Zweite Fortsetzung

Als politische Partei innerhalb der „Gesellschaft“ spielen die Liv-Kur-Estländer die größere Rolle, in den übrigen Kreisen prävalieren die eingewanderten Deutschen und die Deutschrussen schon ihrer größeren Anzahl wegen. Den Mittelpunkt dieses Deutschtums bildet der Stadtteil Wassily Ostrow, der Sitz der Akademie, zahlreicher Lehranstalten und des großen Teils von Deutschen besorgten Handels. Die deutschen Handwerker und kleinen Leute sind über die ganze Stadt verteilt. Da das norddeutsch-protestantische Element entschieden vorherrscht und die Protestanten eine ganze Anzahl schon im vorigen Jahrhundert begründeter, von den Münnich und Ostermann fürstlich ausgestatteter, trefflich verwalteter Kirchen besitzen, so spielt der Protestantismus in Petersburg eine wichtige und geachtete Rolle. Die beiden Hauptkirchen St. Peter und St. Annen besitzen tüchtige von ihren Vorständen geleitete deutsche Gymnasien (sog. Kirchenschulen), die für die gediegensten Lehranstalten der Stadt gelten und in welche sich fortwährend russische Schüler aus den höchsten Ständen drängen. Dass außerdem ein deutsches Hoftheater besteht (das einzige Hoftheater, das auf seine Kosten kommt), dass die deutschen Industriellen und Geschäftsleute in dem sog. Schusterklub, die Arbeiter und Gesellen in dem Verein „zur Palme“ Mittelpunkte besitzen, dass die zahlreichen deutschen Ärzte und die durch Wohlstand und Solidität ausgezeichneten Apotheker in kollegialischer Verbindung stehen, dass es endlich einen unter dem Schutz des deutschen Botschafters prosperierenden deutschen Wohltätigkeitsverein gibt — das Alles kann als bekannt vorausgesetzt werden und bedarf keiner weiteren Erörterung. —

Innerhalb der maßgebenden Gesellschaftskreise bilden nächst den Deutschen die Polen das wichtigste nichtrussische Element. Können sie mit den Deutschen schon darum nicht verglichen werden, weil diese aus zwei Strömen, aus Deutschland und aus den Ostseeprovinzen, Nachschub erhalten, mithin als Ausländer und als Vertreter einer wichtigen russischen Provinz in Betracht kommen — so wissen sich doch auch die Polen nachdrücklicher geltend zu machen, als man gemeinhin annimmt. Wie in Russland die Begriffe „deutsch" und „protestantisch" für nahezu gleichbedeutend gelten, so sind die Polen die Vertreter des Katholizismus. Deutsche und Polen beginnen erst Russen zu werden, wenn sie Protestanten und Katholiken zu bleiben aufhören — so lange das nicht geschehen, haben sie Separatinteressen und sieht der Vollblutrusse sie mit mehr oder minder ausgesprochenem Misstrauen an. Deutlich abgegrenzt hat diese Verschiedenheit sich freilich erst in der Neuzeit. Bekanntlich zählte Russland schon vor der Teilung Polens sehr zahlreiche Anhänger innerhalb des polnischen und litauischen Adels. Jede der Katastrophen, welche der Teilung des polnischen Reiches vorausgingen, später die drei Teilungen selbst führten zahlreiche polnische und litauische Geschlechter, die in ihrer Heimat unmöglich geworden waren und solche, welche die Regierung ihrem natürlichen Kreise entrücken wollte, nach Petersburg, Ein Teil derselben ist völlig russifiziert worden: die Grafen Wielehorski z. B., die durch ihre Mutter zur griechischen Kirche gehörten, zählen seit einem halben Jahrhundert für Vollblutrussen*), anderen wie z. B. den Potocki, war durch Teilnahme an den Zerstörungsplänen der russischen Regierung jeder Zusammenhang mit ihrem Volkstum unterbunden. Wieder Andere waren Litauer von russischem Ursprung, führten russisch-klingende Namen, welche erst im 17. und 18. Jahrh. polonisiert worden waren und konnten darum mühelos zu ihrer früheren Nationalität zurückkehren. Der unbemittelte Kleinadel, das sog. Schlachtizentum, strömte massenhaft unter die Führer der russischen Armee, nahm Justiz- und Verwaltungsämter aller Art**) und in allen Teilen des Reiches an und verfiel in der Diaspora natürlich sehr häufig der Russifizierung.


*) Die Mutter des bekannten weiland Musikkenners und Kunstmäzen Michel Wielehorski und seines Bruders Mathien, des Hofmarschalls der Großfürstin Helene — war eine Matjuschkin. Des Grafen Michel Söhne, die aber beide vor dem Vater starben, nannten sich bereits Wielehorski-Matjuschkin, um ihren unrussischen Ursprung möglichst vergessen zu machen.
**) Sehr beträchtlich ist die Zahl der polnischen Ärzte und Militärärzte in Russland, da man in diesem Beruf Polen und Deutschen den Vorzug vor den Russen gibt. Ebenso findet man in allen Waffengattungen der Armee polnische Offiziere, besonders häufig in der Artillerie und beim Genie-Wesen.

Erst jenes Wiedererwachen des polnischen Nationalgefühls und des katholischen Glaubenseifers; das seit der Revolution von 1831 datiert und durch die Ereignisse der letzten Jahre in die weitesten Schichten der polnischen Gesellschaft fortgepflanzt worden ist, hat die nationalen Gegensätze wieder verschärft. Die ein Mal russifizierten polnischen Familien (und ihre Zahl ist bedeutend) sind natürlich russisch geblieben, sehr zahlreiche Deszendenten alt-polnischer Geschlechter gehen auch noch gegenwärtig aus dem besiegten in den siegreichen Stamm über, — die Zahl dieser Konvertiten nimmt aber zweifellos von Jahr zu Jahr ab. Mindestens drei Viertel der gesamten Geistlichkeit Russlands ist polnisch-litauischen Ursprungs und von jenem Geist des ultramontanen Fanatismus beherrscht, der allenthalben zur Signatur moderner Katholizität gehört und durch die Murawiew und Kaufmann nur geschürt worden ist. Wenn man die Personallisten des katholischen Konsistoriums zu Petersburg, des römischen Episcopats, der Domkapitel und der Pfarrkirchen in Russland durchsieht, so begegnet man polnischen und immer wieder polnischen Namen; außerdem ist ein großer Teil der nicht-polnischen katholischen Geistlichen Russlands in Polen oder doch von polnischen Lehrern und im polnischen Geiste erzogen und demgemäß in der Überzeugung gefestet worden, dass die Sache der römischen Kirche in Ost-Europa mit der des Polentums steht und fällt. Der feste Zusammenhang dieser Kleriker und die strenge Subordination, an welche dieselben gewöhnt sind, machen die gedrückte und vielverfolgte katholische Geistlichkeit noch immer zu einer respektablen Macht, die nicht nur in Warschau und Wilna, sondern auch in Petersburg in aller Stille erheblichen Einfluss übt. Sind auch die Zeiten vorüber, in welchen es bei der weiblichen Aristokratie Petersburgs zum guten Ton gehörte nach Art der Madame Swetschin oder der Fürstin Galyzin mit katholischen Neigungen zu kokettieren und die einzelnen von der römischen Kirche gemachten Konvertiten aus dem russischen Adel (z. B. den père Gagarin und père Augustin Galyzin) über die plebejen Geistlichen der eigenen Kirche zu stellen, so lässt sich doch behaupten, dass den eleganten und formgewandten Söhnen Roms auch gegenwärtig mit einer Ehrfurcht begegnet wird, die Gegenstand des Neides vieler Popen und Mönche der „Rechtgläubigkeit" ist. Diese Priester nun sind es, die in Petersburg wie überall in Russland über der nationalen und kirchlichen Glaubenstreue ihrer Landsleute wachen und dafür Sorge tragen, dass auch die räudigen Schafe ihrer Mutter nicht ganz verloren gehen. In der Gesellschaft, im Beamtentum und in der Armee gibt es zahlreiche Leute, die grade so gut russisch wie französisch reden, grade dieselben loyalen Mienen zeigen, grade dieselben weltförmigen Torheiten mitmachen, wie ihre russischen Standes- und Berufsgenossen, im gegebenen Augenblick aber nichts destoweniger widerspruchslos die Dienste leisten, die Vaterland und Kirche von ihnen verlangen. Dass ein großer Teil der in den Jahren 1863 — 1869 gegen Polentum und Katholizismus erlassenen Regierungsmaßregeln auf dem Papier geblieben, entweder gar nicht öder nur scheinbar in Ausführung gebracht worden ist, dass man es z. B. bis heute nicht dazu gebracht hat, den litauischen Großgrundbesitz dem Polentum zu entreißen und das Gesetz in Ausführung zu bringen, welches den Erwerb von Ritter-Gütern in den Generalgouvernements Kiew und Wilna polnischen Individuen verbietet — das ist fast ausschließlich auf Rechnung des stillen aber mächtigen Einflusses zu schieben, den das Polentum in der Petersburger Gesellschaft übt. Zu verschiedenen Malen wurde in jenen Jahren der Versuch gemacht, die Ministerien und Zentralstellen von polnischen Beamten zu säubern; ganze Dutzende alter erprobter Beamten wurden im Jahre 1864 lediglich ihrer polnischen Namen wegen entlassen oder pensioniert (besonderes Aufsehen erregte die Entlassung des Direktors im Domänen-Ministerium, Geheimrat Rudnizki, eines Freundes des Ministers Walujew) — die Überlegenheit und Formengewandtheit des geschmeidigen und einschmeichelnden Polentums hat immer wieder über die nationalen Vorurteile den Sieg davongetragen und eine Anzahl wichtiger Verwaltungsstellen in polnischen Händen gelassen. Von möglichst viel fremdländischen, mit wohlklingenden Namen und Titeln ausgestatteten Unterbeamten umgeben zu sein, hat für russische Würdenträger einmal unbesiegbaren Reiz. Ein großer Teil dieser Leute ist außerdem in der Tat arbeitstüchtiger und gebildeter, als das russische Durchschnittsbeamtentum. Dass polnische Beamte und Offiziere in gewisser Rücksicht und bis zu einem gewissen Grade unübertrefflich sind, dass unter tüchtiger Führung und bei gehöriger Kontrolle außerordentlich viel mit ihnen auszurichten ist, das gilt in Russland für ebenso ausgemacht, wie in Österreich. — Ein besonderes wichtiges Element sind endlich die polnischen Frauen, deren angeblich unwiderstehliche Grazie in der polnisch-russischen Geschichte eine nur allzugroße Rolle gespielt hat. Ihren Priestern und ihren nationalen Traditionen noch unbedingter ergeben als die Männer, besitzen grade die polnischen Frauen in hohem Grade die Fähigkeit, sich dem russischen Modeton anzupassen, die zwischen hüben und trüben bestehenden nationalen Verschiedenheiten, wo das nötig und nützlich ist, in Vergessenheit zu bringen und unter
der Maske russisch aristokratischen guten Tons der geheimen Sache ihres Volkes und ihrer Kirche die wichtigsten Dienste zu leisten. In der vornehmen Gesellschaft wie im Bürgertum, in der Kirche, wie im Theater, namentlich als angeblich russische Sängerinnen und Tänzerinnen spielen allenthalben in Russland, und namentlich in Petersburg polnische Mädchen und Frauen eine wichtige Rolle. Obgleich die polnische Aristokratie aus der Diplomatie und höheren Generalität allmählich verschwunden ist, unter den Hofchjargen kaum mehr Polen vorkommen (die alte Gewohnheit verlangte, dass alle dem russischen Zepter unterworfenen Stämme unter den Hofchargen vertreten waren) — ist der Einfluss den die polnische Nationalität auf die russische Gesellschaft, namentlich auf das mittlere Beamtentum übt, eher in der Zunahme, als im Abnehmen begriffen. Den zahllosen aus Hof und Haus vertriebenen kleinen Gutsbesitzern ist nichts übrig geblieben, als im russischen Beamtentum und in der Armee Unterkunft zu suchen und ihr natürliches Übergewicht, wo immer möglich, zur Geltung zu bringen. Und wo immer ein Pole eingenistet ist, weiß er (grade wie der Deutsche) Vettern und Landsleute nach sich zu ziehen.

Mit dem deutsch-protestantischen Element stehen die Vertreter des Polentum gewöhnlich auf so schlechtem Fuß, dass sie gegen dasselbe bei vorkommender Gelegenheit mit dem Russentum gemeinsame Sache machen: freilich ist das traurige Geschick der ehemaligen königlichen Republik zum großen Teil durch Träger deutscher Namen vollzogen worden und sind es auch in den Not- und Drangjahren des vorigen Jahrzehnts sehr häufig Deutsche und Deutsch Russen gewesen, welche in den vordersten Reihen der Russifikationsarmee kämpften. Die Nöte und Drangsale der sechziger Jahre haben übrigens hier und da zu einer vorübergehend polnisch-deutschen Interessenwirtschaft geführt: die Vermittler derselben waren die ziemlich zahlreichen kurländischen Barone, die in den Kurland benachbarten litauischen Grenzstrichen Großgrundbesitzer sind und durch die Murawjewschen Ausnahmegesetze an den Rand des Bankerotts gedrängt, oder von russischen Beamten schikaniert und geschädigt wurden.

Wenigstens beiläufig muss erwähnt werden, dass geschlossene polnische Beamtenkoterien außerhalb Petersburgs noch sehr viel häufiger vorkommen, als in der Residenz, wo sie schärfer beobachtet werden und zu größerer Vorsicht und Zurückhaltung genötigt sind. Besonders mächtig soll das polnische Element in einzelnen Teilen Sibiriens und im Kaukasus sein. Die in Tiflis dienenden Polen und Litauer gelten beispielsweise für in gewissen Dienstbranchen allmächtig; das kaukasische Kontrolldepartement, das unter einem litauischen Polen Kimbar, stand, ließ Jahrelang keinen Deutschen aufkommen, wusste sich trotz der ausgesprochenen Ungunst des Großfürsten Statthalters durchaus unabhängig zu halten usw. Zweifellos war es maßlos übertrieben, wenn ihrer Zeit (1864) die Moskau'sche Zeitung behauptete, die Polen seien die eigentlichen Herren Grusiens, die Urheber und geistigen Leiter jenes Jung-Armeniertums, das gegen die Russifikation dieses halborientalischen Grenzlandes Opposition zu machen versuche, und mit den übrigen „Separatisten" im russischen Reich, den Deutschen, Ukrainophilen und Finnländern unter einer Decke stecke, — mit der Tatsache, dass die Polen in Eriwan, Tiflis und Schemacha ein gewichtiges Wort mitzureden haben, hat es doch seine Richtigkeit. — Über die Verhältnisse jener Teile Sibiriens, die die Hauptmasse der polnischen Exilierten von 1863 — 1865 in ihren Schoß aufgenommen haben, hat öffentlich nichts Zuverlässiges verlautet. Dass diese Leute auch jenseits des Urals eine Macht bilden, ist nicht nur nach der allgemeinen Lage der Dinge wahrscheinlich, sondern außerdem durch den eigentümlichen Verlauf bescheinigt, den verschiedene in Ostsibirien unternommene Aufstandsversuche genommen haben. Ziemlich ungemütlich muss der Regierung die Sache geworden sein, da sie im Jahr 1864 eine eigene Kommission nach Sibirien sandte, um die Verteilung der aus Polen anlangenden Exulantentransporte in ein System zu bringen und weiteren Beeinträchtigungen des Staatsinteresses und des „russischen Charakters“ der sibirischen Gouvernements entgegen zu arbeiten. Sibirien gilt überhaupt für eine Provinz, die der Regierung künftig große Schwierigkeiten bereiten wird. Beamte, die längere Zeit jenseits des Ural und am Ochozkischen Meer gelebt haben, wissen wunderliche Dinge von dem sich hier regenden Sondergeist zu erzählen. Nicht selten hört man behaupten, Sibirien werde im 20. Jahrhundert zu Russland dieselbe Stellung einnehmen, wie Nordamerika zu dem England des 18. Jahrhunderts. Das mag übertrieben sein — ganz ungegründet ist es nicht: die Zuvorkommenheit, mit welcher verbannte politische Verbrecher, ganz besonders aber Polen, von „Sibiriern“ und sibirischen Behörden behandelt werden, ist seit lange in Petersburg der Gegenstand von Sorgen und Beschwerden. Weniger bekannt und beachtet, als die Deutschen und Polen, minder zahlreich als jene, aber keineswegs ganz einflusslos, sind die in der Petersburger Gesellschaft lebenden Finnländer. Dass Finnland einen besonderen Staatssekretär am russischen Hof hat, dass diesem eine aus vornehmen jungen Finnländern bestehende Kanzlei zur Seite steht, dass in der russischen Armee und Flotte nicht weniger als 1800 finnländische Offiziere dienen, dass in Petersburg, sehr zahlreiche und wegen ihrer Solidität beliebte finnländische Handwerker und Dienstboten leben, ist vielen Leuten, die in unserer Residenz sonst leidlich Bescheid wissen, ebenso unbekannt, wie die politische Konfiguration dieser merkwürdigen, Petersburg nahe benachbarten Provinz. Zum Verständnis und zur richtigen Abschätzung derselben wird ratsam sein, einen flüchtigen Blick auf die Geschichte der nunmehr vier und sechzigjährigen russischen Herrschaft über dieses ehemals schwedische und noch heute durchaus unrussische Großfürstentum zu werfen.