Lawinen

Zu den bekanntesten Katastrophen des Hochgebirges gehören die Lawinen. Untrennbar sind sie in der Vorstellung eines jeden mit der wilden Romantik der Bergwelt verknüpft. Das hat seine Gründe: einmal gehört dies Phänomen durch seine Abhängigkeit von der Natur des Hochgebirges tatsächlich zu den häufigsten, immer wiederkehrenden Ereignissen, die stets aufs neue Aufmerksamkeit und Bewunderung auf sich lenken. Und dann sind die Lawinen in wirtschaftlicher Hinsicht hochbedeutsam. Viel ist darum über ihr Wesen, ihren Verbau geschrieben worden, vornehmlich in forstwirtschaftlichen Zeitschriften; denn die Forstschäden sind es vor allen Dingen, die zu einem Verbau auffordern mussten.

Diese Seite ist es aber nicht, die hier zunächst unser Interesse fesselt. Die Bedeutung der Lawinen als Formengestalter im Hochgebirge werden und wollen wir würdigen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass auch sie eine Art des Massentransportes zur Tiefe sind. Auch sie haben teil an den abtragenden Vorgängen, die dem Gebirge sein Relief geben.


Über der Schneegrenze bleibt stets ein Teil des Winterschnees liegen, den die Sommerwärme nicht bewältigen kann. Jahr für Jahr sammeln sich die Schneereste an, bilden bald eine geschlossene, mächtige Masse, deren Wachstum ohne Beschränkung weiterginge, stellte die Natur nicht selbst wieder das Gleichgewicht her. Die eigene Last der vielen Schneeschichten ist es, die den Ausgleich herbeiführt. Und zwar geschieht dies in zwei Formen. Die eine haben wir kennen gelernt: die Gletscher (S. 25). An steilen Gehängen können sich aber Schneemassen nicht lange genug halten; sie geraten unter ihrem eigenen Gewicht ins Gleiten. Rasch überstürzen sich die Schneekaskaden: die Lawine donnert zur Tiefe. Dies ist die zweite Art, wie die Natur gleichsam zur Selbsthilfe greift, um nicht die Gebirge unter tiefem Schnee. und Eismantel gänzlich begraben zu lassen. Durch Gletscher und Lawinen wird winterlicher Schnee in Regionen geschafft, in denen Wärme genug ist, den Überfluss zu schmelzen. Bei beiden Arten der Bewegung zu Tal ist, wie bei jedem Abtragungsvorgang, das Gesetz der Schwere der treibende Faktor. Rinnendes Wasser, zähe Gletscherströme, verheerende Muren, krachende Lawinen, sie alle sind ein Ausdruck hierfür. — Noch weiter geht die Ähnlichkeit der Lawinen mit uns bekannten Erscheinungen! Bei allen Bewegungen auf dem festen Land, wie bei Flüssen, Bergstürzen, Steinschlag und anderen mehr, können wir das Gebiet, in dem sich einer dieser Vorgänge ab. spielt, in mehrere Teile gliedern, die eine verschiedene Rolle spielen. Erinnern wir uns nur der Wildbäche, die im Sammeltrichter Wasser und Schutt zusammenraffen, diese durch den Tobel hinabwälzen, die Massen schließlich auf dem Schwemmkegel ablagern. Auch für die Lawinen unterscheiden wir ein Sammel- oder Nährgebiet, einen Abfluss oder die Sturzbahn und ein Gebiet der Ablagerung. Diese drei Hauptmomente bestimmen das Wesen der Lawinen, sind maßgebend für ihre Wirksamkeit und ihre Verbreitung. Kann doch die Ernährung durch die Schneeregion nicht in einer Höhe liegen, die unter der Schneegrenze hinzieht. Wandert im Winter die Schneegrenze bis in die Täler herab, so ergibt sich daraus unmittelbar nicht nur der räumliche, sondern auch der zeitliche Verbreitungsbezirk der Lawinen, denn mit der Schneegrenze wandert das „Nährgebiet“.

Reisen wir an einem Tautage des ersten Frühlings ins Gebirge, so ermessen wir am besten, dass die Lawinen eine universelle Erscheinung des Hochgebirges sind, dass sie zur Charakteristik jedes einzelnen Tales, des gesamten Gebirges gehören. Von allen Hängen stäuben sie herab, aus allen Schluchten hört man sie donnern, von allen Seiten tönt das Echo. Wie Wasserfälle fegen sie über die steilen Flanken der Berge, hundertfältig zerteilt in blendend weiße Silberfäden, und brechen mit elementarer Gewalt in die Wälder. Es ist, als schüttelte die Bergwelt das Winterkleid ab, als drängte die Natur gewaltsam aus den eisigen Banden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge