Neue Bilder aus der Petersburger Gesellschaft. I. Die Nationalitäten.

Autor: Eckardt, Julius Albert Wilhelm von (1836-1908) deutscher Journalist, Historiker, Senatssekretär und Diplomat. Studierte Rechtswissenschaften in St. Petersburg, Dorpat und Berlin, Erscheinungsjahr: 1874

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Handel, Wirtschaft, Banken, Bankhäuser, Papiergeld, Finanzprojekte, Rubel, Einnahmequellen, Finanzreform, Branntweinmonopol, Tabaksteuer,
„Unsere Aristokratie“, so lautet ein bekannter Ausspruch Iwan Aksakows, des Slawophilen, „hat es gemacht wie der Vorreiter eines langbespannten Wagens zu tun
pflegt, wenn dieser im Kote stecken geblieben ist: er schneidet die Vorderpferde ab und galoppiert auf und mit ihnen lustig weiter, unbekümmert darum, ob die nachgebliebenen Deichselpferde noch im Stande sind, das schwere Gefährte aus dem Fleck zu bringen oder nicht.“ Personifiziert ist der um das Geschick des Wagens unbekümmerte Sattelgaul in der Stadt Peters des Großen. Atemlos stürmt er vorwärts, denn es gibt Nichts zu schleppen, und der Vorreiter, der sich in den Sattel geschwungen, ist ein leichter und leichtfertiger Geselle, — immer derselbe, einerlei ob er deutsche oder französische Flüche murmelt, ob er eine englische Gerte oder die nationale Knute schwingt. — Weil sie mit dem Volk und Lande, dessen Hauptstadt sie sein soll, niemals in organischem Zusammenhang gestanden, weil die in ihr herrschende Gesellschaft eine von dem wahren russischen Volkstum durchaus unbeeinflusste Existenz führt, ist unsere Palmyra des Nordens eine kosmopolitische Stadt, wie kaum eine andere in Europa. Bei Parallelen zwischen Petersburg und anderen europäischen Städten wird man immer zu kurz kommen: in die Herrschaft über diese Stadt teilen sich die längst entnationalisierten höheren Klassen der russischen Gesellschaft mit einer Anzahl fremder Kolonien, beide gleich wenig bekümmert um die große Masse niederen Menschentums, die hier die Last des Lebens trägt. Keine europäische Aristokratie ist von fremder Bildung so abhängig, wie die russische, welche Peter der Große in diesen finnischen Sumpf gepflanzt hat. Soll für das heutige Petersburg ein wirksamer Vergleich herangezogen werden, so muss aus der Gegenwart in eine längst begrabene Vergangenheit zurückgegriffen werden. Besser als mit Paris und mit London wird diese Stadt mit dem Rom der Cäsaren, dieser Hauptstadt dreier Weltteile verglichen werden. Omne simile claudicat! Abstrahiert man aber ein Mal von den gewaltigen Verschiedenheiten, die zwischen dem 42. und dem 60. Grad nördlicher Breite, zwischen Italienern und Slawen bestehen und natürlich auf tausend verschiedenen Gebieten hervortreten, so wird man einer überraschenden, um nicht zu sagen erschreckenden Ähnlichkeit zwischen diesen Städten gewahr werden. Hier wie dort ein Volk, das durch Eroberungen Herr ganzer Weltteile geworden und dabei in drückende Abhängigkeit von fremder Kultur geraten ist, — hier wie dort eine Hauptstadt, in der Söhne der verschiedensten Breiten sich tummeln, nicht sowohl um das gemeinsame Interesse des gemeinsamen Staats, als um die vielfach auseinander gehenden Interessen einzelner Landschaften und Stämme wahrzunehmen, — hier wie dort Kolonien, deren Bewohner ihr Herz in der Fremde haben, und doch wieder mit hundert Banden an den Ort gefesselt sind, der ihre, zum Teil bereits ihrer Väter Wiege gewesen, — hier wie dort Adelsgeschlechter heterogensten Ursprungs, die die Lebensformen des herrschenden Volks äußerlich nachahmen und doch wesentlich das Ziel verfolgen, die Interessen der Gesamtheit denen ihrer heimischen Besonderheit dienstbar zu machen. Die allgewaltige Herrschaft; welche französische Sprache und Sitte in den höheren Klassen der rassischen, speziell der Petersburger Gesellschaft üben, — vor an dem Einfluss, der in den Tagen der Cäsar und Augustus von dem Hellenentum erobert worden, findet sie ihres Gleichen. Und erinnert die Stellung der Deutschen in Russland nicht in vielfachen Beziehungen an die Rolle, welche das Judentum in der antiken Welt spielte? Hüben wie drüben eine Provinz, deren Söhne und Vettern über das gesamte ungeheure Reich verbreitet und durch das Band gleichen religiösen Glaubens und verwandter Sitte unter einander verbunden, durch örtliche Schul- und Kircheneinrichtungen auf einander angewiesen sind — hier wie dort ein in diplomatischen und militärischen Künsten erfahrener Adel, der sich äußerlich der Sitte anbequemt, die seine Besieger adoptiert haben und dabei nicht nur sein Wesen nicht verliert, sondern zum Ärger der herrschenden Nationalität den weitgreifendsten Einfluss übt und seinem Interesse nutzbar macht. Hier wie dort Einwanderer aus den Ländern fern ab wohnender Barbaren, die sich in der Hauptstadt europäischen Schliff holen und dafür ihre Laster in der Kulturwelt heimisch machen — kriegerische Kohorten, die die Leibgarde des Cäsar bilden, nicht diesem, sondern nur den einheimischen Lehnsherren unbedingt ergeben sind, von denen sie befehligt werden. George Grote, der Geschichtsschreiber des Hellenentums, hat das kantonale Leben der Schweiz studiert, um eine lebendige Anschauung republikanischer Kleinstaaterei zu gewinnen: zu den Zuständen, welche Sueton und Tacitus uns schildern, dürfte keine andere moderne Großstadt einen so lehrreichen Kommentar liefern, wie Petersburg, der Mittelpunkt des einzigen halb-europäischen und zugleich halbbarbarischen Weltreichs der Neuzeit.

Gewaltsam aus Moskau an die Newamündung verpflanzte Bojaren und aus allen Teilen Europas nach Russland eingewanderte Glücksritter waren die ersten Bewohner der Paläste, welche Peter auf den Grundmauern der alten Schwedenfeste Nysenschanz errichten ließ. Zu diesen Grundbestandteilen dessen, was bei uns die gebildete Gesellschaft heißt, sind seitdem Vertreter all' der Stämme und Landschaften gekommen, welche die zwölf russischen Herrscher der letzten hundert und fünfzig Jahre ihrem Zepter unterwarfen. Die Tataren Kasans, die Adighe des Kaukasus, die Schweden Finnlands, die Deutschen der Ostseeprovinzen, die Polen des Königreichs, des ehemaligen Litauen und der Ukraine — sie alle sind an der Newa repräsentiert, denn Alles, was im größeren Stil leben und erwerben, was die Interessen der heimischen Kirche und der heimischen Volksart an der Zentralstelle vertreten will, muss in dieser Stadt sein Zelt aufschlagen. Dazu kommen ausländische Geschäftsleute aller Art und aus allen Zonen, verschmitzte Perser und Armenier, die die Produkte ihrer Heimat austauschen, Engländer, Amerikaner, Holländer, Deutsche, Franzosen usw., welche den Hauptteil merkantiler und technischer Arbeit besorgen, als Köche, Zuckerbäcker und Barbiere ebenso unentbehrlich sind, wie als Bankiers, Architekten, Ingenieure und Eisenbahnerbauer — die Einen, um mit rasch gesammeltem Gewinn wieder ihres Weges zu gehen, die Anderen um heimisch zu werden und ihre Söhne zu russischen vornehmen Herren, Garde-Offizieren oder Hofbeamten zu machen. — Die ethnographische Zusammensetzung der Petersburger Bevölkerung kann aus jedem Handbuch ersehen werden: wer wusste nicht, dass diese Stadt 191 russische Kirchen, Klöster und Kapellen, sechs katholische, zehn protestantische und zwei armenische Kirchen, eine Synagoge und eine Moschee zählt, dass von ihren 670.000 Einwohnern etwa 60.000 Deutsche, 15.000 Franzosen, 4—5.000 Engländer und Amerikaner, je 2 bis 3.000 Juden und Muhamedaner sind (460.000 Menschen beiderlei Geschlechts sind Anhänger der griechischen Kirche und ihrer Sekten) und dass ein seit Jahrzehnten bestehendes Staatsgesetz politischen Verbrechern, Juden, Krüppeln und invaliden Untermilitärs den Aufenthalt in der Haupt- und Residenzstadt untersagt. — Auf Charakter und Zusammensetzung der herrschenden Gesellschaft dürfen aus diesen rohen Ziffern aber schlechterdings keine Schlüsse gezogen werden: nicht nach Köpfen gezählt, — gewogen müssen die verschiedenen Nationalitäten werden, die sich in die Umgebung des Hofes und der Zentralstellen zusammen drängen. Und enger wie sonst irgendwo ist hier der Kreis der Herrschenden geschlossen, bedeutungsloser als in jeder andern Stadt die Masse Derer, welche den Unterbau und das Mittelgeschoss der Gesellschaft bewohnen. Neben der Aristokratie der Geburt, dem Zivil- und dem Militärbeamtentum, hat sich erst in allerneuester Zeit eine von Hof- und Staatswesen unabhängige Schicht zu Anerkennung und Bedeutung emporgearbeitet, die Gesellschaft jener großen Geldleute und Unternehmer, denen die Aufhebung der Leibeigenschaft und die durch Herstellung des Eisenbahnnetzes herbeigeführte wirtschaftliche Revolution ein mächtiges Feld der Tätigkeit, des Gewinnes — und der Intrige erschloss.

Haxthausen hat den russischen Adel und dessen Eigentümlichkeiten nicht besser charakterisieren zu können geglaubt, als durch den Nachweis; dass ein großer Teil der hohen russischen Adelsgeschlechter nicht-russischen Ursprungs sei. Für die Physiognomie der Petersburger Gesellschaft kommt das kaum in Betracht. Das Geschick; gemischtes Blut durch seine Adern rollen zu lassen, teilt der russische Adel mit der Aristokratie beinahe aller Länder: dazu kommt, dass die Begriffe Adel und Aristokratie sieh in Russland schlechterdings nicht decken und dass der heterogene Charakter russischer „höherer Bildung“ Jahrzehnte lang jedem französisch Redenden die Verschmelzung mit dem vornehmen Russentum außerordentlich leicht machte. Dass zum Petersburger Hof-Adel zahlreiche Geschlechter mit unrussischen Namen gehören, während ihr Russentum doch niemals in Zweifel gezogen wird, — das macht Untersuchungen über die Heimatsstätte der Tolstoy, Bibikow oder Hendrikow ziemlich überflüssig. Die Allgewalt des zaarischen Despotismus hat dafür zu sorgen gewusst, dass nicht die ältesten und nicht die vornehmsten; sondern die um die gegenwärtige Dynastie verdientesten Geschlechter die erste Rolle spielen und dass das Maß über eine bestimmte Familie ausgeschütteter kaiserlicher Gnaden in letzter Instanz über die soziale Stellung derselben entscheidet. Damit ist zugleich gesagt, dass die fremdländischen, im Staats- oder Hofdienst emporgekommenen Geschlechter in Nichts hinter den Einheimischen zurückstehen. Das moderne; auf Grund der Umgestaltungen Peters des Großen gebaute Russland ist von den Zeiten bojarischer Teilnahme an der Regierungsgewalt durch eine zu breite und zu tiefe Kluft geschieden, als dass es ein Gedächtnis hätte für Verdienste, die um Großfürsten von Moskau oder um Träger des Romanow’schen Zarenhuts erworben worden. Heraldischen Spielereien und Berufungen auf alte Stammbäume ist die russische Aristokratie keineswegs abgeneigt; zu einer „alten“ d. h. vor-Romanowschen Familie zu gehören, gilt für einen entschiedenen Vorzug — im Staatsleben hat diese Münze aber längst den gehörigen Cours verloren. Wie bereits erwähnt, zählen die vornehmsten unserer vornehmen Familien ihre Ahnenreihe nicht weiter als bis in das vorige Jahrhundert zurück und kommt auf den russischen oder unrussischen Klang ihrer Namen nicht viel an*). An die Stelle des Begriffe der Aristokratie ist längst der der „Vornehmheit" getreten, für welchen es bekanntlich keine bestimmte Definition gibt. — Kommt zu dem hochklingenden Titel noch die Zugehörigkeit zur griechischen Kirche, so ist, wenigstens in der Regel, der Unterschied zwischen „russisch" und „unrussisch" verwischt. Die langjährige Herrschaft jenes von Peter dem Großen erlassenen Gesetzes, welches jedem Inhaber einer der 14 Rangklassen Adelsrechte verlieh**), hat außerdem dafür gesorgt, dass die Zahl der adligen Familien Legion ist, und dass im Zweifel jeder Beamte, Offizier usw. für einen Edelmann gilt. In den mittleren Ständen ist es, wie wir in der Folge sehen werden, sogar ein Gewinn, einen nicht russischen Namen zu fuhren, da derselbe dafür Bürgschaft leistet, dass sein Inhaber nicht Leibeigener gewesen und dass er nicht von Leibeigenen abstammt.

*) Anders ist es in Moskau, wo die geschichtliche Tradition eine größere Rolle spielt. Aber auch hier kommen zahlreiche fremde Namen vor, die ohne Weiteres zur russischen Aristokratie gezählt werden.

**) Seitdem ist der Brotkorb des erblichen Verdienst-Adels beträchtlich höher gehängt worden. Nachdem eine Zeit lang noch der Kollegienassessor (8. Klasse) den Adel verliehen hatte, beschränkte Nikolaus den Erwerb erblicher Adels-Rechte auf den Staatsrat (5. Klasse). Gegenwärtig muss man es zum wirkl. Staatsrat (4. Kl.) gebracht haben, um für seine Kinder Adelsrechte zu gewinnen. Dieser Rang (Tschin) wird aber nicht durch Dienstjahre erworben, sondern nur „für Auszeichnung“ verliehen.

Russland 011. Schlitten

Russland 011. Schlitten

Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk

Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk

Russland 022. Ein Narr in Christo

Russland 022. Ein Narr in Christo

Russland 022. Vorstadtkinder

Russland 022. Vorstadtkinder

Russland 023. Industriearbeiter aus Jaroslaw

Russland 023. Industriearbeiter aus Jaroslaw

Russland 025. Das Russsische Bad (2)

Russland 025. Das Russsische Bad (2)

Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

Russland 033. Prozession (1)

Russland 033. Prozession (1)

Russland 046. Kleinrussin

Russland 046. Kleinrussin

Russland 047. Großrusse

Russland 047. Großrusse

Russland 050. Eine Altgläubige (Raskolniza)

Russland 050. Eine Altgläubige (Raskolniza)

Russland 054. Bauernkinder aus dem Gouvernement Orel

Russland 054. Bauernkinder aus dem Gouvernement Orel

Russland 054. Großrussischer Junge mit selbstgefertigtem Hackbrett

Russland 054. Großrussischer Junge mit selbstgefertigtem Hackbrett

Russland 054. Junge auf der Wanderschaft

Russland 054. Junge auf der Wanderschaft

Russland 064. Eine Tatarenfamilie vom Unterlauf der Wolga (Auf dem Tisch der Samowar, die im ganzen Russischen Reich verbreitete Teemaschine)

Russland 064. Eine Tatarenfamilie vom Unterlauf der Wolga (Auf dem Tisch der Samowar, die im ganzen Russischen Reich verbreitete Teemaschine)

Russland 064. Kalmükischer Buddhistenpriester (Lama) aus der Steffe der Donkosaken

Russland 064. Kalmükischer Buddhistenpriester (Lama) aus der Steffe der Donkosaken

Russland 064. Wolgatataren als Hafenarbeiter

Russland 064. Wolgatataren als Hafenarbeiter

Russland 065. Krim-Tataren, Am Spieß wird Schaschlyk (Stücke von Hammelfleisch) gebraten, das tatarische Nationalgericht

Russland 065. Krim-Tataren, Am Spieß wird Schaschlyk (Stücke von Hammelfleisch) gebraten, das tatarische Nationalgericht