Zweite Fortsetzung

Am Talboden oder in geringer Höhe über ihm hört die Steilheit der Bachbetten und Gehänge auf, die wir als erstes Charakteristikum für Wildbäche kennen gelernt haben. Mündet also ein solcher in ein Tal, so muss seine ganze Wucht zerschellen; er muss alles mitgeführte Material ablagern, und zwar dort am meisten, wo seine Transportkraft am jähesten gebrochen wurde: das ist an der Mündung des Tobels.

Es ist beobachtet worden, dass der Schlammstrom im Tobel selbst kleine Felsnasen einfach übersprang, unbekümmert um Windungen des Bettes. Entgegen dem Bestreben aber, infolge der lebendigen Kraft eine möglichst gerade Bahn beizubehalten, sucht die Mure doch, stets in der tiefsten vorhandenen Rinne zu fließen. Legt sich also an der einen Stelle eine Zunge (Tafel 9), ein Wulst des Breies in das Tal, so werden sich die Nachschübe nicht auf ihn legen, sondern neben ihn. Ständig wechselt so der Ort der Ablagerung, an der Tobelmündung den Anfang nehmend. Ständig türmen sich neue Massen rundum auf die unterste Lage, die den ältesten Muren ihre Entstehung dankt. Die schließlich gebildete Form ist der Schwemmkegel.


Auf ihm finden wir dann oft die Bahn der jüngsten Mure, von wüsten Dämmen*) eingefasst. Wie so ganz verschieden voneinander sind die Erscheinungen im Abzugskanal, im Tobel, und auf dem Schuttkegel — und alle Unterschiede lassen sich auf die eine Ursache, die Gefällsverminderung, zurückführen. Mit rasender Eile jagt die Stirne der Mure, Riesenblöcke voraussendend, sich überstürzend, im Tobel einher. Wie Zündhölzer brechen mächtige Baumstämme. Aus dem Schuttkegel kann man vor ihr einhergehen. Selbst schwache Gebäude werden nur umflossen, „eingemurt“ und fallen nur manchmal dem Gewicht der lastenden Massen zum Opfer.

*) Da bei allen bewegten, fließenden Massen am Rande die Reibung am größten ist, muss die Verzögerung auch am größten sein. Mit ihr nimmt die Transportkraft ab und es muss Ablagerung eintreten.

Zahlreiche Wildbachbetten ziehen von den Gebirgskämmen in das Tal. Jedes häuft am Ausgang einen mehr oder weniger großen Schwemmkegel auf. Nun fragt es sich, wie sich der Bach, der Fluss im Tale gegen die herbeigeschleppten Massen verhält. Erinnern wir uns der Vorgänge des Geschiebetransportes und der Ablagerung, so können verschiedene Fälle eintreten, die sich in der Natur auch tatsächlich beobachten lassen. Nehmen wir an, der Fluss besitze die Kraft, das mächtig zuströmende Schuttmaterial fortzuführen. Fortgesetzt wächst der Schuttkegel in die Breite und Höhe; an seiner Stirne aber, die das Flussbett erreicht, nagen die Gewässer ständig jene Teile weg, die dem vorgeschobenen Außenrand angehören. Der Schuttkegel wird angeschnitten. Nicht fächerförmig sieht das Gebilde aus, sondern wie ein Fächer, dessen Rundung gerade abgestutzt worden ist. Wie das Anschneiden, das Unterwühlen geschieht, haben wir schon erörtert. Ständig brechen die lockeren Massen nach, eine öde, jäh ansteigende Schuttwand bildend, die von den getrübten Fluten zur sanft ansteigenden Oberfläche des Schuttkegels leitet. — Aus lange Erstreckung begleiten oft diese kahlen „Anbrüche“ den Fluss (s. Tafel 15). Haben Regengüsse den Schwemmkegel, besonders die steilen Anbrüche durchweicht, so geschieht das Nachbrechen ungemein leicht; ganze Partien rutschen zum Fluss hinab, ganze Schlammströme ergießen sich über die jähen Hänge, durch die nagende Tätigkeit des fließenden Wassers am Fuße des Anbruchs der Unterlage beraubt. Auch hier entstehen also „Muren“, wenn auch nur in kleinem Maßstab und ohne verheerende Wirkung.

Aber weiter: die Schnelligkeit, mit der ein Schwemmkegel wächst — gehen doch im selben Wildwasserbett in einem nassen Sommer allein eine ganze Reihe von Muren nieder —, ist meist so groß, dass die Schuttmassen in den Fluss hineinbauen, ihn allmählich zur Seite drängen, ihn sogar ganz gegen die andere Talwand verschieben können. Wie ein mächtiger Fächer legt sich dann der Schwemmkegel quer über das Tal, umströmt vom Fluss, der des Schuttzuschusses nicht mehr Herr werden kann (Abb. 4, S. 56). In vielen Alpentälern ist diese Erscheinung so ausgeprägt, dass die Eigenart des Tales wesentlich auf ihrer Wiederholung beruht. Jeder Wildbach baut seinen Kegel am Ausgang des Tobels auf; jeder drängt den Fluss zur Seite; rechts und links von dem Gerinne wachsen abwechselnd die Kegel, schieben sie sich quer über das Tal. Dann muss der Fluss hin und her pendeln, bald einen Bogen um den einen Fächer beschreibend, bald in weiter Rundung nach der anderen Seite ausweichend.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 009 Murgänge des Lammbaches am Brienzer See

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 009 Murgänge des Lammbaches am Brienzer See

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 015 Rheintal in den Schuttmassen des Flimser Bergsturzes

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Naturgewalten im Hochgebirge Abb. 004 Kartenbild des Schuttkegels von Levico im Suganatal

Naturgewalten im Hochgebirge Abb. 004 Kartenbild des Schuttkegels von Levico im Suganatal

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