Erste Fortsetzung

Die maßgebende Petersburger Gesellschaft setzt sich (von den höchsten Beamten und Militärs abgesehen) aus den in der Residenz lebenden reichen und adligen Geschlechtern all’ der zivilisierten und halbzivilisierten Völkerstämme zusammen, die dem russischen Zepter unterworfen sind. Vermögen allein war bis in die neueste Zeit hinein noch kein ausreichender Titel zur Zulassung in diese Kreise, Äußere Unterscheidungsmerkmale zwischen „admis“ und gewöhnlichen Sterblichen fehlen freilich schon lange: seit die meisten großen Familien ihre Vermögen ganz oder zum größten Teil durchgebracht haben, seit die Aufhebung der Leibeigenschaft dem grundbesitzenden Adel den Boden unter den Füssen weggezogen hat, ist der vornehme Mann nicht mehr daran zu erkennen, dass er mit vier lang gespannten Pferden fährt und dass er in seinem Hause allein wohnt. Der Kaiser selbst bedient sich, wie schon sein Vater getan, eines Zweigespanns (im Winter eines einspännigen Schlittens) und von verschwindend geringen Ausnahmen (die Hotels Bielosselski, Schermetjew, Strogonow und einige Andere haben sich allerdings noch „rein" erhalten) abgesehen, sind die Erdgeschosse der vornehmen Häuser in der Regel an Modistinnen, Bankhäuser u. s. w. vermietet. An den exklusiven Tendenzen der vornehmen Welt hat sich darum Nichts verändert: die Gewohnheit, große Geschäftsleute „zuzulassen", zählt erst nach Jahren und hat noch gegenwärtig um ihre Existenz zu kämpfen. Ist es doch noch kein Dezennium her, dass der französische Botschafter, Baron Talleyrand, wegen seiner Heirat mit der Tochter des reichen Branntweinpächters (otkupschtschiks) Bernadaki, empfindliche Sticheleien hinnehmen und froh sein musste, seine Petersburger Stellung mit einer anderen Gesandtschaft vertauschen zu können. — An dieser Ausschließlichkeit nehmen all’ die Elemente, welche diese Gesellschaft bilden, Teil: Russen wie Deutsche, Polen wie Finnländer, alt- wie neuadlige Familien hüten sich; einerlei; ob sie politisch liberalen oder konservativen und reaktionären Anschauungen huldigen; vor der intimeren Berührung mit Leuten; die auf , sich selbst stehen. — Sehen wir uns diese, in der Regel nicht nur durch die Nationalität; sondern gewöhnlich durch das kirchliche Bekenntnis von einander verschiedenen Elemente der Reihe nach an: die Gleichartigkeit des französischen Firnisses, der über sie gebreitet ist; schließt Verschiedenartigkeit des Wesens und der Interessen keineswegs aus.

Innerhalb der Petersburger Gesellschaft zeichnen sich vier verschiedene Hauptgruppen von einander ab: die Russen, die Deutschen, die Polen und die Finnländer. Zu den Russen werden all’ die zahlreichen Ausländer und Fremden gerechnet werden müssen; die dem Russentum oder genauer gesagt, dem Petersburgertum, assimiliert worden sind. Abkommen von Europäern und Asiaten, Deutschen wie Franzosen; Holländern, Engländern, Griechen u. s. w. sind hier in großer Anzahl zu finden. Jene Adlerberg, Kleinmichel; Ostermann; Engelhardt, Korff usw., deren Namen den Fremden zuweilen irre leiten, sind von den Kernrussen ebenso wenig verschieden, wie die Bagration und Abasa, die ihren armenischen; oder die Lazarew; die ihren indischen Ursprung längst vergessen und vergessen gemacht haben. Ein Jahrhundert lang ist die russische Hauptstadt der Tummelplatz von Glücksrittern und Flüchtlingen aus aller Herren Länder gewesen und beinahe ausnahmslos sind die Nachkommen dieser Leute in das russische Volkstum aufgegangen, dessen herrschende Schichten ja selbst nur eine besondere Spielart des im gesamten westlichen Europa dominierenden Franzosentums bildeten. Keine Nationalität; die nicht ihr reichliches Kontingent zu diesem Mischlingsgeschlecht geliefert hätte, das gewöhnlich schon in der zweiten Generation von seinen russischen Müttern russisches Blut und Zugehörigkeit zur griechischen Kirche ererbte. Statt aller weiteren Ausführungen genügt es, einige der bekanntesten Namen zu nennen: von Engländern die Greigh (der gegenwärtige Finanzminister-Adjunkt ist ein Abkomme des Siegers von Tschesme) und Fenschaw, von Irländern die Browne und de Lacy, von Holländern Suchtelen und de Hay (russisch Degay), von Franzosen Ribeaupierre, Divièrre und Lautrec. Die Zahl der Deutschen, die vornehme Russen geworden, ist Legion: seit Münnich und Ostermann setzen sie sich in ununterbrochener Kette bis in die Neuzeit fort, welcher die Nesselrode, Kotzebue, Cancrin, Kleinmichel u. s. w. ihr Emporkommen zu danken haben. Um dieselbe Zeit strömten aus Osten und Südosten Flüchtlinge und Abenteurer aller Art an die Newa: jede der verschiedenen Phasen, Welche Griechenland, Serbien und Rumänien zu durchlaufen hatten, ehe sie sich von der Pforte emanzipierten, führte einen Emigrantenstrom nach Russland, der einzelne Ausläufer an den Strand der Petersburger Gesellschaft warf und dort liegen ließ*). Das Gleiche gilt von Armenien, dem Kaukasus und den angrenzenden Landschaften. Die heute für stockrussisch geltenden Lazarew leiten z. B. ihren Ursprung von einem indischen Maurer her, der zur Zeit Katharinas II. mit einem aus dem Auge eines Götzen gebrochenen Diamanten nach Moskau kam und diesen Stein für eine Million Banco-Rubel an die Kaiserin verkaufte. — Dieser heterogene Ursprung der maßgebenden Familien ist, wie bereits erwähnt, für Charakter und Physiognomie der Petersburger Gesellschaft ziemlich gleichgültig und kommt höchstens beiläufig in Betracht. Von Interesse ist es dagegen, dass nur diejenigen nicht-russischen Geschlechter eine gesonderte, beziehungsweise vom Russentum verschiedene Stellung einnehmen, welche Russland unterworfenen Provinzen angehören.


*) Der letzte zur Zeit der Befreiungskriege nach Petersburg getriebene und in russische Dienste getretene vornehme Grieche war der im J. 1848 an der Cholera verstorbene Admiral Papachristo. — Eine beträchtliche Rolle spielte s. Z. der mit einer Tochter des Grafen Nesselrode verheiratete Grieche Kalergis.

An erster Stelle stehen hier die Deutschen aus den Ostseeprovinzen, schon weil sie die zahl- und einflussreichsten sind. In früherer Zeit waren diese Liv-, Est- und Kurländer von den aus Deutschland eingewanderten Deutschen nicht zu unterscheiden. Auch für sie galt als unbedingte Regel, dass sie in der zweiten, sehr häufig schon in der ersten Generation Russen wurden, von den übrigen nur dadurch unterschieden, dass sie innerhalb ihrer vier Pfähle zuweilen deutsch sprachen und dass sie gelegentlich die lutherische Kirche besuchten. Dass diese Leute in größerer Anzahl vorhanden waren, als andere Fremde, dass sie sich in allen Schichten der Gesellschaft vorfanden, dass sie nicht nur bei Hof, in den Ministerien und in der Armee, sondern auch in der wissenschaftlichen Welt (als Ärzte und Lehrer) im Handel und im Handwerk eine gewisse Rolle spielten, kam nicht in Betracht, so lange sie mit den deutsch-ländischen Deutschen zusammengeworfen wurden. In neuer Zeit hat sich das geändert. Seit jener griechisch-kirchlichen Propaganda der vierziger Jahre, welche einen beträchtlichen Teil des livländischen Landvolks zum Abfall von der heimatlichen Kirche bestimmte und die (wie sich schon gezeigt hat) nur die Einleitung zu einem lebhaften Angriff auf den deutschen Charakter und die geschichtliche Stellung des Ostseegebietes bildete, fühlen die in Petersburg lebenden Liv-Est-Kurländer der höheren Stände sich beinahe durchweg als eine bestimmte, von Russen und Reichsdeutschen verschiedene Landsmannschaft. Während die aus dem „Auslande“ eingewanderten Deutschen keinen Grund haben, zu Russland und zu rassischen Einrichtungen eine kritisch-reservierte Stellung einzunehmen und in dem Kampf der politischen Parteien Position zu ergreifen, fühlen die livländischen Deutschen der Residenz sich als Vertreter bestimmter Literessen, die mit wachsender Leidenschaftlichkeit und Entschiedenheit verteidigt werden. Die Mehrzahl der im Staats- und Militärdienst stehenden Einwanderer aus den genannten Provinzen, insbesondere die der jüngeren Generation, wollen von den sog. Deutsch-Russen (die sehr häufig Gegner der baltischen Institutionen sind) unterschieden sein, tragen eine ausgesprochene Feindseligkeit gegen das demokratische Jungrussentum zur Schau und lassen sichs angelegen sein, wo immer möglich für den historischen Charakter ihrer Heimat einzutreten.

Ein beträchtlicher Teil dieser Leute ist äußerlich von dem Gros unserer Gesellschaft kaum zu unterscheiden. Sie haben sich dem herrschenden französischen Modeton gewöhnlich vollständig gefügt, verkehren mit dem Hof und den alten Geschlechtern auf familiärem Fuß, suchen grade wie Jane Carrifère zu machen und nehmen an dem Treiben der sie umgebenden Welt rückhaltlos Anteil. Mit den eingewanderten Deutschen und den Deutschrussen scheinen sie keine anderen als kirchliche Interessen zu teilen, da sie gewöhnlich eifrige Protestanten sind — in den deutschen Clubs und Theatern begegnet man ihnen nicht häufiger, als anderen Modeherren. Sieht man aber näher zu, gewinnt man Einblick in das für den Fremden völlig unsichtbare Treiben der Parteien und Cliquen, in die Ränke und Kabalen die bei Hof, im Reichsrat und in den Ministerien gesponnen werden, so gewahrt man, dass diese Kur-Livländer eine fest geschlossene Phalanx bilden, in Angelegenheiten der lutherischen Kirche und des baltischen Rechts eine ganz bestimmte Politik befolgen und die nationalen Parteien bis aufs Messer und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen. — Obgleich der baltische Zuzug nach Petersburg im letzten Jahrzehnt erheblich abgenommen hat, insbesondere die Zahl der in der Garde dienenden Edelleute dieser Provinzen eine sehr viel geringere geworden ist, als zur Zeit des Kaisers Nikolaus, gibt es kaum eine Militärdivision, kaum ein Ministerium und höheres Verwaltungsbüro, in welchem die Ostseeprovinzen nicht Freunde und Anhänger besäßen. Zu den Eingeborenen jener Landschaften stehen ziemlich zahlreiche Russen — insbesondere gelten die ehemaligen Rigaer General-Gouverneure samt und sonders für Gönner des baltischen Adels und der deutschen Interessen, deren Vertretung früher ihre nolens volens übernommene Aufgabe war. Dass der Einfluss, über welchen diese Schicht der Gesellschaft verfügt, auch gegenwärtig ein nicht unerheblicher ist, hat sich in den sechziger Jahren deutlich gezeigt. Die Miljutin-Selénnysche Clique, welche damals drauf und dran war, das für Polen und Litauen adoptierte System auch an der Ostseeküste zur Geltung zu bringen, hat den größten Teil ihrer Wünsche trotz der Gunst der Zeitströmung nicht durchzusetzen vermocht Die Ausdehnung der neuen russischen Gerichts-Ordnung und der sog. Provinzial-Institutionen auf die Ostseeprovinzen ist bis heute nicht erfolgt; die vom Domänenministerium betriebene Verteilung der Domänengüter an Konvertiten der griechischen Kirche ist zurückgenommen, das Gesetz über die in den Ostseeprovinzen geschlossenen gemischten Ehen in Kraft erhalten worden. Wo immer auf diese Materien bezügliche Fragen zur Sprache kamen, taten sich an allen Ecken und Enden unerwartete Einflüsse auf, die die in Moskau geschmiedeten Pläne am entscheidenden Punkte zu kreuzen und Kräfte in Bewegung zu setzen wussten, denen die nationalen Vorkämpfer nicht, oder doch nicht gehörig gewachsen waren. Man hat nur nötig, die bekannten Samarinschen Schriften über „Unsere westlichen Grenzmarken" zu lesen, um über die Zähigkeit, Energie und Verschlagenheit zu erstaunen, mit welcher die baltischen Provinzialen sich unter den schwierigsten Umständen zu wehren gewusst haben. Freilich kommt ihnen zu Gute, dass sie über beinahe alle Klassen der Bevölkerung verbreitet sind und dass sie in aller Stille über eine ganze Legion offener und geheimer Bundesgenossen verfügen. Leute, die sonst Nichts miteinander zu schaffen haben, in durchaus verschiedenen Verhältnissen leben und die heterogensten Zwecke und Tendenzen verfolgen, wissen einander zu finden und zu brauchen, wenn es den Einrichtungen ihrer Heimat an den Kragen geht. Alte Generale, hohe und niedere Beamte, in Dorpat gebildete Ärzte, Prediger und Lehrer werden aufgesucht und in Bewegung gesetzt, sobald es von einer neuen gegen das liv-, est- und kurländische Provinzialrecht gerichteten Maßregel munkelt. Bis vor Kurzem besaßen die baltischen Provinzial-Angelegenheiten ein eigenes Organ in unserer Presse; während die deutsche ,,St. Petersburger Zeitung“ (Eigentum der Akademie der Wissenschaften) vorzugsweise das Organ der deutschen Kaufleute und Handwerker der Residenz war, stand die sehr geschickt geleitete „Nordische Presse" mit zahlreichen aus den Ostseeprovinzen gebürtigen höheren Beamten und Militärs in Verbindung, um die Sache des Ostseegebietes zu plädieren. — Natürlich hängt diese livländische Sache in vielfacher Beziehung mit der des deutschen Elements in Petersburg zusammen. In der Akademie der Wissenschaften, im Verein der Ärzte, in der kaiserlichen Bibliothek, in den öffentlichen Lehranstalten besteht seit dem Beginn der sechziger Jahre ein erbitterter Antagonismus zwischen Deutschen und Russen, der das Seinige dazu beiträgt, den Kampf um die Nationalität der Ostseeprovinzen zuzuspitzen und zu vergiften. Da kann nicht fehlen, dass man sich Handreichungen und Dienste aller Art leistet und dass in sehr zahlreichen Fällen alle Deutschen ohne Unterschied des Geburtslandes und der Staatsangehörigkeit gemeinsame Sache machen. In den letzten Jahren sind die innerhalb des deutschen Elements bestehenden Unterschiede allerdings sehr viel deutlicher hervorgetreten, als die gemeinsamen Interessen. Die Zugehörigen des neuen deutschen Reichs fühlen sich als Bürger eines mächtigen Staates und haben aufgehört, mit der Rolle bloßen Kulturdüngers und slawischer Erde zufrieden zu sein. — Die Zeiten, in denen gesagt werden konnte:

      „Du Deutscher bist kein Acker,
      Du bist der Dung der Welt,
      Als Würze bist du wacker,
      Als Speise schlecht bestellt.

      Und was am heim'schen Herde
      Der Deutsche nimmer fand,
      Beut nun die ganze Erde
      Ein deutsches Vaterland“.


— diese Zeiten sind vorüber und mit ihnen ist auch die gepriesene philiströs-beschränkte Gemütlichkeit des Deutschrussentums zu Grabe getragen worden. Mehr und mehr sondern das deutsche Kolonialelement und die baltische Partei sich von einander ab, häufig durch gemeinsamen Gegensatz gegen das Rassentum verbunden, nicht selten aber auch in feindlichen Gegensatz gestellt. Dass der große, weitverbreitete Stand der modernen deutschen Handelsleute und Techniker wenig Neigung hat, sich für die vielfach schwerfälligen und altmodischen Einrichtungen der Ostseeprovinzen zu begeistern, dass sehr zahlreiche Deutsche dem liberalen Jungrussland ergeben sind das liegt in der Natur der Sache.
Garde Tscherkesse

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Grusiner

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Armenisches Büffelgespann

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Auf der Flucht 1913

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Tarantaß - Russlands Postkutsche

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Hamal - armenischer Lastträger

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Gefangennahme von Zivilisten 1913

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Kaukasier mit Frau

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Kaukasische Kinder

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