Erste Fortsetzung

Nach Petersburg zurückgekehrt, stand der Großfürst längere Zeit an der Spitze jener „europäischen Liberalen“ die nach ihm Konstantinowzen genannt wurden, während der Modejahre des Liberalismus mit konstitutionellen Velleitäten kokettierten und es mehr noch der herrschenden Strömung damaliger Zeit, als dem Einflusse ihres Protektors zu danken hatten, dass sie wiederholt in höhere Ämter geschoben wurden. Hierher gehörten Golownin, von 1862 bis 1866 Unterrichtsminister; Herr v. Reutern seit 1863 Finanzminister; Graf Pahlen, dem nach dem Sturz des unbedeutenden Staatssekretärs Samjätin das Justizministerium übertragen wurde, u. A. m. ; auch mit Schedo –Ferroti, dem befähigsten Schriftsteller dieser Richtung, stand der Großfürst jahrelang in engen Beziehungen*). Dass der Großfürst im Jahre 1862 als Statthalter nach Polen gesendet wurde, um den wahren Regenten dieses Landes, den Marquis Wielopolski, mit der Autorität seines Namens zu decken, hatte er derselben „liberalen“ Reputation zu danken, die ihn 1857 an die Spitze des ,,Hauptcomités“ gestellt hatte.

*) Schedo-Ferroti, der im Jahre 1872 zu Dresden verstorbene Verfasser der „Etudes sur l'avenir de la Russie“, hieß als Privatmann Theodor Baron Fircks. Im Jahre 1811 als jüngerer Sohn eines kurländischen Adelsgeschlechtes geboren, in der Petersburger Schule für Kommunikationswesen erzogen, nahm Fircks in den Fünfziger-Jahren als Oberst vom Geniewesen den Abschied, um längere Zeit eine Stellung im Zollwesen zu bekleiden. Durch zwei französisch geschriebene geistvolle Abhandlungen über die reformatorischen Aufgaben der russischen inneren Politik wusste er die Aufmerksamkeit des Finanzministers zu erregen, der ihn der Gesandtschaft in Brüssel als Berichterstatter über ökonomische, merkantile und technische Angelegenheiten attachieren ließ. Hier trat Fircks nicht nur mit dem Gesandten Fürsten Orloff und anderen Führern der liberalen rassischen Adelspartei, sondern auch mit hervorragenden französischen und belgischen Publizisten in Beziehung; besonders nahe hat ihm Proudhon gestanden. Bis zum Umschlag von 1863 der beliebteste und einflussreichste Schriftsteller der gemäßigten Reformpartei, namentlich wegen seiner „Lettre à Mr. Herzen" und wegen seines beredten Plaidoyers für menschliche Behandlung der altgläubigen Sektierer viel genannt, fiel Fircks im Jahre 1864 wegen seines energischen Widerstandes gegen die Murawieff-Miljutin'sche Politik der Polenvernichtung bei der herrschenden Nationalpartei so vollständig in Ungnade, dass er seiner Stellung enthoben und pensioniert wurde. Wochenlang verketzerte die Moskauer Zeitung den Brüsseler Publizisten alltäglich als den gefährlichsten Feind Russlands, als den Urheber aller „separatistischen Intrigen“ zwischen dem kaspischen und dem baltischen Meere. Obgleich die Schriften: „Que fera-t-on de la Pologne?*' und ,,Le nihilisme en Russie“ das größte Aufsehen erregten und obgleich Fircks zur Verteidigung seiner Sache in der Folge ein eigenes Journal: Echo de la presse Russe (einen russischen Galignani’s Messenger) begründete, musste er unterliegen. Nach seiner Entlassung wendete er sich nach Dresden, wo er mehrere Jahre schriftstellerisch tätig war und insbesondere der Umgestaltung der russischen Agrarverfassung, beziehungsweise der Modifikation des ungeteilten Gemeindebesitzes seine Aufmerksamkeit zuwendete. Ein rasch zur Entwicklung gelangtes Magenleiden machte der unermüdlichen Tätigkeit dieses geistvollen und dabei höchst styl- und sprachgewandten Publizisten (er drückte sich gleich vollkommen deutsch, französisch und russisch aus) ein unerwartet frühes Ende. Der Name D. K. Schedo-Ferroti ist ein Anagramm aus den Worten Théodore de Fircks, das der Verstorbene ursprünglich im Scherz zusammengestellt und dann als Schriftstellernamen geführt hatte.


Polen erfreute sich damals der entschiedenen Gunst der an das Ruder gelangten liberalen Parteien; die unheimliche Aufregung, welche sich seit 1860 dieses Landes bemächtigt hatte, wurde der Unfähigkeit der verschiedenen einander rasch ablösenden Statthalter (Fürst Gortschakoff, General Suchasonett, Graf Lambert) zugeschrieben und allgemein dem Wahne gehuldigt, es werde nur einer tüchtigen Dosis zeitgemäßen Liberalismus bedürfen, um die Ruhe des Königreichs wieder herzustellen und dasselbe zum Ausgangspunkte der gehofften konstitutionellen Ära des Reichs zu machen. Statt diesen hochgespannten Erwartungen zu entsprechen, ging die Sache des neuen Statthalters vom ersten Tage an so schief wie nur immer möglich. Wenige Wochen nach dem Eintreffen des Großfürsten in Warschau wurde auf diesen und auf den Marquis geschossen, sechs Monate später brach der durch Wielopolskis bekannten Missgriff gezeitigte wahnwitzige Aufstand aus. Bis zum Oktober 1863 blieb Konstantin Nikolaje witsch in Warschau, auch nach der Ernennung Bergs zum Statthalter-Adlatus an der unbegründeten Hoffnung festhaltend, es werde ihm gelingen, die Wiederaufrichtung des Programms durchzusetzen, das die Raison d'être seiner Mission gewesen, und doch außer Stande, für die Durchführung desselben das Geringste zu tun.

Tatsächlich war die Regierung längst in die Hände der militärischen Districts-Befehlshaber übergegangen, unter welche das insurgierte Land verteilt worden, und Niemand konnte begreifen, was den Großfürsten vermöge, auf seinem verlorenen Posten auszuharren. Man wusste wohl; dass der Sohn des Kaisers Nikolaus für das Polentum und die polnische Statthalter-Rolle dieselben Neigungen hege, wie weiland sein gleichnamiger Oheim, der 1830 zu jedem Siege der einst von ihm kommandierten Polen-Armee geschmunzelt haben soll: aber man hielt es für unmöglich, dass ein Mann seiner Stellung die Situation falsch genug beurteile, um an eine Rückkehr zum Wielopolski’schen Plane zu glauben, und doch war dem so. Während das ganze Land in Waffen starrte, die Miljutin, Fürst Tscherkassky und Genossen nur der Wiederherstellung äußerer Sicherheit und Ruhe harrten, um das in Litauen befolgte System nach Warschau zu importieren, war der Großfürst-Statthalter mit dem Bau von Luftschlössern beschäftigt, für deren Fundamentierung er mit unvergleichlicher Geduld den geeigneten Zeitpunkt abwartete. Das klang so unglaublich, dass die allzeit geschäftige Fama auf die Gerüchte zurückgriff, welche während der Jugendzeit des Kaisersohnes in Umlauf gesetzt worden: in den Salons der Petersburger und Moskauer Nationalen wurde von verbrecherischen Plänen geflüstert, mit denen der „dämonische“ Geist des Großfürsten sich trage und die keinem geringeren Ziele als der Herstellung eines selbstständigen Polenreiches unter König Konstantin I. gelten sollten. Während der Statthalter sich in Wahrheit sträflich langweilte, Vormittags nutzlose Revuen und gegenstandslose Staatsratssitzungen abhielt, Abends mit Wielopolski Tee trank und am Flügel phantasierte, dichtete die krankhaft überreizte Phantasie der Katkoff und Genossen dem Manne, den sie für das größte Hindernis ihrer russificatorischen Pläne hielt, geheime Beziehungen zu den Führern der „Weißen" und plumpe Versuche einer Popularitäts-Hascherei an, die, selbst wenn sie stattgefunden hätten, ungefährlich und lächerlich geblieben sein würden. Die Warschauer Korrespondenten der Moskauer Zeitung (russische Beamte, die sich darüber ärgerten, dass sie den „loyal gebliebenen" polnischen Magnaten gesellschaftlich nachgesetzt wurden) belauerten den Großfürsten auf Schritt und Tritt, führten über seine Spazierfahrten von und nach Lazienki und über seine Besuche bei Wielopolski Buch und stellten tiefsinnige Betrachtungen über die Uniformröcke und Mützen des Großfürsten an, die eine bedenkliche Vorliebe für die polnischen Nationalfarben verraten sollten. Die Gewohnheit, den ältesten Bruders des Kaisers falsch zu beurteilen, ihn für den Träger tiefdurchdachter, unheimlicher Pläne, für eine Art Richard III. zu halten, hatte sich bei dem großen Publikum so tief eingefressen, dass die albernen Märchen der Moskauer Zeitung schließlich auch in der „Gesellschaft" Gläubige fanden und von Leuten nachgesprochen wurden, die sonst wohl Bescheid wussten.

Der Kaiser, der sich stets als großherziger und vertrauensvoller Bruder bewiesen hat, wusste natürlich, was von diesen Albernheiten zu halten sei, und blieb jedem Misstrauen fernem aber auch ihm wurde des taktlosen Ausharrens seines Bruders, das in Polen wie in Russland den falschesten Vorstellungen Vorschub leistete, endlich zu viel. Da der Großfürst in unbegreiflicher, wesentlich auf Eitelkeit beruhender Verblendung die ihm erteilten Winke nicht verstehen wollte, wurde er schließlich (Oktober 1863) in einem gnädigen Reskript, das seiner polnischen Tätigkeit wohlwollendste Anerkennung zollte und die Wiederbenützung derselben einer unbestimmten Zukunft vorbehielt, abberufen.

Bei der Herrschaft, welche die Nationalpartei damals übte, und nach den Anfeindungen, welche er in den Organen derselben erlitten, hielt der Großfürst Konstantin, der einmal in eine politische Ausnahmestellung geraten war, es für unangemessen, in die von seinen Gegnern dominierte Residenz zurückzukehren. Er reiste in die Krim, dann nach Deutschland und nahm an den seiner Gemahlin verwandten Höfen von Altenburg und Hannover einen längeren Aufenthalt, um erst Ende des Jahres 1864 wieder in Petersburg einzutreffen. Dass dieses zwölfmonatliche Reise-Intermezzo nicht; wie vielfach geglaubt wurde; als Vorbereitung zur Rolle des Frondeurs und Führers der unterlegenen „europäischen“ Partei gemeint gewesen, stellte sich indessen sofort nach der Heimkehr des Großfürsten heraus. Derselbe zeigte sich völlig bereit, mit der veränderten Ordnung der Dinge so gut und so anständig wie immer möglich Frieden zu schließen und sich mit einer sekundären Stellung zufrieden zu geben. Den ihm im Januar 1865 übertragenen Vorsitz im Plenum des Reichsrates nahm er bereitwillig an, obwohl er wusste, dass die Mehrheit desselben seiner polnischen Politik nichts weniger als günstig gewesen war und dass die eigentliche Geschäftsleitung in den Händen des (seitdem verstorbenen) Vize-Präsidenten Fürsten P. P. Gagarin bleiben werde. Gerade wie vor ihm Bludoff, war Gagarin der eigentliche Faiseur (Dejatel), während dem Großfürsten das Ehren-Präsidium vorbehalten wurde. — Seitdem hat Konstantin Nikolajewitsch es zu einer hervorragenden politischen Stellung, geschweige denn, zur Führerschaft einer Partei nicht wieder gebracht. Nie hat das Geringste davon verlautet, dass er für seinen ehemaligen Schützling Polen, oder für andere gleich diesen von der Nationalpartei angegriffene „Grenzmarken“ eingetreten wäre; im Gegenteil hat dieser Großfürst zu wiederholtenmalen dem Slawentum und ,den großslawischen Aspirationen eine Gönnerschaft bewiesen, die höchstens zu der „echt russischen“ Jugend-Periode, nicht aber zu der Statthalter-Periode dieses Prinzen passte. Der Großfürst Konstantin ist Protektor jener russischen „Gesellschaft für religiöse Aufklärung" die mit dem Altkatholizismus kokettiert, Musterpopen zu den Jahresversammlungen dieser Gesellschaft abdelegiert, sich lebhaft für die ,,orthodoxen" Sympathien einzelner Glieder der britischen Hochkirche interessiert und ein künftiges Aufgehen aller Konfessionen in die heilige, alte, katholische und apostolische Kirche des Morgenlandes träumt. Er isst ferner das erste Mitglied der kaiserlichen Familie gewesen, das die sogenannten Slawen-Comités (Vereine zur Förderung der Bildung des außerrussischen Slawentums) unterstützt und dadurch dem Glauben Vorschub geleistet hat, diese von dem Schwärmer Lamanski geleiteten Vereine hätten eine hochpolitische und hochgefährliche Bedeutung. Mit Schriftstellern, Publizisten und Zukunftspolitikern hat der Großfürst von jeher in Beziehung gestanden, und diese sind es vornehmlich gewesen, die seinen Namen mit einer politischen Aureole umgeben haben.