Dritte Fortsetzung

Als Finnland im J. 1809 dem russischen Zepter unterworfen wurde, galt in diesem Lande dieselbe viergliedrige ständische Verfassung, die Gustav III. im J. 1772 seinem Königreiche Schweden oktroyiert hatte, und nach welcher den Ständen außer dem Steuerbewilligungsrecht eine gewisse, wenn auch ziemlich bescheidene Teilnahme an der Gesetzgebung zustand. Alexander I., dem an der moralischen Eroberung dieses Grenzlandes dringend gelegen war, glaubte diese am besten zu bewerkstelligen, wenn er seinen neuen Untertanen die alte, wegen ihrer Beschränktheit ungefährliche Verfassung Hess und sich als Großfürst von Finnland auf die konstitutionelle Aufgabe vorbereitete, die er später als Kaiser von Russland durchführen wollte. Er ließ es bei dieser Verfassung auch als seine auf das Kaiserreich gerichteten Pläne längst andere geworden waren, nahm es mit der Ausführung derselben aber freilich nichts weniger als genau. Seit dem Huldigungslandtage von 1809, den der Kaiser in Person eröffnete, wurden die finnländischen Stände unter seiner Regierung nicht mehr zusammenberufen, im Übrigen die Eigentümlichkeiten und Rechtsgewohnheiten des Landes aber geschont. Weder machten die in Helsingfors residierenden Generalgouverneure (von 1809 bis 1810 Feldmarschall Fürst Barclay de Tolly, von 1810 — 1823 General von Steinheil) irgend welche Versuche, an den überkommenen Einrichtungen Finnlands zu rütteln, noch dachten die Organe der höheren Regierung daran, russische Ordnungen an die Stelle der schwedischen zu setzen. Man ließ es dabei, dass Adel, Geistlichkeit und Bürgertum die schwedische, das Bauerntum die finnische Nationalität repräsentierte, dass die offizielle Sprache des Landes die schwedische war und dass die öffentlichen Ämter ausschließlich durch Landeskinder verwaltet wurden. Ein in Petersburg residierendes „Comité für finnländische Angelegenheiten“ und ein gleichfalls in der Residenz lebender finnländischer Staatssekretär dienten als Vermittler zwischen den Reichs-Zentralbehörden und dem Lande. Den Mittelpunkt der kleinen am Newastrande angesiedelten finnländisch-schwedischen Adelskolonie bildete zur Zeit Alexanders I. ein einflussreicher und hochangesehener Flüchtling aus Stockholm, jener Graf Gustav Moritz Armfeld, der als Vertrauter und Zechgenosse Gustavs III. emporgekommen war, den Karl XIII. als Verräter über die Grenze geschickt und den Alexander zum Präsidenten des finnländischen Comité's gemacht hatte. Aus den Zeugnissen Arndts und des Freiherrn vom Stein, die in den J. 1811 und 1812 mit Armfeld in Petersburg zusammentrafen, ist bekannt, wie bedeutend die Rolle war, die dieser geistreiche Abenteurer bei Hof und in der Gesellschaft spielte: nicht nur dass die Angelegenheiten Finnlands vollständig in seine Hände gelegt waren und dass der „Staatssekretär“ Graf Rehbinder, neben ihm kaum in Betracht kam — auch auf russische Angelegenheiten übte dieser nordische, in der Schule des französischen Encyklopädismus gebildete Talleyrand den nachhaltigsten Einfluss. Der Sturz des Staatssekretärs Speransky, des bedeutendsten hohen Beamten damaliger Zeit und erklärten kaiserlichen Günstlings, soll vornehmlich Armfelds Werk gewesen sein, der im Bunde mit verschiedenen Gliedern des hohen russischen Adels den Kaiser glauben machte, der an das Staatsruder gekommene Emporkömmling (Speransky hieß eigentlich Nadeshdin und war ein Popensohn) habe sich durch geheime Beziehungen zu dem französischen Botschafter Caulaincourt der Gnade seines Wohltäters unwürdig gemacht*). — Dass ein Mann, der sich auf so weitreichende Umtriebe einließ, in der wenig bekannten neuen Provinz seines Souveräns frei schalten und walten konnte, verstand sich ebenso von selbst, wie dass der geborene Schwede und bei aller Freigeisterei starre Aristokrat diese Macht im Sinne des in Finnland herrschenden schwedischen Elements benutzte. Auch nach Armfelds Tod (1814) blieb Alles auf dem Wege, den der einstige Günstling des dritten Gustav für die Behandlung dieses. Landes vorgezeichnet hatte. Rehbinder führte die Geschäfte weiter, ein Dutzend hochgeborener finnländischer Generale und Geheimräte repräsentierte den nordwestlichen Teil des Reiches bei Hof und in der Gesellschaft, von spezifisch russischen Angelegenheiten aber hielten die Finnländer sich so entfernt wie immer möglich, um, wo es das Wohl der Heimat galt, desto energischer auftreten zu können. Der Beziehungen zwischen dem Kaiserstaat und dem Großfürstentum waren nur wenige und mit richtigem Instinkt fühlte der schwächere Teil, dass nur unter Festhaltung dieses Verhältnisses auf Erhaltung seiner überkommenen Zustände gerechnet werden könne.

*) Der im J. 1812 erfolgte Sturz Speransky war einer der dunkelsten Punkte im Leben Alexanders und höchst bezeichnend für die misstrauische Hinterhältigkeit dieses sonst so edel angelegten Monarchen. Alexander hatte Speransky in seinem Kabinett persönlich verhört, dann in die Arme geschlossen und seiner unveränderten Gnade versichert. — Am Abend desselben Tages war der Staatssekretär seines Amtes enthoben und auf der Heise in das halbsibirische Gouvernement Perm begriffen, wo er viele Jahre als Verbannter lebte.


Eine durchschlagende Veränderung wurde erst durch den Tod des Herrschers herbeigeführt, der Finnland erobert und wenigstens Anfangs die Absicht bekundet hatte, diesem Lande seine ständische Verfassung zu erhalten. Davon konnte die Rede nicht mehr sein, seit Nicolaus die schwierige Erbschaft seines Bruders angetreten und ein System aufgerichtet hatte, das nur eine Regel, den Willen des unumschränkten Herrschers kannte. Der schüchterne Versuch, den die Finnländer im J. 1827 machten, um die Zusammenberufung des gegen Recht und Verfassung seit sechzehn Jahren sistierten Landtages herbeizufuhren, wurde mit einer so barschen Abweisung beantwortet, dass man sich in Helsingfors alsbald auf das Äußerste vorbereitete und die Reihe von Schlägen, die jetzt von Petersburg aus geführt wurden, mit geduldigem Schweigen hinnahm Ohne jede Rücksicht auf die zu Recht bestehende Verfassung wurde die Landesuniversität aus dem abgebrannten Abo nach Helsingfors verlegt, die Zulassung von Gliedern der griechischen Kirche in den finnländischen Staatsdienst dekretiert, die landesübliche Todesstrafe aufgehoben und durch die Verweisung nach Sibirien ersetzt. Um im Großfürstentum ebenso unumschränkt und ungeniert walten zu können, wie im Kaiserreich, beseitigte der Kaiser „auf dem Verwaltungswege" das in Petersburg bestehende „Comité für finnländische Angelegenheiten" als überflüssig. Der Gleichstellung Finnlands mit den übrigen Teilen des Reiches stand bald kein Hindernis mehr im Wege: Rehbinders Nachfolger im Staatssekretariat; Graf Armfeld II. und dessen Adjunkt, der Baron Stiernwall-Wallén, waren Männer, die die Hofluft lang genug geatmet hatten, um unbedingte Werkzeuge des Allerhöchsten Willens zu sein, ihnen zugehende Beschwerden über willkürliche Handlungen russischer Beamten ohne Weiteres unter den Tisch zu werfen und ihre Landsleute immer wieder vor jedem Schein von Oppositionslust zu warnen. Helsingfors nahm immer mehr das Ansehen einer russischen Stadt an, es wurde zur Regel, dass die in Finnland rekrutierten Jäger- und Gardescharfschützen-Bataillone in der Residenz standen, während russische Truppen in Helsingfors und den übrigen Städten des Landes garnisonierten. Lediglich dem guten Willen und der vorsichtigen Politik der General-Gouverneure des Landes war es zu danken, dass die tatsächlich seit einem Menschenalter ruhende ständische Verfassung formell fortbestehen blieb — Verletzungen derselben kamen so unaufhörlich vor, dass ihrer kaum mehr gedacht wurde. — Gefährlicher noch war der Umschwung, der sich um dieselbe Zeit im Schoße des finnländischen Lebens selbst vorbereitete. Unter dem entschiedenen Beifall der Regierung schickte die finnische, wesentlich auf den Bauernstand und das Kleinbürgertum beschränkte Mehrheit der Bevölkerung sich an, zugleich das Übergewicht der dem Schwedentum angehörigen höheren und gebildeteren Stände und den schwedischen Charakter des Landes und seiner Verfassung anzutasten. Die sog. „Fennomanie", das Bestreben, finnische Sprache und Sitte an die Stelle der schwedischen zu setzen, machte seit dem Auftreten der Volkslieder- und Runensammler Porthan, Castrén und Sundmann unaufhaltsame Fortschritte: seit dem Erscheinen der von Lönnrot überarbeiteten Kalewala, galt für unzweifelhaft, dass dem aufstrebenden Finnentum die Aufgabe geworden sei, die alte schwedische Kultur des Landes zu verdrängen, „Finnland sich selbst wieder zu geben“. Dass diese Finnisierung „Suomimas“ (Finnlands) nur den Anfang der Russifizierung dieses Landes abgeben werde, konnte tiefer blickenden Patrioten keinen Augenblick zweifelhaft sein: die Begünstigung, deren die Fennomanie sich seitens der Regierung erfreute, bürgte dafür, dass man auch in Petersburg verstanden habe, ein auf sich selbst beschränktes, von Schweden und dessen Sprache, Wissenschaft und relativ hoher Kultur abgetrenntes Finnländertum werde außer Stande sein, dem russischen Einfluss irgend welchen Widerstand zu leisten und an der eigenen Armut zu Grunde gehen. Ursache zu Besorgnissen der ernstesten Art war in der Tat reichlich vorhanden: in den Kreisen der schwedischen Patrioten musste man sich eingestehen, dass die Widerstandskraft des Landes lediglich auf seiner schwedisch-protestantischen Zivilisation beruhe, dass in wirtschaftlicher Beziehung die Abhängigkeit des rauen, großen Teils unfruchtbaren Großfürstentum von Russland bereits vollständig sei, dass die Zahl der finnländischen Auswanderer nach Petersburg und in das innere Reich ebenso unaufhaltsam zunehme, wie die Ziffer der finnländischen Offiziere, die in der russischen Armee und Flotte Unterkunft gesucht hatten*): kehrte auch die Mehrzahl dieser Kriegsmänner nach absolvierter Dienstzeit mit einem Stück unausrottbar patriotischer Gesinnung in die Heimat zurück, so fehlte es doch auch nicht an gefügigen Elementen, denen die „Größe" des Zarenreichs imponiert und die über der bei Hof und in der Generalität genossenen Gunst, die arme beschränkte Heimat vergessen hatten.

*) Besonders groß ist die Zahl der auf der russischen Flotte dienenden Finnländer, da diese sicher sind, den seescheuen Slawen durch ihre maritime Tüchtigkeit Vorsprung abzugewinnen. Man nimmt an, dass (abgesehen von den finnländischen Bataillonen) etwa 1800 Offiziere finnländischen Ursprungs zu den Ressorts der Ministerien des Krieges und der Marine gehören.

Mit richtigem Instinkt fühlten die Führer der patriotisch-schwedischen Partei, dass der ihrer Sache durch die Fennomanie bereiteten Gefahr mit Gewalt nicht entgegengetreten werden, könne: der Feind musste entwaffnet werden, indem man dem berechtigten Teile seiner Forderungen bereitwillig entgegenkam und dadurch dem geplanten Bündnis der Russifikation mit der Fennomanie den Boden entzog. Dem Kultus, den gewisse Kreise mit Castrén, Ahlquist und den übrigen Dichtern der finnischen Schule trieben, wurden schwedischer Seits keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt, im Gegenteil wetteiferte man in Anerkennung der Verdienste dieser Schriftsteller und ließ man es geschehen, dass die bisher auf die Volksschule beschränkte finnische Sprache im J. 1843 zum Unterrichtsgegenstande der höheren Lehranstalten gemacht und durch Errichtung eines Lehrstuhls für finnische Sprache und Literatur bei der Landeshochschule eingebürgert wurde. — Dass diese Methode die richtige sei, sollte sich alsbald deutlich zeigen. Der Unverstand des reaktionären Regierungssystem, das seit dem J. 1845 in Russland auf die Spitze getrieben wurde, sorgte selbst dafür, dass die früheren Rechnungen der Fennomanen auf Petersburger Unterstützung ihrer Sache, vollständig durchstrichen wurden und dass diese Leute während der letzten Regierungsjahre des Kaisers Nikolaus in spezifisch-finnländischer Gesinnung mit der Partei des Schwedentums wetteiferten. Schon die im J. 1850 auf die Helsingforser Universität ausgedehnte Vorschrift des russischen Ministeriums, nach welcher die Vorlesungen über Philosophie verboten und die philosophischen Lehrstühle abgeschafft wurden, hatte in allen Schichten der finnländischen Gesellschaft den übelsten Eindruck gemacht; die Brutalität; mit welcher die Zensur gegen die harmlosesten Erzeugnisse der Literatur vorging und die auf die fleißigen finnischen Schriftsteller noch schwereren Druck ausübte, wie auf den Schweden, verschärfte diese Eindrücke von Tag zu Tage und als es schließlich gar zu jenem wahnwitzigen Ukas kam, der die literarische Produktion der Finnen auf Andachtsbücher und landwirtschaftliche Schriften beschränken wollte, war es um die spärlichen Sympathien, welche Russland in der finnischen Gesellschaft genossen, völlig und für immer geschehen. Eine tiefe Verstimmung gegen Alles, was den russischen Namen trug, verbreitete sich langsam aber unaufhaltbar über das gesamte Großfürstentum und ging alsbald mit stillen Hoffnungen auf eine dereinstige Rückkehr unter das schwedische Zepter Hand in Hand. Als zur Zeit des Krimkrieges die Flotten Englands und Frankreichs die finnländischen Häfen blockierten, vollends als im J. 1855 Schweden Miene machte, sich den Westmächten anzuschließen, bedurfte es der ganzen Energie des General-Gouverneurs Grafen Berg, um die „schlechte Gesinnung" der Helsingforser Jugend in Schranken zu halten und Demonstrationen von mindestens zweideutigem Charakter zu verhindern *). Allen Repressivmaßregeln zum Trotz zeigte sich für die Augen der Geheimpolizei so deutlich als immer möglich, dass die Finnländer sich in dem ausgebrochenen Kampfe als Westeuropäer fühlten und für die Opfer, welche die Verbindung mit Russland ihnen auferlegte, einen noch genaueren Maßstab besäßen, als für die Vorteile, die ihnen seit der Katastrophe von 1809 zu Teil geworden waren.

*) Im Frühjahr oder Sommer 1855 wurde der Student Philipp v. Schanz, ein Neffe des hochangesehenen russischen Admirals v. Schanz, relegiert, weil er auf einem öffentlichen Bankett den lakonischen, aber von Niemand missverstandenen Toast „Vivat Victoria“ ausgebracht hatte. —