Bergstürze

In das Reich furchtbarer Naturgewalten begeben wir uns, wenn wir unser Augenmerk wieder auf die

Bergstürze


lenken. Einzelerscheinungen sind sie; einzeln wollen wir sie auch betrachten. Wir wollen versuchen, an konkreten Beispielen die Ursachen und Bedingungen kennen zu lernen, die schlummernde Kräfte in so gewaltsamer Weise zum Erwachen bringen können.

„Bergstürze“ soll nicht heißen, dass die Berge einstürzen, wenn auch ein solches Ereignis tatsächlich in Südtirol einmal eingetreten ist. Erscheinen uns auch die Felsmassen, die den Talboden überschütten, riesig groß, so sind sie doch im Verhältnis zur Größe des Berges, von dem sie losgebrochen, unendlich klein. Klein sind auch die Wunden, die durch das Losbrechen in die Felshänge geschlagen werden. Ja, wenn die Abrissnische wieder mit Vegetation überkleidet ist, ist es selbst für einen Kenner schwer, sie zu entdecken. Der einzelne Bergsturz verändert also das Landschaftsbild kaum, wohl aber gräbt die jahrtausendealte, immer wiederkehrende Erscheinung ihre Züge in das Relief der Gebirgswelt. Im südlichen Tirol, in der Brentagruppe, ist 1882 ein ganzer Berg zu Tal gestürzt. In der Einöde geschah der merkwürdige Fall; deshalb blieb er lange unbekannt. Ein wohl 400 m hoher Felsturm, bizarr und kühn geschnitten wie die Spitzen dieses Gebirges überhaupt, geriet ins Wanken. Er schlug beim Sturz auf eine Felsbastion und der schneeweiße Kalkfels zerspratzte dabei in Milliarden kleiner Stücke, die nun wie Sandkörner nach allen Seiten stoben und über die Wände herabrieselten. Das aber ist nur eine Nachricht aus dem Gebiet; und doch — betrachten wir das Bild, das die formenschöne Brentagruppe gewährt (Tafel 12), so sehen wir allenthalben unter finsteren, drohenden Wänden die Trümmer der Felsstürze liegen. Und wir werden gewahr, dass wir vor einem Gebirge stehen, dessen wilde Schönheit, dessen jähe, hochgetürmte Gipfel das Ergebnis fortdauernder Abtragung sind, und zwar zum großen Teil jener Form der Abtragung, die gleich ganze Felswände zur Tiefe führt: der Bergstürze. Vielleicht spricht aber dies Beispiel nicht deutlich genug, weil hier die Schichten der Sedimente fast horizontal liegen. Gehen wir in Gegenden mit geneigten Gesteinsschichten, so überrascht uns in der Tat die Schärfe, mit der sich die dauernde Wirksamkeit dieser „Einzelerscheinung“ ausprägt. Unser Weg führt über die Gemmi, von Kandersteg nach dem Rhonetal. Das Kandertal ist streckenweise ein „Längstal“, d. h., sein Verlauf fällt in das Streichen der Schichten. Diese neigen sich also auf der einen Seite in das Tal und werden durch die andere Talflanke quer abgeschnitten (Tafel 13). In langen Plattenreihen und glatten, steil geneigten Flächen senken sich auf der Ostseite die Hänge zum Talboden: es sind Schichtflächen. Ständiges Ausbrechen und Ausgleiten auf glatter Schichtfläche hat nicht nur eine Reihe von Abrissnischen geschaffen, sondern die ganzen langhin gezogenen Wandfluchten, die mit etwa 30 Grad Neigung dem Talboden zu sinken. Im nächsten Abschnitt lernen wir anlässlich der Katastrophe an der Altels dies charakteristische Landschaftsbild des Näheren kennen (Tafel 29). Die enormen Massen von Trümmerwerk, die bei Kandersteg liegen, die an anderer Stelle den Öschinensee aufgedämmt haben, die allenthalben den Talboden überdecken, verraten uns, dass Bergstürze die Eigenart des Tales wesentlich mitbedingten. Wir ersehen ferner, dass die Berge durch die Abrissgebiete, die Täler durch die Anhäufung der Trümmer ihr landschaftliches Gepräge erfahren, und werden dazu geführt, wie bei allen Massenbewegungen im Gebirge, auch bei Felsstürzen ein Abriss- und ein Ablagerungsgebiet zu unterscheiden. Zwischen beiden liegt die Sturzbahn.

Die Ursachen, die den Sturz großer Felsmassen veranlassen, können recht mannigfacher Natur sein. Zu beachten bleibt, dass die Ursachen meist nicht unmittelbar zu erkennen sind. Sie reichen oft lange Zeit zurück und sind oft tief verborgen. Erst ein äußerer Anlass, ein Impuls bringt die lange, vielleicht seit Jahrzehnten vorbereitete Katastrophe zur Auslösung. Nur das eine Allgemeine lässt sich sagen: der Schwere folgend, bricht eine Felspartie los, weil sie entweder unterhöhlt wurde oder weil sie auf toniger, durchweichter Unterlage den Halt verlor und ins Gleiten geriet. Da erinnern wir uns wieder des Bergrutsches von Mühlhausen! Bei geneigter Schichtlage, steilen Gehängen und dem Vorhandensein von Wasser können riesige Massen ins Wanken geraten. Daraus sind denn auch zwei Bergstürze zurückzuführen, die hohes Interesse verdienen, weil sie in historischer Zeit niedergingen. In Südtirol, bei Roveredo passiert die Bahn ein wüstes Trümmerfeld mitten im Etschtal. Es ist eine Hügellandschaft für sich, die im breiten Tal den Fuß des Monte Zugna umsäumt: die Lavini di San Marco (Tafel 14). In den Chroniken finden wir das Ereignis verzeichnet (IX. Jahrhundert). Weit ging der Ruf der Katastrophe, die die Etsch aufstaute, die Kaiserstraße nach Italien verschüttete, die Stadt Lagaris begrub. Selbst bei Dante lesen wir davon!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 012 Brentagruppe, Südtirol. Bergsturztrümmer liegen auf allen weniger geneigten Absätzen unter den schwarzen Steilwänden

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 012 Brentagruppe, Südtirol. Bergsturztrümmer liegen auf allen weniger geneigten Absätzen unter den schwarzen Steilwänden

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 013 Fisistock. Abrissnische des Bergsturzes von Kandersteg

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 013 Fisistock. Abrissnische des Bergsturzes von Kandersteg

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 029 Die Altels. Die Abrissnische im Gletscher

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 029 Die Altels. Die Abrissnische im Gletscher

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 014 Abrissnische der Lavini di San Marco vom Trümmerfeld aus, Südtirol

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 014 Abrissnische der Lavini di San Marco vom Trümmerfeld aus, Südtirol

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