Fünfte Fortsetzung

Ist das Gestein „weich“, leicht zerstörbar, so lässt es das Wasser wenig einsickern. Oberflächlich läuft es ab und strömt rasch in Sammeltrichtern zusammen. Wo Schiefer, Ton, Mergel die Berge aufbauen, da sind Muren eine häufige Erscheinung. Der in grobe Blöcke aufgelöste Granit, die schweren Kalktrümmer eines Bergsturzes eignen sich nicht zum „Muren“. Ihnen mangelt schon die Beweglichkeit, die umso geringer wird, je größer die Brocken sind. Auch bei stärkerer Neigung des Untergrundes, die diese Beweglichkeit erhöht, werden die oft zu zyklopischen Mauern getürmten Blöcke nur schwer ins Wanken geraten! So hängt denn das Muren auch von der Gesteinsbeschaffenheit ab!

Wenn ich S. 47 hervorhob, dass die bloße Durchweichung losen Schuttes zu Murbrüchen führen kann, so ist damit schon angedeutet, dass der Grad der Trockenheit oder Durchnässung für die Beweglichkeit maßgebend sein muss. Dies prägt sich auch schon in der Steilheit einer Lehne aus. Trockene Schutthalden, wie sie alle Felswände umsäumen, senken sich unter Winkeln von 40—45 Grad zu Tal. Sind das auch Höchstwerte, so übertrifft doch die Durchschnittsneigung von etwa 30 Grad bei weitem diejenige nasser Schwemmkegel, die höchstens mit 10—15 Grad geböscht sind.


Sickerwässer und Quellen vermindern innerhalb der Schuttablagerung, sei sie welcher Art immer, die Reibung der einzelnen Teile gegeneinander. Wasser und staubfeine Partikelchen bilden eine Grundmasse, in der die gröberen Trümmer schwimmen und große Beweglichkeit erlangen. Durchschneidet also ein Bach, wie z. B. der Ahrnbach im Zillertal, von Sickerwässern durchtränkte Schutthänge, so neigt er ganz besonders zur Murbildung. Regelmäßig Herbstregen der Südalpen — Sanierung durch die Pflanzennarbe 51 entsendet er bei Regen seine Schlammfluten; am verheerendsten kam er bei der Katastrophe von 1908 zu Wort. Zu den durch Abbruch im Sammelgebiet entstandenen Massen gesellen sich noch solche, die im Tobel aufgespeichert worden waren. Die große Lammbachmure von 1896 (Tafel 9) zeigte ähnliche Verhältnisse: seit Jahren kündigte sich durch Spaltenbildung der Abbruch an. Als nun eine Quelle an seinem Fuß, durch starke Schneefälle der Jahre 1895/96 wasserreich, den Sturz herbeiführte, rissen die mit Rasenpolstern und Waldpartien beladenen Schuttmassen alles lockere Material im Abzugskanal mit sich. 3 1/2 km lang, 5 m hoch, 120 m breit wälzte sich der Schuttstrom dem Brienzer See zu.


Die Möglichkeit einer vollständigen Durchweichung ist dann gegeben, wenn langdauernder Regen einsetzt. Ist dieser auf eine bestimmte Jahreszeit beschränkt, so dürfen wir ein regelmäßiges, zeitliches Auftreten auch der Muren erwarten. Und in der Tat sind z. B. die überaus verheerenden Murgänge der südlichen Alpen mit den Herbstregen aufs innigste verknüpft.

Die Natur schafft aber selbst gleichsam ein Schutzmittel gegen das gewaltsame Aufreißen, Zerfurchen der Bergeshänge. Aus dem fruchtbaren Boden, den die Verwitterung aufbereitet, zerkleinert hat, gedeiht eine dichte Pflanzendecke. Die oberirdischen Teile der Pflanze entnehmen dem Untergrund Wasser, das in Dampfform wieder an die Luft abgegeben wird. Die Austrocknung nasser Schuttmassen erfährt durch die Planzennarbe eine wesentliche Förderung. In den Alpenländern ist diese Tatsache von höchster Bedeutung, weil der Mensch, obgleich er die Gefahr kennt, meist nicht daran denkt, das Übel an der Wurzel zu bekämpfen. Lässt sich auch verstehen, dass der Bauer oder die arme Gemeinde eine kostspielige Quellfassung scheut, so sollte doch die Überlegung maßgebend sein, dass der Wert der kulturellen Güter, die fast mit Sicherheit alljährlich zerstört werden, ungleich größer ist als die Ausgaben für eine Trocknungsanlage. Die Natur tritt hier für die Lässigkeit des Menschen ein; sie unterstützt ihn aber auch dort, wo seine Maßnahmen nicht ausreichen können. Ein geschlossener Waldbestand kann die Gefahr der Durchfeuchtung von Lehnen einigermaßen beheben, kann zur Sicherheit vor Murbrüchen wesentlich beitragen. Einwandfrei ist beobachtet worden, dass nach Abholzen eines Waldes Quellen zutage kamen, dass der Überschuss an Wasser Pfützen und Tümpel bildete! Abgesehen von dieser „sanierenden“ Wirksamkeit der Planzendecke wird die Festigkeit des lockeren Bodens auch noch auf andere Weise erhöht. Von verwickelten Vorgängen, wie Temperaturerhöhung des Bodens durch die Pflanzen will ich hier nicht sprechen. Dass infolgedessen auch der Frost seine lockernde Tätigkeit nicht mit vollem Erfolg entfalten kann, liegt auf der Hand. Rein mechanischer Natur sind die hauptsächlichsten Schutzwirkungen der Vegetation, die auch für die Gebiete über der Waldgrenze Geltung haben, in denen ja besonders die Sammeltrichter liegen. Die Pflanzen, und zwar sind es in größerer Höhe Alpenrosenstauden und Gräser, umspannen mit dichtem Netz von Wurzelfasern die feineren Gesteinskörner, die sonst schon durch heftigere Windstöße fortbewegt würden. Dickere Wurzelsträhne wirken wie eingerammte Pfähle. Sie stützen die beweglichen Massen in größerem Umkreis. Denken wir nur an die Dünen etwa der deutschen Küsten, die jede Wanderlust verlieren, sobald ein frischgrünes Kleid von Gräsern sie besiedelt! Unterstützt die Vegetation auch die Verwitterung, so hindert sie doch den Transport zu Tale; sie verzögert ihn und verhütet die katastrophale Talfahrt.

Nicht unbeachtet darf bleiben, dass die Wucht aufschlagender Regentropfen gemildert wird, dass die nicht hoch genug zu veranschlagende Tätigkeit rieselnden Wassers unterbunden werden kann. Vollständig trifft dies natürlich nicht zu, denn bei Landregen, der oft wochenlang dauern kann, wird jede Schuttmasse, ob sie von dichtem Wald bestanden ist oder nicht, durch und durch mit Wasser getränkt. Kein Mittel irgendwelcher Art vermag dann Murbrüche zu verhüten!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 009 Murgänge des Lammbaches am Brienzer See

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 009 Murgänge des Lammbaches am Brienzer See

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