Dritte Fortsetzung

Noch eine andere Art alpiner Unglücksfälle gehört in die Rubrik: abgehende Lawinen. Das ist das Lostreten von Schneewächten und Schneeschildern. An den Kämmen des Gebirges sammelt sich der Schnee an, herbeigefegt durch den Wind. Die einzelnen Teilchen haften fest aneinander und bauen eine oft viele Meter dicke Brücke auf, die nach der Seite überhängt, nach der der Wind bläst. Ein Betreten dieses trügerischen Gebildes kann zum jähen Sturze führen, denn meist ist die Wächte nicht stark genug, eine Menschenlast zu tragen. Sie schwebt über dem Abgrund. Vorsichtig muss sie umgangen werden. Stufen werden in den steilen Lang unter ihr geschlagen, tief genug unter der schneeigen Höhe des Kammes, dass ein Ab. brechen den Menschen auf seinem mühsam gebahnten Weg nicht gefährde. Nicht immer sind die Verhältnisse so leicht zu überblicken, die Hindernisse so leicht zu überwinden, wie unser Bild darstellt (Tafel 22)!

Die in Bewegung geratene Masse gleitet, wälzt sich, „fließt“ in wüstem Durcheinander abwärts, wobei aber der ballige Schnee beisammenbleibt. In den gewundenen, von Felsstufen unterbrochenen Rissen kommt es auch vor, dass die Lawine in freiem Fall zur Tiefe stürzt oder am Ausgang eines Tobels über eine Steilwand das Tal erreicht. Aber auch dann bildet sich keine Schneestaubwolke, sondern wie ein Hydrantenstrahl spritzt der Schnee auf. Nach allen Seiten jagen Knollen und Ballen aller Größen durch die Luft, um sich unter der Stufe wieder zu geschlossenem Strom zu vereinigen. Die Hänge, über die die Lawine hinwegschießt, bleiben oft vollkommen unversehrt, wie der kleine Wald „im toten Winkel“, über den in weitem Bogen die „Urbachlaui“ (Berner Oberland) durch die Luft donnert und erst weiter unterhalb den Boden wieder erreicht.

Wird der Untergrund flacher, so hemmt sich allmählich die Bewegung. Mit breiter, hoher Stirne wälzt sich die Lawine über ihren Kegel. Weiter oberhalb ist es mehr ein Fließen innerhalb des murgangähnlichen Schneestromes. Phänomene, wie wir sie an Muren wahrgenommen, wiederholen sich auch hier. An den Rändern der Schneemassen, die wie Zungen, wie Lavaströme ins Tal herablecken, ist die Bewegung eine langsamere. Stets sind hier neue Hemmnisse vorhanden, an denen sich der Schnee in langen Wällen staut. Wie wir bei Muren eine Eindämmung des Schuttstromes beobachten konnten, so lagern sich auch an den Seiten der Lawinen häufig Schneedämme ab, zwischen denen die Massen wie in einem Kanal dahinschießen. Selbst an steilen Hängen, in engen Schluchten wirft der Schneestrom randliche Wälle auf, die nach oben im Sammelgebiet verschwinden, nach unten auf dem Lawinenkegel auslaufen. Begleiter der Bewegung, sind diese Wälle auch am schärfsten entlang der Sturzbahn ausgeprägt. Auch der Boden der Sturzbahn weist unzählige Unebenheiten auf, die hemmend auf den Lawinengang wirken. Sie aber werden leicht überwunden. Der Winterschnee glättet die Hänge der Berge und Schluchten dadurch, dass er sich in Hohlformen ansammelt, die Unregelmäßigkeiten ausgleicht. Dann sind es vor allem die unzähligen kleinen Lawinen und Schneestürze, die in den Rinnen nur auf kurze Erstreckung niedergehen, das Geleise der nachfolgenden Grundlawine ausfahren. Sie findet, wenn sie von oben, aus der Region über der Waldgrenze herabdonnert, ihren Talweg bereitet und arbeitet ihn wohl selbst noch aus.


An ihrer Stirne überstürzen sich die Massen; viele grobe und feine Schneebällen werden von dem geschlossenen Strom überholt. Ständig gerät so Schnee an die Unterseite der Lawine und wird gegen den Boden gedrückt, förmlich zusammengestampft. Streifige Gleitflächen werden in diese Schneeunterlage eingefurcht, wenn die Lawine zu Tal fegt. Nach ihrem Abgang kann man den beinharten Untergrund mühelos überschreiten. Viel schwieriger gestaltet sich das Wandern über die zwar festen, aber chaotisch getürmten Trümmer der Lawine selbst. Die Festigkeit der anscheinend nur lose geballten Massen überrascht uns. Sie erklärt sich aus der Art des Stehenbleibens. Die Stirne der Grundlawine verzögert zuerst die Bewegung; sie bremst. Die Massen, die nachfolgen, pressen und drücken von oben nach. Knirschend, ächzend kommt der Schneestrom zur Ruhe. „Die Lawine schreit“ und steht nach wenigen Augenblicken, eine breite Zunge auf dem Lawinenkegel (Tafel 23). Der Druck innerhalb der sich setzenden Lawine ist ein enormer. Übereinstimmend berichten Menschen, die mit Lawinen gestürzt sind, dass sie sich in der gleitenden Masse frei bewegen konnten. Erst vor dem Stillstehen ließ sich zunächst ein Knirschen und Stöhnen vernehmen; dann folgte eine Pressung, die die Eingeschlossenen zu zerquetschen drohte, worauf jede Bewegungsfreiheit der Glieder aufhörte. In festes Eis fanden sie sich eingebettet. Ja, es wird berichtet, dass mitunter Abgestürzte auf der Lawine wie auf einer Flüssigkeit schwammen, aber beim Stillstand einen Fuß, eine Hand, einen Rockzipfel zwischen den Schnee geraten ließen und so derart gefesselt wurden, dass eine Befreiung ohne fremde Hilfe unmöglich wurde. Der Rock, dessen Ende eingeklemmt worden war, musste zurückgelassen werden; Eishacken mussten die in Schneeeis eingegossenen Gliedmaßen befreien.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 022 Schneewächte am Kleinglockner, Kärnten

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 022 Schneewächte am Kleinglockner, Kärnten

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 023 Grundlawine auf dem Lawinenkegel

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 023 Grundlawine auf dem Lawinenkegel

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