Fünfte Fortsetzung

Dass die Vertreter der Russland unterworfenen asiatischen Stämme in Petersburg eine ungleich bescheidenere Rolle spielen, als Polen, Finnländer oder Deutsche, versteht sich von selbst. Bis zur völligen Eroberung des Kaukasus waren die in der Garde und im kaiserlichen „Leibconvoy" dienenden grusischen und abchasischen Fürsten Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit, weil man von ihrer Mitwirkung die moralische Eroberung der Landschaften erwartete, welche sie als Bürgen ihrer Treue an den Kaiserhof gesandt hatten. Ähnlich wie diese Tscherkessen-Häuptlinge wurden die kalmükischen und kirgisischen Sultane behandelt, die nach Petersburg kamen, um dem großen Zaren von Moskau als ihrem Oberherrn zu huldigen. Trotz des europäischen Schliffs und der französischen Sprachkenntnis, welche diese Muselmänner in der Regel überraschend schnell erwarben, blieben dieselben gerade so vollständige Barbaren, wie jene Perser, welche im Sommer v. J. die Runde durch Europa machten und allenthalben das Entsetzen der Kreise bildeten, die mit ihnen in nähere Beziehung traten. — Es verstand sich von selbst, dass man den Fürsten, wie den Gefolgschaften, die am Kaiserhof Asien vertraten, die Laster ihrer Heimat gerade so nachsah, wie Verstöße gegen Gesetz und Sitte Russlands. Streng von den übrigen Truppen geschieden, den Vorschriften ihrer Religion wie den Sitten ihrer Heimat treu, nur den eigenen stammverwandten Führern, aber diesen unbedingt gehorsam, zeichnen die Tscherkessen des kaiserlichen Gefolges sich durch imposante Haltung, finstere Zurückhaltung und eigentümlich geartetes Ehrgefühl aus. Der vorgeschriebene Dienst wird pünktlich versehen, jede über das Herkommen hinausgehende Dienstleistung aber genau abgewogen. Exzesse kommen selten vor, — bricht die verhaltene Wildheit aber einmal durch, so kennt sie keine Schranke und keine Rücksicht und bedarf es des Einschreitens der eingeborenen Führer, wenn das Äußerste vermieden werden soll. In früherer Zeit ist mancher Dolchstoß von der Hand dieser rotröckigen, in allen Reiter- und Fechterkünsten unübertroffenen Prätorianer durch ein kaiserliches Machtwort totgeschwiegen worden — seit der Kaukasus für pazifiziert gilt, müssen auch seine Söhne sich der allgemeinen Ordnung strenger als früher fügen und geht es mit ihrer Ausnahmestellung zu Ende. In ihre Rolle treten neuerdings die Ankömmlinge aus Turkestan, die aber immer nur als Gäste nach Petersburg kommen und aus denen schwerlich jemals eine Truppe nach Art des tscherkessischen Leib-Convoys gebildet werden wird. — Die dauernd in Petersburg lebenden Kaukasier gehen allmählich in das Russentum über, das den Asiaten gegenüber bis jetzt eine ziemlich starke Assimilationskraft bewiesen hat. Ebenso geschieht es mit den vornehmen Armeniern, Georgiern und den zum Christentum übergetretenen Kirgisen-Sultanen, die meist schon in der zweiten Generation vollständige Russen sind und nur durch den eigentümlichen Klang ihrer Namen verraten, dass die Wiege ihres Geschlechts außerhalb der zivilisierten Welt gestanden. Die zahllosen Fürstentitel; welche im russischen Adel vorkommen, sind nur teilweise heimischen Ursprungs, eine beträchtliche Portion derselben bedeutet nicht mehr als russische Nachbildungen kaukasischer, kalmückischer, kirgis-kaissakischer u. s. w. Häuptlings- und Sultansbezeichnungen*).

Außer durch seine Krieger und Fürsten ist der dem russischen Zepter unterworfene Orient in Petersburg noch durch ziemlich zahlreiche Kaufleute und durch einzelne Gelehrte vertreten, welche dem Körper der 1855 bei der Universität eröffneten Fakultät für morgenländische Sprachen angehören**). All’ diese Leute hängen mit ihren in Moskau und anderen Städten der Monarchie lebenden Landsleuten zusammen und besitzen, soweit sie Bekenner des Islam sind, in der Moschee ihren Mittelpunkt. Wo es sich um gemeinsame Interessen handelt, wissen sie einander aufzufinden und zu benutzen. Treffen asiatische Fürsten (wie im J. 1831 Abbas Mirza, der Sohn des Schah Feth Ali, und im vorigen Jahre Naser-Eddin), an der Newa ein, so zeigt sich regelmäßig, wie warm diese versprengten Söhne des Morgenlandes an den Interessen ihres Kultus und ihrer Art hängen und wie genau sie über dieselben Bescheid wissen. Zwischen den Beamten des asiatischen Departements und den in der Residenz lebenden Persern, Bucharen u. s. w. findet beständig ein gewisser Verkehr statt, bei welchem beide Teile ihren Vorteil zu finden wissen, weil beide von einander lernen und hören. Für die muhamedanische Bevölkerung Kasans, Astrachans und die übrigen an Asien grenzenden Gouvernements ist die in Petersburg lebende islamitische Kolonie als Vermittlerin ihrer Wünsche und als Quelle für auf ihre Angelegenheiten bezüglichen Nachrichten, von ebenso großem Wert wie für die Regierung, die von diesem Zentrum aus nach den verschiedensten Richtungen zu wirken weiß. Man braucht nur in Betracht zu ziehen, dass allein im europäischen Russland 2 ½ Millionen Muhamedaner leben, um sich die Bedeutung zu vergegenwärtigen, welche dieses Element für das staatliche, wie für das soziale Leben der Monarchie hat. Die religiösen Verhältnisse der islamitischen Untertanen des Kaisers und ihre Beziehungen zum Staat und Staatsdienst sind durch die Gesetze so genau geordnet, dass jede Stufe innerhalb der muselmännischen Hierarchie einer der 14 Rangklassen des „Tschin" entspricht und dass eine ganze Anzahl muhamedanischen Vorstellungen angepasster Ehrenzeichen bestehen, welche ausschließlich an Glieder dieser Gemeinschaft vergeben werden.


*) Neuerdings wird ein großer Teil der irregulären halb- und ganz-asiatischen Reiter von russischen und kosakischen Offizieren befehligt.

**) Unter letzteren ist der „wirkl. Staatsrat" Kasem-Bek, Professor der persischen Sprache, die bekannteste Persönlichkeit.


Nach den vorstehenden Andeutungen braucht nicht erst besonders gesagt zu werden, dass auch die kleineren Nationalitäten und religiösen Verbände, welche im russischen Reiche vorkommen an dem großen Regierungscentrum ähnlich vertreten sind, wie die größeren hier speziell erwähnten Gruppen. Esten, Letten, karaitische und talmudistische Juden, altgläubige Sektierer aller Art, nestorianische und armenische Christen — sie alle zählen ihre unter der großen Masse der Bevölkerung zerstreuten Vertreter und wissen, wo es darauf ankommt. Hinterpforten und geheime Kanäle zu finden, durch welche sie für ihre speziellen Angelegenheiten, ihre eingebildeten und wirklichen Interessen wirken. Von der maßgebenden Gesellschaft ausgeschlossen, zählen sie innerhalb derselben doch Gönner und Beschützer, deren sie sich gelegentlich zu bedienen wissen. Die lettischen Bewohner der Ostsee-Provinzen unterhielten z. B. in den sechziger Jahren zu Petersburg einen besonderen Klub, der als Herberge ihrer angereisten Landsleute diente, sie gaben eine von Letten und Lettenfreunden redigierte und zensierte Zeitung heraus, welche eine nicht unbeträchtliche Rolle spielte und mit den nationalen und demokratischen Blättern der beiden Residenzen lebhafte Verbindungen unterhielt. Germanisierte und dann russifizierte Beamte lettischen Ursprungs machten trotz der Bescheidenheit ihrer offiziellen Stellung damals mit vielem Erfolg in nationaler, den Deutschen zu Zeiten ziemlich unbequemer Politik. Die Esten besitzen in dem kaiserlichen Leibarzt Karrèl einen eifrigen und einflussreichen Beschützer ihrer Nationalität — die Juden — die sich bis auf einige Hundert „geschützter" Familien in Petersburg nicht niederlassen dürfen — , verfügen namentlich in neuerer Zeit über eine ganze Anzahl von Patronen, christlichen wie glaubensverwandten, die für sie eintreten, wann und wo immer es gefordert wird; das in den höheren Verwaltungsämtern besonders zahlreiche Beamtenproletariat ist schon durch seine kläglichen Besoldungen darauf angewiesen, mit polnischen und litauischen Geldleuten mosaischen Ursprungs Beziehungen zu pflegen und dieselben bei ihren ausgedehnten Spekulationen, ihren Prozessen mit Bauunternehmern, Eisenbahn Spekulanten u. s. w. zu unterstützen. — Dasselbe gilt von den altgläubigen Sektierern, mindestens einem großen Teil derselben; die sehr reichen angehören, bis zu einem gewissen Grade durch russische Einflüsse bestimmt werden, zeigt Alles, was der mittleren und höheren Gesellschaft angehört eine eigentümlich geschminkte Physiognomie, die weder französisch noch russisch, sondern eben „petersburgisch“ ist. Ob sich hinter dieser die Falten eines deutschen, moskowitischen oder polnischen Gesichts verbergen, erfährt der Fremde oft erst nach Jahren, — gerade die Mannigfaltigkeit dieser bunt zusammengewürfelten Gesellschaft bedingt eine Unterordnung unter gewisse stereotype Formen, die man in Petersburg und Moskau für „französisch", in der übrigen Welt für russisch hält, obgleich sie weder das eine noch das andere sind. Ausnahmen von dieser Regel kommen nur selten vor. Es gibt allerdings deutsche Beamten-, Gelehrten- und Handwerkerkreise, die die heimische Art bewahren, der zu bewahren glauben, diese aber zählen nicht mit, weil sie wie auf einer wüsten Insel leben, weil sie nicht nur den eigentlichen Nerv des Petersburger Lebens nicht berühren, sondern geradezu unfähig sind, denselben zu finden. Die Unzuverlässigkeit deutscher Zeitungsberichte und Schilderungen aus Petersburg ist hauptsächlich daraus zu erklären, dass der von der herrschenden gesellschaftlichen Schicht ausgeschlossene Deutsche, auch wenn er ein halbes Jahrhundert in Petersburg bleibt, von dem eigentlichen Gange der Dinge und den treibenden Motiven nicht mehr merkt, als wenn er in Deutschland bliebe. „Deutsche Familien", „deutsche Bierhäuser", „deutsche Gesellschaften und Theater" sind hier in so großer Zahl zu finden, dass sie manchen Leuten für die Typen des Petersburger Lebens gelten. Und doch fängt dieses Leben erst da an, wo alle spezifische Nationalität aufhört. Die Teilnahme an den Dingen, die anderswo die „öffentlichen" heißen, ist in Petersburg bedingt durch Anpassungen an pseudo-französische Lebensformen. In dieser Region, die im Grunde genommen Nichts hat, was sie als gemeinsamen Besitz ansehen könnte; verbirgt die Verschiedenheit der Interessen, der Bildung und der Anschauungen sich hinter einem sklavisch nachgeahmten Modeton und Modejargon, der allen bequem ist, weil er jeden Anspruch auf eine natürliche Sprache im Voraus zur Unmöglichkeit macht. — Wie diese Gesellschaft nichts gemein hat mit der großen Masse der Bevölkerung Petersburgs, so besteht auch diese Masse aus völlig disparaten Elementen, welche sich mit den Fetzen eines entarteten Russentums mühsam bedecken. Der Mangel einer einheitlich nationalen Farbe macht sich in allen Schichten der Gesellschaft gleich empfindlich geltend, Alles nimmt sich grau und leblos aus. Alles treibt ziel- und herrenlos unter- und durcheinander. Hier ist kein Band, das die Menschen gesellig verbindet, hier ist der Einzelne lediglich auf sich, im günstigsten Falle auf eine Coterie angewiesen, die gleich ihm nirgend fremder ist, als in ihrer täglichen Umgebung. Wer in Petersburg einmal hinter die Kulissen gesehen hat, der weiß ein für alle Mal, dass die russische Kultur, welche diesem Chaos einander widerstreitender Interessen die Tünche gibt, nichts weiter als ein Bühnenspiel ist, darauf berechnet, europäischen Beschauern zu imponieren — Alles agiert, spricht, schminkt und drapiert sich nach der Seite hin, wo dieses Publikum sitzt, um sein eigenes Leben und eigentliches Treiben erst zu beginnen, wenn es mit der offiziellen Komödie fertig ist.