Vierte Fortsetzung

Kaum hatte Nikolaus seine Augen geschlossen, so brach das von Hoffnung getragene Verlangen nach einer Systemveränderung im Sinn der liberalen Zeitideen bei den Finnländern ebenso stürmisch hervor, wie bei den Bewohnern des russischen Reiches. Nach Jahrzehnten unterwürfigen Schweigens erinnerte man sich plötzlich daran, dass das Großfürstentum Finnland keine russische Provinz, sondern ein selbständiger konstitutioneller Staat sei und dass gesetzlich keine Gründe dafür vorhanden seien, die Präventivzensur und die übrigen Beschränkungen der Nikolaitischen Diktatur länger zu tragen. Begünstigt durch die große Umwälzung, welche sich seit dem Pariser Friedensschluss im Schoß des russischen Volkslebens vollzogen hatte, ermutigt durch die liberale Haltung des Kaisers, der eben mit der Aufhebung der Leibeigenschaft beschäftigt war, trat Finnland mit seinen Ansprüchen auf Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände deutlich hervor. — Zunächst gewann die periodische Presse, welche sich bis dazu ebenso leblos verhalten, wie in Russland, einen ungeahnten Aufschwung. Über Nacht wuchs ein ganzes Heer schwedischer und finnischer Zeitungen empor, welche sich, trotz der noch immer bestehenden Präventivzensur, ziemlich frei bewegten und das Thema von der Notwendigkeit des baldmöglichsten Zusammentritts der seit einem halben Jahrhundert in Vergessenheit gekommenen Stände unaufhörlich variierten: ein in Stockholm herausgegebener, in zahlreichen Exemplaren eingeschmuggelter „Finnländischer Zensurkalender“ sorgte dafür, dass das Publikum auch von denjenigen Gedanken seiner Publizisten regelmäßige Kunde erhielt, welche der Rotstift des Zensors als mit der öffentlichen Wohlfahrt unverträglich entfernt hatte. Kaiser Alexander konnte sich den Forderungen seiner finnländischen Untertanen um so weniger entziehen, als er seit dem J. 1860 mit Zugeständnissen an das Königreich Polen beschäftigt war, dem weder eine Verfassung noch eine Berufung auf streng loyales Verhalten zur Seite stand. Schon im Herbst des Jahres 1861 erfolgte die Veröffentlichung eines an den Minister-Staatssekretär gerichteten kaiserlichen Handschreibens, welches die baldige Einberufung der getreuen Stände des Großherzogtums Finnland in nahe Aussicht stellte. So groß aber war die Masse der durch die Unterlassungen eines halben Jahrhunderts angehäuften Geschäfte, dass zunächst eine (verfassungsmäßig nicht vorgesehene) ständische Ausschuss Kommission niedergesetzt werden musste, um die zahllosen Vorlagen, welche der Erledigung harrten, einigermaßen zu ordnen und um festzustellen, auf welchen Gebieten durchgreifende Neuschöpfungen nötig seien. Alle Zweige der Gesetzgebung befanden sich im Zustande der Verwirrung; eine große Anzahl alter Vorschriften war zufolge der Veränderungen, welche sich im Schoß des wirtschaftlichen und sozialen Lebens vollzogen hatten, vollständig unpraktisch geworden, andere hatte das bon plaisir der Regierung außer Kraft gesetzt, wieder andere waren modifiziert worden, ohne dass Jemand anzugeben wusste, woher diese Veränderungen stammten und in wie weit sie verbindlich seien. Kriminal- und Zivilrecht, Prozesswesen, Pressgesetz, Kommunikations- und Schulwesen, Steuerordnung und Handelsgesetzgebung — Alles bedurfte seit Jahren radikaler Neugestaltungen, welche wegen der kaiserlichen Scheu vor Anerkennung der ständischen Prärogative unterlassen worden waren; nebenher galt es eine Schaar administrativer Übergriffe, wenn nicht förmlich zur Sprache zu bringen, so doch im Stillen zu beseitigen. Die liberale Jugend drängte außerdem zu einer Verwandlung der alten schwedischen Vierstände Verfassung in eine moderne Konstitution, nach belgischem Muster.

Volle achtzehn Monate dauerte es, bevor der ständische Ausschuss (Uskrot) die Reinigung des Augiasstalles, den er vorgefunden, beenden konnte. Seine Tätigkeit wurde von der jungen Presse mit lebhaftem Eifer verfolgt und schon die wiederholten Mahnungen derselben, nicht außer Augen zu setzen, dass es Sache der Stände sein werde, über die Vorlagen der Kommission zu beschließen, bewiesen, dass Finnland seinen Rechten Nichts vergeben sehen wollte und keineswegs gewillt sei, die Kommission für ein Surrogat des Landtags gelten zu lassen. Dass die Regierung dem Gedanken nicht ganz fremd gewesen war, die Ständeversammlung zu umgehen, dürfte schon durch den Umstand bewiesen sein, dass der Uskrot selbst seinen Bericht an den Kaiser mit einem Hinweis auf den „unmaßgeblichen Charakter" seiner Arbeiten beschloss. — Was den Inhalt dieser Beschlüsse anlangt, so sprachen dieselben sich für Abschaffung des Adelsprivilegiums auf den ausschließlichen Besitz gewisser Rittergüter, Abschaffung der Deportation nach Sibirien, Trennung der Schule von der Kirchenverwaltung (dem s. g. Domcapitel), periodische Wiedereinberufung der Stände u. s. w. aus: außerdem hatten 43 Mitglieder Adressen an den Kaiser und den Landtag beschlossen, welche die Gleichstellung der finnischen Sprache mit der schwedischen und Einführung derselben in die höheren Schulen, die Gerichtshöfe und Verwaltungsstellen beantragten.


Erst im September 1863 trat der Landtag zusammen; er fiel in einen Zeitpunkt, der an und für sich höchst ungünstig war, denn wenige Monate früher war der polnisch-litauische Aufstand ausgebrochen und das russische Nationalgefühl zu einem beleidigenden Misstrauen gegen alle nicht-russischen Untertanen seines Monarchen gereizt worden. Die Moskauer Zeitung erhob schon im Frühsommer 1863 gegen Finnland die Anklage auf separatistische Bestrebungen, und verschiedene andere russische Journale suchten durch die Veröffentlichung finnischer Klageschriften über die schwedische Gewaltherrschaft, den Gegensatz zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse zu schüren; dazu kam, dass einzelne Konflikte zwischen den Offizieren der in Finnland stehenden russischen Armee und den Einwohnern stattgefunden und einige Helsingforser Journale sich im Vollgefühl ihrer konstitutionellen Herrlichkeit unvorsichtiger Äußerungen darüber schuldig gemacht hatten, dass Finnland im Fall eines Krieges zwischen Russland und den die Polen unterstützenden Westmächten neutral bleiben müsse. Die Sprache der russischen Presse gegen Finnland wurde immer drohender. Die Neigung, ein russisch-finnisches Bündnis gegen das Schwedentum abzuschließen, trat namentlich in den Spalten der panslawistischen Organe immer deutlicher hervor.

Not und Klugheit geboten, den Gefahren welche der Selbständigkeit des Vaterlandes einerseits durch zuweitgehende konstitutionelle Forderungen, andererseits durch Verletzung der Ansprüche der Fennomanen bereitet werden konnten, rechtzeitig zuvor zu kommen. Man begnügte sich damit, auf dem Landtage die dringendsten Forderungen der Zeit zu befriedigen und verzichtete auf weitergehende Pläne; das Finnentum wusste man durch großmütige Konzessionen, die über das Maß der Forderungen desselben hinausgingen, vollständig zu entwaffnen. — Noch bevor der Landtag zusammentrat, erließ der finnländische Senat ein an sämtliche Gerichte und Verwaltungsstellen gerichtetes Zirkularschreiben, welches die bedingungslose Entgegennahme finnisch abgefasster Satzschriften und Gesuche anordnete. Der Landtag ging noch weiter, indem er nicht nur die volle Parität beider Sprachen aussprach, sondern als Prinzip anerkannte, dass die finnische Sprache allmählich zur erstberechtigten gemacht und sukzessive auch in die Universität und die höheren Lehranstalten eingeführt werden sollte. Auch der Landtag von 1867 sprach sich in diesem Sinne aus — binnen weniger Jahre wird die finnische Sprache die auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens wenn nicht ausschließlich gültige, so doch vorherrschende sein.

Dass diese Opfer nicht vergeblich gebracht wurden, sondern der Selbständigkeit des Großfürstentums wesentlich zu Gute gekommen sind, bat sich in den letzten Jahren deutlich gezeigt. Die Verwandlung des alten Vierstände-Systems in eine modern zugeschnittene Konstitution ist zwar ebensowenig erreicht worden, wie die Herstellung einer unbeschränkten, nur den Gerichten verantwortlichen Pressfreiheit. Die Finnländer haben sich sogar gefallen lassen müssen, das französische Verwahrungssystem gegen den ausdrücklichen Beschluss des Landtags eingeführt zu sehen. Aber auch die russische Presse hat ihre Hörner wieder eingezogen und lässt die Finnländer in Ruhe; ihre Hauptwaffe, die Berufung auf den „abnormen“ Charakter einer politischen Einrichtung, welche Sprache und Kultur der Minorität zur Herrschaft über die Majorität einsetzt, ist ihr durch die kluge Politik des finnländischen Landtages entwunden worden und das nordische Großfürstentum darf noch für einige Zeit hoffen, von dem Eindrang des slawischen Wesens verschont zu bleiben. Die Wünsche für Ausbau der alten Verfassung, Verantwortlichkeit des Staatssekretärs und seiner Beamten vor dem Landtage, Herstellung wirklicher Pressfreiheit u. s. w. werden wahrscheinlich nicht in Erfüllung gehen, so lange Russland den Traditionen des Absolutismus treu bleibt, aber unter den einmal gegebenen Verhältnissen will es schon etwas sagen, dass die Hauptstücke der Verfassung von 1809 aufrecht erhalten und Versuche zur Verschmelzung Finnlands mit dem russischen Reiche abgewandt worden sind.

So viel über die neuere Geschichte des wesentlich schwedischen Landes, das die nächste Nachbarin der Residenz an der Newa ist. — Die Stellung der in Petersburg lebenden Finnländer errät sich nach dem Vorstehenden von selbst: gerade wie die Deutschen und die Polen, nur in noch schärfer ausgeprägter Weise fühlen die zu unserer Gesellschaft gehörigen finnländischen Generale und hohen Beamten sich als die Vertreter von Interessen, die mit den russischen nur an einzelnen Punkten zusammentreffen. Minder zahlreich als die Deutschen, im Zivildienst nur als seltene Ausnahme vorkommend, spielen sie in der Armee und Flotte eine ziemlich beträchtliche Rolle. Wegen ihrer seemännischen Tüchtigkeit, ihrer Tapferkeit und Ordnungsliebe geschätzt, sind die finnländischen Generale und Offiziere in der Gesellschaft im Ganzen wenig beliebt, weil sie für steif und unliebenswürdig gelten; den niederen Chargen macht man nicht ohne Grund Rohheit und Hang zur Völlerei zum Vorwurf. Dem Modeton fügte man sich in den höheren Kreisen, so weit nötig ist, und der Fremde, der unsere Salons betritt, wird die finnländischen Elemente von den russischen nur unterscheiden, wenn sein Ohr für die eigentümliche Aussprache des Französischen geschärft ist, welche den Skandinavier vom Slawen und Germanen unterscheidet. — Während die Deutschen und die Polen nicht nur gewisse landschaftliche Interessen, sondern vornehmlich zwei kirchliche Gemeinschaften vertreten, deren Bestand auch vom russischen Standpunkte aus gerechtfertigt werden kann, halten die in Petersburg lebenden vornehmen Finnländer daran fest, dass für beide in Betracht kommende Teile der bestehende Zustand strenger Scheidung der vorteilhafteste sei und dass ein selbständiges zufriedenes Finnland Russland größeren Nutzen bringe, als eine halb russifizierte und dabei doch antirussisch gesinnte Provinz tun werde. — An diese Doktrin wird in den Kreisen der zum höheren Staatsdienst herangezogenen Finnländer allen Ernstes und nicht ohne guten Grund geglaubt. Diesen Leuten ist es kein Geheimnis, dass man in Stockholm allen groß skandinavischen Redensarten zum Trotz nach der Wiedererlangung des armen, schwachbevölkerten, schwer zu verteidigenden Großfürstentums im Grunde wenig Sehnsucht hat, und dass anderer Seits Finnland und insbesondere der finnländische Adel von der Verbindung mit Russland erheblichen Nutzen zieht. Nicht nur, dass die ungeheure Monarchie des Ostens den Söhnen Suomimas Spielraum für Beförderung und Erwerb auf den verschiedensten Lebensgebieten bietet, dass der russische Staats- und Militärdienst sehr viel vorteilhafter und menschenbedürftiger ist, als der schwedische — dem ganzen Lande ist die Verbindung mit dem östlichen Hinterlande allmählich unentbehrlich geworden. Regelmäßig alle Paar Jahre wird Finnland von Misswachs heimgesucht und muss Russland dem Notstande, der die finnischen und schwedischen Untertanen seines Kaisers heimsucht, zu Hilfe kommen; in den letzten Jahren sind endlich die Eisenbahnen und Dampferlinien, welche Helsingfors, Abo und die übrigen Häfen des finnischen Meerbusens mit Petersburg verbinden, für den südlichen Teil des Großherzogtums so wichtig geworden, dass sie ohne empfindlichen Schaden nicht wohl entbehrt werden könnten. — Das weiß man in den finnländischen Schichten der Petersburger Gesellschaft vielleicht noch genauer, als in den betreffenden Hafenplätzen selbst; ist doch Niemand an der Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes und an der Dämpfung der skandinavischen Gesinnung, welche die finnländische Jugend beseelt, so hoch interessiert, wie die von der kaiserlichen Gnadensonne beschienene Generalität und Bürokratie finnländischen Ursprungs. Auf all' zu harte Proben dürften die russischen Sympathien der meisten dieser Männer freilich auch nicht gestellt werden; ihre Stellung in Petersburg beruht auf dem Einfluss und Ansehen, das sie in ihrem Vaterlande genießen und dieses Land wird seine bevorrechtete Stellung so lange wie immer möglich, zu behaupten suchen.

Auch in den mittleren und unteren Schichten der Petersburger Bevölkerung ist das finnländische, namentlich das finnische Element, ziemlich stark vertreten. Alljährlich strömen Händler, Gewerbetreibende und Dienstboten in beträchtlicher Anzahl über die nahe Grenze, um in der Residenz ihr Glück zu machen. Sind die Männer vom Laster der Völlerei frei, so werden sie wegen ihrer Solidität und ihrer werktätigen Frömmigkeit gern gesehen und sehr häufig russischen Konkurrenten vorgezogen. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich aber die Frauen und Mädchen, weil sie für reinliche, ehrliche
und zuverlässige Dienstboten gelten und an ihrem zuweilen etwas pietistisch gefärbten Kirchentum einen sittlichen Halt besitzen; dessen die Russinnen der niederen Stände fast ausnahmslos entbehren. Während die Petersburger Prostitution sich seit unvordenklicher Zeit aus Deutschen rekrutiert; gelten die finnischen Mädchen, auch wenn sie ein außer der Ehe geborenes Kind mitbringen, für sittsam und Ausschweifungen abgeneigt. — Finnländer, die aus Armut ihre Heimat verlassen haben, um sich in Russland fortzuhelfen, kommen übrigens in fast allen Teilen des russischen Reiches vor, aber nur in Petersburg und Kronstadt (wo sie eigene Kirchen besitzen) bilden sie ein in Betracht kommendes Element der Bevölkerung.