Vierte Fortsetzung

Folgen wir einmal dem Rheintal aufwärts, so scheint das Tal mit einem Male durch hohe Waldhügel abgedämmt. Es sind Schuttberge, auf deren Rücken wir einzelne kleine Seen aufgedämmt sehen: Reste eines riesengroßen Bergsturzes, durch dessen Trümmer der Rhein in tiefer Schlucht sein Bett gegraben hat. Fünfzehnhundertmal größer ist die Masse dieses Sturzes als die von Elm! Der Rhein nagt an den lockeren Steilwänden, kleine Muren gehen über sie herab, die Schlucht stets vergrößernd (Tafel 15). Gleiches geht an den Nebenflüssen vor sich, so dass wir den Schuttkegel des vorgeschichtlichen Bergsturzes von Flims schon zerfressen, aufgelöst sehen (sog. Toma). Schließlich wird er ganz verschwinden.

Vergänglich wie das Gebirge selbst sind die Spuren, die ihm durch gewalttätige Vorgänge eingegraben werden. Von Bestand sind sie nur, wenn wir sie nach menschlichem Ermessen beurteilen. Und da treten uns denn allenthalben charakteristische Züge entgegen, „dauernde Wirkungen der Bergstürze,“ die wir mit den zu Beginn des Abschnittes angedeuteten vereinen können.

Zu den auffälligsten gehören die Stauseen (Tafel 16). Recht vergänglicher Natur sind sie meist. Die Aflenz, 1892 durch einen Bergsturz am Arlberg (bei Langen) zum See gestaut, brach gleich durch und führte als mächtige Mure den feinen Gesteinsstaub, die geschrammten und zerschlagenen Blöcke über fruchtbares Land. — Dieser Ausgang ist nicht stets zu befürchten. Das lockere Schuttwerk, zwischen dessen splitterigen, eckigen Blöcken viele Hohlräume umschlossen sind, wird durchtränkt; das Wasser sickert durch, wühlt sich allmählich einen Ausweg, den das zusammenrutschende, ausweichende Material mit der Zeit vergrößert.

Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass der See als solcher erhalten bleibt. Eine ganze Anzahl unserer Alpenseen ist durch Bergsturzmaterial aufgestaut worden. Ich erinnere nur an den Alleghesee, umgeben von großartiger Dolomitenwelt, den Loppio- und Molvenosee im sonnigen Südtirol, den Eibsee am Nordfuß der Zugspitze. Das berühmteste Beispiel jedoch, das auch deshalb Interesse verdient, weil sein Werden und Schicksal beobachtet worden ist, findet sich im Himalaja: der Gohnasee in Garhwal (Tafel 17). Tiefer als unsere Alpentäler schneiden steilwandige Schluchten in das höchste Gebirge der Erde. Jäh, bis über 4000 in Höhe bewaldet, streichen die Hänge zu den Gebirgskämmen empor. Im engen Tal ist kaum Raum für den tosenden Strom und einen Verkehrsweg.

Heftige Regengüsse des Winters 1893 lösten im Birahi-Ganga-Tal die gelockerten Felsmassen, die sich nun als 400 m hoher Damm über das Tal legten. Die Verwaltungsbehörden organisierten sogleich einen Nachrichtendienst, der Warnung erteilen sollte, wenn das Wasserbecken zum Überfließen käme. Schutzbauten wurden errichtet, alle Vorkehrungen getroffen, die erwarteten Verheerungen möglichst einzuschränken. Freilich machte sich dann der endliche Durchbruch doch auf viele hundert Kilometer fühlbar: Straßen, Brücken, Kulturland wurden selbst noch im Gangestal zerstört. Doch Menschenleben waren nicht zu beklagen!


Kurz vor dem Überfließen hatte der See eine Länge von 7 km und eine Tiefe von 400 m. Das Wasser begann den Damm zu durchtränken, so dass an seiner Außenseite Rutschungen und Muren abgingen. Das Auslaufen ward so vorbereitet, und es begann im Sommer 1894. Rasch riss sich eine tiefe Schlucht durch das feine lockere Schuttwerk: als tobende Sturmwelle von 50 m Tiefe brach sich das Wasser Bahn. Doch als der Seespiegel mehr als 100 m gefallen war, kamen im Damme abgestürzte Kalkblöcke zum Vorschein, die, zu gigantischer Mauer aufgetürmt, dem Abfließen Halt geboten (einzelne dieser Blöcke wurden auf mehr denn 1000 t 1.000.000 kg geschätzt). So blieb denn ein langgestreckter, tiefer See zurück, an dessen Ufern fruchtbare, terrassierte Felder die Stelle ertränkter Wälder einnehmen (Tafel 18).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 015 Rheintal in den Schuttmassen des Flimser Bergsturzes

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 015 Rheintal in den Schuttmassen des Flimser Bergsturzes

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 016 Bergsturztrümmer, einen Bad stauend. Blaue Gumpe. Raintal bei Garmisch

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 016 Bergsturztrümmer, einen Bad stauend. Blaue Gumpe. Raintal bei Garmisch

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 017 Abrissnische , links oben, und Sturzmassen im Gangatal, den Gohnasee aufstauend. Im Vordergrund das trockene Tal

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 017 Abrissnische , links oben, und Sturzmassen im Gangatal, den Gohnasee aufstauend. Im Vordergrund das trockene Tal

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 018 Gohnasee nach dem Durchbruch, terrassierte Felder an Stelle des ertränkten Waldes

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 018 Gohnasee nach dem Durchbruch, terrassierte Felder an Stelle des ertränkten Waldes

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