Vierte Fortsetzung

Im Einzelnen wird uns die Betrachtung der Witterungsverhältnisse in den Alpen manche Aufklärung bringen, namentlich, wenn wir es unternehmen, die Verteilung der Murgänge, das Auftreten der Katastrophen in zeitlicher Folge zu erklären. — Die vorherrschenden Regenwinde kommen von Westen. Jeder Baum, jedes Haus, jeder Felsblock bestätigt den Satz. Die „Wetterseite“ der Bäume ist von grünen Algen und Flechten bedeckt, die nur dort genügend Wasser bekommen. Mauerwerk wird an der Wind- und Regenseite leicht zerstört; es bröckelt ab. Wir schützen die Hauser häufig durch eine Holzverschalung gegen diese Zerstörung. Der Fels wird an der Wetterseite am raschesten von Flechten und Moosen besiedelt; am ehesten bildet sich unter der lösenden, sprengenden Tätigkeit der Organismen eine Verwitterungskruste. Dort sind die Bedingungen für den Zerfall des Felsens in Trümmer am günstigsten. Und stets fällt bei uns die Wetterseite mit der Westseite zusammen. Es ist also verständlich, dass die Lage eines Berges, die Exposition eines Langes gegen die Regenwinde am schwersten in die Waagschale fällt bei der Beurteilung alpiner Katastrophen! Je höher ein Berg, desto mehr Niederschläge wird er erhalten. Leichter verdichten sich die Wolken, mehr Feuchtigkeit wird ihm zugeführt, denn ungehindert bestreichen ihn die Winde, die Träger des Wasserdampfes. Gleichgültig ist zunächst, ob die Niederschläge als Regen oder Schnee fallen. Stets sind die „Luvseiten“, die dem Regenwind ausgesetzt sind, auch feuchter als die geschützten „Leeseiten“. Nun wird uns klar, dass die nasse Regenseite eines Berges oder ganzen Gebirges auch reicher sein wird an Wasseradern, an Wildbächen, wenn im Platzregen die Rinnsale schwellen und sich einen.

Es ist aber nicht genug, dass das Wasser überhaupt fällt: es muss eine rasche, plötzliche Steigerung der Wasserkraft eintreten, die imstande ist, mit einem Schlag die ganze Erosionsarbeit zu leisten, die durch das Unvermögen des schmalen Bächleins aufgespeichert worden ist. Da sind es vornehmlich die Gewitter, die meist auf beschränktem Gebiet mit unbeschreiblicher Gewalt niederprasseln; kann man doch dies Schauspiel von luftiger Bergeshöhe betrachten, ohne nur einen Regentropfen zu bekommen! In kurzer Zeit ist jeder Graben wassererfüllt, jeder Bach ein reißender Strom, jeder Hohlweg ein Wildwasser! Fast nie geht solch Wetter nieder, ohne die höheren Berge mit Hagel zu übergießen. Die Wolken ziehen ab, die Schloßen bleiben liegen und schmelzen in der strahlenden Sonne mit unheimlicher Schnelligkeit. Das Tal unten atmet in wiedergefundener Ruhe auf — da brechen unerwartet die Muren durch die Wälder, gelöst durch die Schmelzwässer. Diese sind es auch, die zur Zeit des Föhn den Tälern den Schrecken bringen. Der warme Südwind, der die Alpen überschritten, streicht über die tiefverschneiten Kämme, löst Lawinen und bringt für weite Gebiete eine ungeheure Schneeschmelze. Während laue Luft in den Tälern das erste Grün hervorzaubert, stürzen oben auf sonnbeglänzten Scheiteln die Wasser und Lawinen zusammen und wälzen ein grauenhaftes Chaos von Schnee, Wasser, Gestein und Bäumen zu Tal.


Langandauernder Regen allein würde selten zu Katastrophen führen, wäre er nicht für den Bestand großer Massen lockeren Schuttwerkes verhängnisvoll. Wie ein Schwamm saugt sich das Trümmerwerk mit Wasser voll. Die groben Brocken beginnen in dem feinen, durchtränkten Brei förmlich zu schwimmen; alles gerät langsam in Bewegung. Rascher wird das Fließen, je steiler die Bahn wird. Als Mure bricht die Masse schließlich nieder, dem Gesetz der Schwere folgend.

Dieser Vorgang leitet uns schon zu einem anderen Punkte über: der Frage nach der Herkunft des Materials. Ist Wasser gestaut, so wird der Ausbruch der Hochflut häufig durch eine Mure eröffnet. Die Sperre liefert hier die festen Stoffe. Es ist fast gleichgültig, ob diese Stauung durch Bergstürze, Muren (Caoria!), durch Lawinen oder Gletscher, wie bei der Katastrophe im Martelltal (Südtirol), verursacht wurde. Auch die Nachlässigkeit der Alpenbewohner ist zur Verantwortung zu ziehen.

Die Überschwemmungskatastrophe im Zillertal (1908) z. B. wurde dadurch so sehr verschlimmert, dass einzelne Runsen, wie der Hopffelder Graben, durch gefällte Baumstämme versperrt waren. Und er ist berüchtigt als Wildtobel! Wasser und Schutt stauten sich und brachen mit doppelt verheerender Gewalt hervor, das bedrängte Tal heimsuchend.

Das feste Material kann noch anderer Herkunft sein. Der Bach unterwühlt die Felswände seiner Ufer, beraubt sie der Stütze. Sie brechen nieder, in kleine Stücke zerschellend. Ein Stausee geringeren Umfanges entsteht: alle Bedingungen sind hier für eine Mure gegeben, für die der feste Bestand eben erst geschaffen worden ist. Lose muss das Material sein, große Beweglichkeit muss es besitzen.

Es wirken nun im Gebirge alle Verwitterungsprozesse einander in die Hand, diese letzte Bedingung zu schaffen: Erzeugung großer Mengen beweglicher Gesteinsmassen (S. 5 — 10). Unter gleichen Bedingungen, d. h. aus Felsen gleicher Struktur und Lagerung, bei gleicher Verwitterungstätigkeit, werden auch an verschiedenen Orten gleiche Produkte hervorgehen. Daher kommt die universelle Verbreitung von Verwitterungsschutt im Gebirge, gleichviel, ob ihn diluviale Gletscher und Flüsse (S. 32) schufen oder ob heutige Eisströme die Moränen häuften, der tosende Bach heute die Stücke vom Felsen schlug. Indes war die Gletschererosion der Eiszeit eine wesentlich größere als heute, so dass wir ihre Moränen über große Gebiete mit bedeutender Mächtigkeit gebreitet sehen. Darum finden wir in ihnen naturgemäß die besten Förderer für Murbrüche. Sie werden zu den gefährlichsten und gefürchtetsten. Die Mure, die den Toblacher See (S. 44) staute, wurde durch eiszeitliche Moränen gespeist. Und sie war beträchtlich genug, eine bleibende Spur in der Landschaft zurückzulassen: den See! Natürlich schaffen auch heutige Gletscher bisweilen ein Gelände, auf dem gewalttätige Vorgänge der Abtragung zur vollen Entfaltung kommen können. Im Ötztal hinterließ der Vernagtferner bei seinem Rückzug eine aufgearbeitete Talstrecke: „Über 2 km zieht sich ein breites, felsdurchsetztes Schuttfeld von abschreckender Öde und Wildheit empor. . . Bei anhaltendem Regen kommt unheimliches Leben in die starre Landschaft. Muren durchfurchen die abschüssigen Schutthalden, losgewordene Moränenblöcke rollen zu Tal, und am Abbruch der Zwerchwand sausen zahllose Felstrümmer hernieder und schlagen mit lautem Getöse auf den Blockhalden auf. Im Frühsommer, zur Zeit der Schneeschmelze, ist hier kein Fußbreit Boden, über den nicht Lawinen fegen.“ (Finsterwalder.)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge