Erste Fortsetzung

Kahle, glatte Felswände bilden heute die Hänge des Monte Zugna; es sind die Schichtflächen, auf denen die mächtige Kalkplatte herabgeglitten ist. Als Heller Strich markiert sich auf ihnen die Spur einer Quelle, die wohl den Sturz veranlasst haben dürfte; wenigstens insofern, als sie eine schlüpfrige Bahn schuf. Noch heute werden die glatten Flächen von steilen Wandpartien umsäumt, über denen wieder kahle, doch schuttbedeckte Hänge folgen: ein typisches Bild einer Abrissnische.

Ähnliches erblicken wir am Nordfuß des Rigi bei Goldau in der Schweiz. Am 2. September 1806 wurde das Tal von der furchtbaren Katastrophe heimgesucht, die nicht weniger als 457 Menschenleben vernichtete. Ein Augenzeuge (Zaym) erzählt: „Das unterhalb gelegene Berggehänge fing an, sachte hinzugleiten. Mit einmal stürzt zu Oberst an der größten Felswand ein mächtiges Stück nieder, die Felsen fangen langsam an, von ihrer Mutterschicht sich loszutrennen und gegen die Tiefe hinabzusinken. Das Erdreich am Berghang fängt nun auch an, sich voneinander zu schieben und statt der grünen Rasendecke die bräunlich-schwarze Farbe nach außen zu kehren. Die unteren Wälder bewegen sich allgemach, und Tannenbäume in unzähliger Menge schwanken hin und her. Ganze Scharen von Vögeln lüften schnell ihre Flügel und richten unter Geschrei ihren Flug dem Rigi zu. Einzelne größere Steine rollen schon den Berg hinab . . . als Vorboten der bald nacheilenden Masse. Nun wird mit einem Mal die Bewegung der Wälder stärker; ganze Reihen der vorher losgewordenen und sich senkenden Felsstücke, ganze Reihen stolzer Tannen, auf der obersten Felskante sonst so prachtvoll ruhend, stürzen in Unordnung übereinander und in die Tiefe nieder. Alles Losgerissene, Wald und Erde, Stein und Felswände, gerät jetzt ins Gleiten, dann in schnelleren Lauf und nun in blitzschnelles Hinstürzen. Getöse, Gekrach und Prasseln erfüllt wie tiefbrüllender Donner die Luft, erschüttert das Ohr und tönt im Widerhall von tausend Bergklüften noch grässlicher Ganze Strecken losgerissenen Erdreiches, Felsstücke so groß und noch größer als Häuser, ganze Reihen von Tannen werden aufrechtstehend durch die Luft geschleudert. Ein rötlichbrauner Staub erhebt sich in Nebelgestalt von der Erde, hüllt die zerstörende Lawine in trübes Dunkel ein und läuft als düstere Wolke, wie vom Sturmwind gepeitscht, vor ihr hin. Berg und Tal sind erschüttert, die Erde bebt, die Felsen zittern, Menschen erstarren beim Anblick dieser fürchterlichen Szenen. Vögel, im Fluge behindert, fallen auf die Stätte der Verheerung nieder, Häuser, Menschen, Vieh werden schneller als eine aus einer Kanone losgeschossene Kugel über die Erde hin und selbst durch die Luft fortgetrieben. Die aus ihrer Ruhe aufgeschreckte Flut des Lowerzer Sees bäumt sich auf und fängt im Sturmlauf auch ihre Verheerung an. Ein großer Teil der zerstörenden Massen erstürmt, im Tal angekommen, noch den jenseitigen steilen Fuß des Rigiberges, und einzelne Bäume und Felsstücke fliegen hoch am Abhang hinauf. Während der wenigen Augenblicke, in welchen der Leser diese Schilderung liest, in der Frist von 3—4 Minuten, hat das Ereignis begonnen und seinen Lauf vollendet.“ Die Ursachen liegen bei diesen beiden Ereignissen klar zutage; nichts aber wissen wir über den Impuls, der die langvorbereitete Spannung auslöste. Bei einem Bergsturze aus alter Zeit jedoch kennen wir den Impuls ganz genau. Unerhörte Verheerungen musste der Sturz am Dobratsch (Kärnten) angerichtet haben, denn in vielen Urkunden ist von ihm die Rede. Zehn Dörfer sind an der Südseite der Villacher Alp verschüttet worden! Die Ursachen waren kurz folgende: Schon in vorgeschichtlicher Zeit waren gewaltige Felsmassen zur Tiefe gefahren und hinterließen ein stark gelockertes Gefüge. Der Fluss, der den Bergfuß bespült, schuf überdies noch übersteile Hänge, so dass ein kleiner Anstoß genügte, die Katastrophe sich wiederholen zu lassen. Dies geschah im Jahre 1348: ein Erdbeben brachte den Fels abermals ins Wanken. Indes, hier handelt es sich wohl um etwas Außergewöhnliches, wenigstens soweit die Geschichte zu berichten weiß. Viel näherliegend sind meist die auslösenden Vorgänge, die Impulse. Wir finden häufig in verstärkter Wasserführung, durch Dauerregen hervorgerufen, jenes Moment, das den Augenblick des Losgehens eines Bergsturzes bestimmt. Dann reißt gleichsam die letzte Faser, die das durch jahrelange Lockerung zum Sturze vorbereitete Felsstück gegen den Mutterberg heftet. So war es auch in Elm. Diese Katastrophe, die den genannten Ort am 11. September 1881 heimsuchte, wollen wir näher kennen lernen, denn Ursachen, Vorgang und Wirkung sind bei keinem anderen Ereignis der Art so genau bekannt geworden!


Elm ist das letzte Dorf des anmutigen Sernftales; die Schneeberge der Glarner Alpen lugen in den lieblichen Talgrund und umschließen ihn von allen Seiten, mit Ausnahme gegen Norden. Im Süden erheben sich ungemein steil die Hänge der Tschingelalp zum Bündner Firn; ihr gegenüber streichen flachere Hänge, mattenbedeckt, ins Tal (Düniberg). Von hier aus führt durch tiefe Schlucht der Weg nach Süden zum Panixer Pass, den Suwarow in kühnem Zuge mit seinem Heer überschritt. In dieser reizvollen Umgebung ereignete sich an einem trüben, regnerischen Tag das Schauspiel von entsetzlicher Großartigkeit. „Eine ganze Felswand stürzte wie ein wütendes Ungetüm auf das liebliche Untertal von Elm und seine Bewohner, alles vor sich hinwegfegend, alles zermalmend.“ 115 Menschen sind erschlagen worden. Nur wenige Augenzeugen entrannen dem Untergang. Lassen wir zuerst sie erzählen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge