erschienen war, hatte es mit diesen kleinlichen Intrigen ein Ende. Seit 1870 hat der Großfürst mit der neuen Ordnung der deutschen Dinge gerade so Frieden geschlossen, wie früher mit den polenfeindlichen Nationalen. — Dass es seine Sache nicht ist, nach bestimmten Prinzipien zu urteilen und zu handeln, dass er gerade so wie die Mehrzahl unserer vornehmen Herren ein Gelegenheits-Politiker ist, der sich durch jeweilige Einflüsse und Stimmungen beherrschen lässt, hat Großfürst Konstantin durch die lange Reihe seiner Wandlungen außer Zweifel gesetzt. Die Vorstellungen von seiner Selbstständigkeit und außerordentlichen Bedeutung sind wesentlich dadurch erzeugt worden, dass er die jeweilig aufgegriffenen Pläne mit mehr Energie und stärkerer persönlicher Initiative, wohl auch mit größerem Geschick betrieben hat, als fürstliche Herren sonst zu tun pflegen. Persönlich ist der Großfürst wenig beliebt, weil er für unzuverlässig und unberechenbar gilt. Immerhin spielt sein Hof eine größere Rolle, als die übrigen „kleinen" Hoflager unserer Residenz. Das ist schon durch die Mannigfaltigkeit seiner Interessen bedingt; er ist eifriger Musiker und Quartettspieler und steht mit zahlreichen Künstlern in Verbindung; als Seefahrer und Geograph sieht er den Präsidenten der Akademie der Wissenschaft, Grafen Lütke, und andere Gelehrte häufig im Marmorpalais; als Protektor der slawischen Wohltätigkeits-Comités, und der Gesellschaft für religiöse Aufklärung hat er, wie erwähnt, mit allen möglichen Publizisten und politischen Dilettanten zu tun; seine früheren Verbindungen mit den europäischen Liberalen sichern dem Großfürsten endlich den Zusammenhang mit Herrn v. Reutern und dem Grafen Pahlen, denen er in das Ministerium geholfen. Freilich bedingt schon die große Zahl und Mannigfaltigkeit dieser Verbindungen, dass von kontinuierlichen Einwirkungen des ehemaligen Präsidenten des Emanzipations-Comités; Ex-Statthalters von Polen; Reichsrats-Präsidenten und Großadmirals wenig zu spüren ist — Das wichtigste der dem Großfürsten neuerdings übertragen gewesenen Commissa; ist der Vorsitz im Reichrats Comité zur Regulierung der allgemeinen Wehrpflicht gewesen; aber auch hier haben andere Leute die Hauptarbeit getan und die maßgebenden Entscheidungen gefällt.

Die beiden jüngsten Söhne des Kaisers Nikolaus, Michael und Nikolai Nikolajewitsch I. , haben nach politischen Rollen und Ausnahmestellungen niemals gestrebt und schon aus diesem Grunde dem älteren Bruder als Folie gedient. Der Großfürst Nikolai ist Chef des Petersburger Militärbezirkes und des Geniewesens; in beiden Eigenschaften hat er das Glück gehabt, von tüchtigen Adjunkten unterstützt zu werden. Die Geschäfte des Petersburger Militärbezirkes besorgt sein Adjutant General v. Tideböhl, ein Ingenieur -Offizier, der sich während des Krimkrieges durch Bildung und Tüchtigkeit emporgearbeitet hat und eines verdienten Rufes genießt. Der faktische Leiter des Ingenieur- und Befestigungswesens ist der berühmte Verteidiger von Sebastopol, General Eduard v. Tottleben, ein Kaufmannssohn aus Riga, der beim Ausbruch des Krieges simpler Stabscapitän vom Genie war und heute zu den geachtetsten; uneigennützigsten und einflussreichsten Gliedern der russischen Generalität gehört. Mit diesen Männern gut auszukommen und ihrer Tätigkeit; wo immer möglich, Vorschub zu leisten, ist ein Verdienst des Großfürsten Nikolai, das nicht unterschätzt werden darf. Im Übrigen ist von dem jüngsten Sohne des Kaisers Nikolaus herzlich wenig die Rede — höchstens dass die Gesellschaft sich von Zeit zu Zeit mit den Theaterprinzessinnen beschäftigt, denen Se. kaiserliche Hoheit ihre Gunst zuwendet und die, wie gegenwärtig die Tänzerin Kisslowa, gewöhnlich stadtkundig sind.


Der Großfürst Michael lebt seit einer Reihe von Jahren, seinem längst gehegten Wunsch gemäß, als kaukasischer Statthalter in Tiflis. Er gilt für außerordentlich tätig und gut intentioniert, hat in seinem neuen Verwaltungsgebiet bis jetzt aber keine nennenswerten Resultate erzielen können. Die Ausnahmestellung, welche er als kaiserlicher Bruder und als mit weiten Vollmachten versehener Regent eines eigenartigen Landes einnimmt, verwickeln den Großfürsten in unaufhörliche Händel mit den Ministerien, welche den Kaukasus ihrer Kompetenz und den allgemeinen Reichsgesetzen zu unterstellen wünschen. Bis jetzt ist es dem Statthalter gelungen, seine Sonderstellung zu wahren und mit Ausnahme des Chefs der Kontroll-Verwaltung sämtliche Militär- und Zivilbehörden des kaukasischen Gebietes unter seiner Botmäßigkeit zu behalten. Die Geschäfte sollen dabei ebensowenig gewonnen haben, wie bei dem unbedingten Vertrauen, das der Großfürst seinem Adlatus, dem Baron Nicolay, einem hartköpfigen Finnländer, schenkt. In Petersburg hört man vielfach über die Eifersucht spotten, mit welcher der kleine Tifliser Hof über seine Hoheitsrechte wacht. Gegenstand ernsterer Klagen sind die Cliquen und Coterien, welche das kaukasische Beamtentum beherrschen. Da gibt es eine polnische, eine grusinische, eine armenische u. s. w. Coterie, und jede derselben ist in irgend einem Dienstzweige so einflussreich, dass sie fremde, geschweige denn selbständige Elemente nicht aufkommen lässt. Freilich sind die Klagen über die Desorganisation des russischkaukasischen Beamtentums ebenso alt, wie die Gründe derselben mannichfaltig. Als Hauptgrund dieser Erscheinung ist wohl der immerwährende Wechsel der Systeme anzusehen, mit denen in dieser schon an und für sich schwierigen Landschaft von jeher experimentiert wurde. Gerade wie in Algier wechselten in Tiflis und Eriwan Militär- und Zivilverwaltungen, Versuche mit russischen und einheimischen, mit , grusinischen und armenischen Beamten einander unaufhörlich ab, ohne das Übel bei der Wurzel fassen zu können. Vergeblich suchte man bald in der Diktatur allmächtiger Militär-Oberbefehlshaber, bald in der Einsetzung streng bürokratisch geordneter Zivilverwaltungen das Heil; vergeblich strebte Kaiser Nikolaus der Bestechlichkeit und dem Eigennutz der Bezirks-Gouverneure, Militär-Befehlshaber dadurch ein Ende zu machen, dass er dem Schwiegersohn des Statthalters Baron Bösen, Fürsten Dadian, im J. 1837 vor offener Front die goldenen Achselschnüre abreißen und diesen gefürchteten Mann als Strafgefangenen abführen ließ; vergeblich erteilte der Kaiser dem Geheimrat v. Hahn und dessen deutschem Gefolge die ausgedehntesten Vollmachten — Käuflichkeit und Nepotismus waren allzu tief in den Gewohnheiten des Landes und in dem orientalischen Charakter seiner Bewohner gegründet, und schon wenige Jahre nach dieser Katastrophe musste die frühere Militärverwaltung wiederhergestellt werden.

Seit der Gefangennahme Schamyls und der sogenannten Pazifikation des Landes ist die bürgerliche Ordnung wenigstens auf dem Papiere wieder da — in Wahrheit stecken die Gewohnheiten des Kriegszustandes Regierten und Regierenden noch immer tief in den Gliedern. Der Verwaltung des Großfürsten Michael sind durch zwei Umstände besondere Schwierigkeiten bereitet worden: durch die Auswanderung mehrerer hunderttausend in die Türkei gepilgerter Tscherkessen, deren Habe von habgierigen Beamten (welche heimlich die Auswanderung schürten) übernommen wurde, und durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, welche in diesem rohen Lande mit dreifachen Schwierigkeiten verbunden gewesen ist. Die Million Silberrubel, welche der Staat den georgischen Fürsten als Entschädigung zahlte, ist von diesen mit echt orientalischem Leichtsinne durchgebracht worden — die Emanzipierten wissen mit ihrer Freiheit nichts anzufangen und beide Teile geraten alle Augenblicke in die schwersten wirtschaftlichen Nöten, deren Abhilfe natürlich von der Regierung erwartet wird.

Nominell ist Großfürst Michael noch immer Chef der gesamten russischen Artillerie, die Geschäfte derselben werden indessen seit Jahren vom General Baranzoff, einem tüchtigen Fachmanne, besorgt, der sich wesentlich nach preußischen Mustern richtet, beständig in Berlin tüchtige Agenten hält und über die Feldzüge von 1866 und 1870 außerordentlich genau Bescheid wissen soll*).

*) Über den österreichischen wie über den französischen Krieg wurde Baranzoff durch den vor zwei Jahren verstorbenen Militär-Agenten, Flügel-Adjutanten und Obersten v. Doppelmair vortrefflich unterrichtet. Herr v. D., der die großen Ankäufe bei Krupp vermittelte und mit den Offizieren des Berliner Generalstabes jahrelang im engsten Zusammenhange stand, hatte beide Feldzüge in der Suite Kaiser Wilhelms mitgemacht und unseren militärischen Fachjournalen vorzügliche Berichte über dieselben gesendet. Als Kenner der neueren deutschen Kriegsgeschichte und tüchtiger Militär-Schriftsteller ist außerdem der Oberst Dragomiroff viel genannt worden.