Dritte Fortsetzung

Doch verlassen wir die Stätte des Elends und suchen, nach den Berichten ein geschlossenes Bild von der Katastrophe zu gewinnen.

Eine 1000 m hohe Felswand ist in kurz aufeinanderfolgenden Stürzen zur Tiefe gefahren. Der letzte, größte von ihnen brachte das Unheil. Die ungeheuer schweren Felsmassen des Plattenbergkopfes, durch vorhergehende Abbrüche unterhöhlt, rissen an klaffenden Spalten los, an deren Saum die Bäume bei Beginn der Bewegung wie ein vom Wind aufgeregtes Ährenfeld wogten und wankten. In freiem Fall sausten die Blöcke hinab, die ganze Wand fiel zusammen und schlug am Fuße des Berges bei den Schieferbrüchen auf, um unter einer schweren Steinwolke, die hier entstand, den Talboden zu erreichen. Wie zerspratzte Wasserfluten stürzte die Masse nun mit ungeschwächter Wucht gegen den jenseitigen Berghang, brandete an ihm hoch auf und stürzte in sich zusammen. Von hier an bewegte sich die Steinlawine wie ein riesiger, geschlossener Strom im Tale abwärts. Der Sturmwind ging der Stirne dieser rasenden, trockenen Hochflut vorauf und mähte alles vor sich nieder. Hinter ihr folgte der Felstrümmerstrom. Das ist erstaunlich, dass sich diese trockenen Massen (erst später wurden sie durchtränkt durch die gestauten und durchsickernden Nebenbäche des Sernf) auf fast horizontaler Unterlage so weit, mit so unglaublicher Schnelligkeit fortbewegen konnten. Bei einem Rollen und Sichüberschlagen wäre dies kaum denkbar gewesen. Indes bot der durchweichte Ackerboden der Talsohle einen weichen, schlüpfrigen Grund, auf dem die Felstrümmer wie auf einer Schmiere gleiten konnten. Die ungeheure Wucht des Sturzes lieferte die lebendige Kraft für dies Gleiten. Damit hängt zusammen, dass der Strom scharf umgrenzt ist, dass keine Trümmer seitwärts geschleudert wurden, dass er durchaus das Bild eines Lavastromes bot. Im nächsten Abschnitt werden wir in den Grundlawinen dieselbe Bewegungsart und dieselbe davon abhängige äußere Form kennen lernen. Was im Bereich des Schuttstromes lag, wurde erbarmungslos und vollständig zermalmt, was dicht neben ihm war, blieb unversehrt!


Der weiche Untergrund wurde aufgepflügt; bis in große Tiefe arbeiteten sich die Felstrümmer ein, ja sie zerwühlten die Fundamente einer eisernen Brücke derart, dass sich diese in der Luft aufbäumte und zerbrach! In der weichen Erde blieben die Massen schließlich stecken; fast ruckartig geschah es. Keine Bewegung verrieten sie mehr, obwohl der Sturz kaum so lange dauerte, als man braucht, um 100 Schritte weit zu laufen! Abbruch, Sturz und Felsstrom vollendeten ihren rasenden Lauf in dieser Zeitspanne.

Vorübergehend wurden die Bäche gestaut. Neue Angst verbreitete sich deshalb im Tal, denn ein Durchbruch musste weite Verheerung mit sich bringen. Das Wasser jedoch fand selbst einen Ausweg, der ihm durch Hilfsarbeiten noch erleichtert wurde. Sonst aber, beim Sturze selbst, spielte das Wasser keine Rolle. Als echter Felssturz kamen die Massen herab. Dass sie sich lösten, ist zum guten Teil aus die Tätigkeit des Menschen zurückzuführen.

Der Tschingelberg besteht wenigstens in seinem unteren Teil aus Schiefern, die nach dem Berginnern, also nach Süden geneigt sind. Das Material war gesucht zum Herstellen von Schiefertafeln und Griffeln. Steinbrüche werden am Plattenbergkopf seit langem betrieben. Die Brüche gewannen im Laufe der Zeit an Ausdehnung und unterhöhlten den Berg derart, dass unter den überhängenden Felsen oft mehrere Hütten hätten Platz finden können. Die von Natur steilen Berghänge wurden durch die künstlich geschlagene Wunde übersteil, das Gesteinsgefüge durch fortgesetztes Sprengen noch dazu gelockert. Bald machten sich die Folgen bemerkbar! Die überhängende Felsdecke bewegte sich ständig vorwärts und brach mehrfach ein; auch Arbeiter sind wiederholt im Bruche erschlagen worden. Hier und da klafften Spalten, aus denen Wasser sickerte. Oben am Berg drang dies in stets breiter werdenden Klüften in das Innere der Felsen. Niemand achtete der Vorzeichen. Ja, als die Brüche wegen zu drohender Gefahr verlassen wurden und eine Kommission eine Untersuchung durchzuführen hatte, lautete der Bescheid, dass ein Abbruch wohl einmal zu gewärtigen sei, dass aber gegenwärtig nichts zu tun bleibe. Nur wenige erkannten die Gefahr, als sie breite Spalten sich erweitern sahen, die im Walde aufrissen und die ganze Masse des Berges umsäumten. Selbst als der erste große Sturz nach einer ganzen Anzahl kleiner Abbrüche am 11. September niedergegangen war, floh niemand! Alle Warnungen, die die Natur selbst ergehen ließ, verhallten ungehört. Wie kann es dann wundernehmen, dass die Zahl der Opfer so erschreckend hoch ausfiel?

Zehn Millionen Kubikmeter Fels lösten sich an beliebiger Kluft, unabhängig von Schichtung und Schieferung, los und stellten das gestörte Gleichgewicht durch ihren Sturz wieder her. Darin haben wir die Ursache der Katastrophe zu erblicken: jedes Gestein vermag nach seiner Zusammensetzung und Lagerung nur eine bestimmte, größtmögliche Böschung zu bilden (S. 13). Wird diese überschritten, so bröckelt der Fels, der Schwere folgend, ab. Verwitterung und Talbildung fördern seit undenklichen Zeiten diesen Zerstörungsprozess, dessen Wirken zwar dem Menschen entgeht, der aber doch das Relief von Berg und Tal geschaffen hat. Steigert sich der Vorgang bis zum Losreißen großer Felsmassen, so sprechen wir von Bergstürzen. Unauslöschlich prägen sich diese der Erinnerung des Menschen ein, dem sie als etwas Gewaltiges erscheinen. Und doch, wie rasch verschwinden die Spuren des einzelnen Phänomens im Laufe der Zeit! Die Abrissstelle wird wieder mit einem Pflanzenkleide überzogen; sie vernarbt, dass niemand mehr die Wunde erkennen kann. Die losen Trümmer fallen der rastlosen Tätigkeit des fließenden Wassers anheim und werden allmählich dem Meere zugeführt. Freilich vergehen darüber Menschengeschlechter. In der Geschichte der Erde ist es nur ein Augenblick, eine Episode!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge