Sechste Fortsetzung

Moose und Graspolster saugen sich mit Regenwasser voll; der einzelne Tropfen, der durch seinen Fall ein Gesteinskörnchen in Bewegung setzen könnte, verliert seine lebendige Kraft im Anprall an Baumwipfel oder an den bemoosten, überwucherten Boden. Diese Summe von Arbeitskraft, die dergestalt vernichtet wird, ist eine sehr bedeutende, denn auch von einem ungehinderten Abfließen ist ja nicht die Rede. Jeder Grashalm ist ein Hindernis; millionenfach aufgehalten, sickern oder fließen die Gewässer auf der Pflanzendecke zu Tal, ohne den wohlverborgenen Boden, der sich unter der Grasnarbe vielleicht mit Wasser vollsaugt, wirklich zu bespülen.

Wieder führt uns diese Betrachtung zur Tätigkeit des Menschen, der in den Wäldern nur ein Kapital, eine Vorratskammer für Nutzholz erblickt, der das zähe Wurzelwerk der Alpenrosen rodet, um Weideland zu gewinnen, der mit dem Pflug den Boden lockert und so das Zustandekommen, das Hereinbrechen der Muren fördert. Indes darf nicht verkannt werden, dass dieser Einfluss stark überschätzt worden ist. Die Muren sind ein Phänomen, das in der Erdgeschichte seine Rolle spielt, seit Gebirge entstanden und abgetragen worden sind. Es ist also unrichtig zu meinen, erst die Rodung der Wälder durch den Menschen habe diese Naturgewalten wachgerufen; liegt doch der Herd, der Sammeltrichter, meist über der Region, in der Wälder gedeihen können! Zweifellos ist jedoch in einzelnen Fällen durch Nachlässigkeit oder Unbedacht schweres Unheil hervorgerufen worden. — Auf der anderen Seite stehen die Versuche, durch Verbauung den Ablauf der Gebirgsabtragung weniger gewalttätig zu gestalten. Freilich wirken diesen Bemühungen eine ganze Reihe anderer Geschehnisse entgegen, die mit menschlicher Wirtschaft in engem Zusammenhang stehen. Nicht leugbar ist der schädigende Einfluss des Eingriffes in die Pflanzendecke an steilen Gehängen, die der Wildwasserbildung günstig sind. Wird der Boden aufgelockert, etwa durch Pflügen, oder — eine Erscheinung, die wir auf den Almen überall beobachten können — durch den Tritt des Viehs; rinnen die Brunnenwässer ohne Fassung über die Hänge ab, um im Gehängeschutt zu versiegen, so können die Folgen sehr gefährlichen Charakter annehmen. Rutschungen in Wiesenhängen, Vorboten eines Massentransportes zur Tiefe, hervorgerufen durch die Tränkung des Bodens mit abfließendem Brunnenwasser, sind leider recht häufig. Aus dem Zillertal in Tirol wird berichtet, dass auf einer Alm (Hausleteralm) Erdbewegungen lediglich durch den Weidegang des Viehs vorbereitet wurden! Noch manches ließe sich hier anführen. — Gedenken wir der Verheerungen, die Wildbäche und Muren anrichten, so werden wir begreifen, dass die Anstrengungen keine geringen sind, dem Übel zu steuern. Haben doch einzelne Katastrophen eine erschreckende Zahl von Opfern gefordert. 1892 sind in St. Gervais im Mont-Blanc-Gebiet 150 Menschen umgekommen! Haustiere, Wild, Gegenstände gewerblichen Fleißes werden vernichtet, Felder verwüstet, Wälder gebrochen. Der unmittelbare Schaden ist ein sehr hoher und doch — er ist bei weitem nicht so schwer wie die Folgen, die sich auf Jahre hinaus fühlbar machen. Verkehrswege werden verschüttet, ganze Täler auf Wochen von der Außenwelt abgeschnitten. Aber auch Flussläufe werden verlegt, urbares Land überschwemmt, fruchtbarer Ackerboden in Sumpf und Moor verwandelt. Überaus häufig treffen wir in den Alpentälern den Wechsel: Schwemmkegel — Moor in steter Wiederholung. Die versumpften Landstriche sind oft die Reste alter Stauseen, wie dies im vorderen Zillertal der Fall sein dürfte. Der See ist ausgelaufen, der Abfluss ist aber nicht tief genug durch den Schuttkegel gesägt, um den Seeboden wieder trockenzulegen. Häufig ist auch die Versumpfung der erste Anfang der Wasserstauung. Noch vermag der Fluss seinen Weg offen zu halten: in weitem Bogen gleitet er am Saum der Aufschüttung entlang. Aber das Flussbett wird stets mehr eingeengt, stets flacher. Immer mehr werden sich die Wasser oberhalb des Kegels ausbreiten.


Die Schwemmkegel selbst sind ungemein fruchtbar, oft bevorzugt vor allen anderen Teilen der Täler. Hier sind auch die Siedelungen, hier die Felder und Gärten. Und doch sind hier die Gefahren am größten! Aber zäh hält der Alpenbewohner an der Scholle fest. In den meisten Fällen wäre es auch unverantwortlich, den fruchtbaren Boden fahren zu lassen. Nur müssen dann die volkswirtschaftlichen Werte vor Zerstörung geschützt werden. Um dies zu tun, sucht man dem Bachbett eine feste Bahn zu geben. Fegt die Mure nun zwischen Dämmen dahin, so wird ihr Material das Bett bald ausfüllen. Neue Dammerhöhungen werden notwendig. Bald liegt das Bachbett hoch über den Fluren. Die Wege müssen ansteigen, um die Dämme zu überschreiten, oder es führen Tore durch die Wälle. Bei Roncegno (Val Sugana, Südtirol) werden zu Regenzeiten diese Tore durch mächtige Bohlen verschlossen. Freilich kann es geschehen, dass die Wildwasser die überhohen Dämme durchbrechen und sich mit doppelt verheerender Gewalt über das ganze Kulturland ergießen. Dann zu meinen, der Kampf gegen Naturgewalten sei vergeblich, ist verfehlt. Angesichts der zahlreichen gelungenen Verbauungen darf wohl ausgesprochen werden, dass die menschlichen Bemühungen hier von Erfolg gekrönt worden sind. Es handelt sich ja nicht darum, den abtragenden Kräften im Gebirge entgegenzuarbeiten; das wäre vermessen! Sie aber in gemäßigte Bahnen zu leiten, die plötzliche, zeitweise wiederkehrende Geschiebeführung in einen ununterbrochenen, unschädlichen Massentransport zu verwandeln, ist Aufgabe des Technikers. Die Quermauern, die im Tobel und oben im Sammeltrichter auch in den verzweigtesten Rissen und Furchen gebaut werden, haben also nicht den Zweck, die Zufuhr von Schuttwerk zu verstopfen, sondern die Wucht zusammenströmenden Wassers immer wieder aufs neue zu brechen. Die Mure soll zum Gießbach werden, der in hundert Kaskaden das Tal erreicht. Hand in Hand damit muss die Festigung der Talhänge gehen; wir treffen sie in den Alpen so oft in Form ausgedehnter Weidengeflechte und Verpfählungen an. Hierdurch wird eine starke Schuttzufuhr von den Seiten her verhütet.

Durchwandern wir zum Schlusse eines der großen Alpentäler, so werden wir in manchen Zügen der Landschaft die bleibenden Nachwirkungen der Muren und Wildwasser erkennen. Das Vintschgau, das der Oberlauf der Etsch durchströmt, bietet vortreffliche Gelegenheit. Breit ist das Tal eingesenkt zwischen die Schneehäupter der Zentralalpen und der Ortlergruppe. Eisfreie, langgestreckte Kämme, Ausläufer der genannten Gebirgsgruppen, senken sich mit überaus steilen Hängen in das grüne, sonnige Tal. Kleine Nebentäler münden von Norden und Süden und gewähren dem staunenden Auge einen entzückenden Einblick in die Eiswelt weit in ihrem Hintergrunde. Unzählige Wasserrisse durchfurchen die Hänge des breiten Tales, schneiden aus den Schiefermassen der Berge ein scharfes, lebendiges Relief. An ihrem Ausgang liegen die Schuttmassen zu kleinen Kegeln gehäuft. Diese Einzelheiten sind es jedoch nicht, die dem Beschauer in die Augen fallen, obgleich auch sie ohne Ausnahme Wildwasser zu Bildnern hatten. Die breiten, über und über begrünten Schuttkegel am Ausgang der tiefen Nebenschluchten bedingen die ganze Eigenart des blühenden Vintschgaus. Wie breite Kuchen, bis zu 500 m Höhe mit ihrer Spitze in die Tobel ansteigend, mit den sanft geneigten Fluren einen Halbkreis von vielen Kilometern Umfang beschreibend, liegen die Kegel quer über den Talboden gebreitet. Von beiden Seiten schieben sich die behäbigen Massen in das Tal, die Etsch in weiten Bogen von Talseite zu Talseite drängend. Auch die Bahn muss in langen Umwegen die Höhe erklimmen, um sich talauf wieder zu senken. Von Reschen, dem Ursprungsort des Flusses, kommend, erreichen wir den Reschensee, ein Becken, das durch einen kleineren Schuttkegel entstanden ist. In kurzer Zeit gelangen wir an zwei weitere Seen derselben Entstehungsart, voneinander getrennt durch die stauenden Schuttmassen. Der ganze breite Talboden aber, der mit auffällig steilem Gefälle nach dem Ausgang des Suldentales zu absinkt, die ganze ungeheure Masse, die Mals und eine Reihe anderer alter Städtchen, Marktflecken und Dörfer trägt, der Untergrund, auf dem die drei Reschenseen ruhen, das alles ist ein einziger, mächtiger Schuttkegel, der das Tal 500 m hoch mit seinem Material erfüllt. Dies ist die berühmte Malser Heide. Von hier nach abwärts beginnt der eigenartige Wechsel flacher Talstrecken, die meist Weideland sind, und geneigter, hoher Schuttkegel, auf denen sich ein wahrer Garten von Obstbäumen und Feldern dehnt. Sie sind immerwährend bedrohte Striche blühenden Landes! — Nicht so scharf prägen sich die Schuttkegel unterhalb Meran aus; indes tritt hier die Erscheinung auf, dass das Tal oberhalb Bozen durch die gemeinsamen Aufschüttungen der Eisack und Talfer, Tributäre der Etsch, versumpft ist. — Allenthalben wiederholen sich diese Züge in unseren Alpen und bezeugen, welch große Bedeutung den Muren
als Ausgestaltern des Gebirges zukommt!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge