Bergschlipfe

Der Steinschlag (S. 11) ist die der Hochregion eigene Form der Abtragung; fallen die Blöcke auch nur einzeln, so sind die Massen, die im Lauf der Jahrtausende zu Tal wandern, doch ungeheure. — Aber nicht immer beschränkt sich die Bewegung nur auf einzelne Trümmer. Die Erscheinung kann riesige Dimensionen annehmen, kann als Katastrophe die Alpentäler in furchtbarster Weise heimsuchen. Das sind dann die Bergstürze. Doch ehe wir sie desnäheren beschreiben, wollen wir die Bergschlipfe betrachten, da sie noch manche Ähnlichkeit mit den Muren verknüpft und an ihnen der Mechanismus des Losbrechens vorzüglich studiert werden kann. Es handelt sich bei ihnen um die Bewegung loser Schutt- oder Geröllmassen, oder aber auch weicher, leicht zerstörbarer Gesteine, die sich, wie wir sehen werden, bei ihrem Abwärtsgleiten in ein loses Laufwerk von Schutt verwandeln. Naturgemäß treten bei dieser mehr gleitenden Bewegung keine plötzlichen großen Felsstürze aus. Langsam, doch unaufhaltsam wandern die Schuttströme zu Tal. Dabei wird gleichwohl alles mitgerissen, was sich in den Weg stellt: Gebäude werden umgedrückt, Wälder geraten ins Schwanken, urbares Land wird unter dem Trümmerwerk erstickt. Menschenleben gehen selten zugrunde; ein Entkommen ist meist möglich, bewegliche Labe kann gerettet werden, wenn das Unheil nahe ist. So bedeutsam die Bergschlipfe im Haushalt der Natur als Abtragungserscheinung sind, so gewaltig die Veränderungen sind, die das Landschaftsbild erfährt, wenn in geschlossenem Strom so ungeheures Felsmaterial zu Tal wandert, so fehlt doch dem Vorgang das überraschend Schnelle. Deshalb schaltet ihn der Mensch meist von den „Katastrophen“ aus. Aus den Beispielen, die die Ursachen der Bergschlipfe beleuchten sollen, werden wir immerhin entnehmen, dass die soziale Bedeutung der Bergrutsche nicht unterschätzt werden darf. In Eisenbahneinschnitten sinken die Hänge auf den Bahnkörper, Tunnelanlagen werden eingedrückt, Straßen und Verkehrswege werden zerstört. Das bewegte Terrain zur Ruhe zu bringen, kostet dann recht teure Anlagen, zumal das Gleiten immer wieder beginnt und Vermauerungen, Eintreiben von Pfählen die Bewegung wohl verlangsamen, aber nicht vollständig aufhalten können. Treten Regengüsse ein, die eine Durchweichung der Berghänge mit sich bringen, so beginnen — vorausgesetzt, dass das feste Material locker und schlüpfrig genug ist — allerorts die Rutschungen. Die ersten Sommermonate des Jahres 1910 z. B. veranlassten in den Niederösterreichischen Alpen eine ganze Reihe von Zerstörungen dieser Art. Ja in einem Fall (St. Anton, Reifgraben) wurde der Bach zu einem See gestaut, der den Anblick des Tales gänzlich umgestaltete. Eine wesentliche Vorbedingung für das Zustandekommen der Bergschlipfe geht daraus hervor: reichliches Vorhandensein von Wasser. Regen, Quellen, Schneeschmelze liefern es. Und so kommt es, dass an Gehängen, die aus schlüpfrigem Schutt, aus weichem Ton oder anderem gut gleitenden Material bestehen, im Frühjahr die Bewegungen mit neuer Kraft einsetzen; denn das Frühjahr bringt in den Alpen Wasserreichtum mit sich.

Gehen wir nun daran, einen solchen Bergschlipf im festen Gestein eingehender zu studieren. Unter den vielen beschriebenen Beispielen greife ich den von Mühlhausen in Baden heraus, der sich im Juli 1910 ereignete. Das ganze Gebiet gehört der „Keuperlandschaft“ Südwestdeutschlands an. Der Keuper ist eine geologische Formation, deren Schichten aus Ton und Mergel in buntester Folge bestehen. Wandern wir nur einmal bei Regen über dies Land, dann merken wir, wie das weiche Gestein im Wasser zerfällt, wie sich schwere Klumpen an die Schuhe ansetzen, wie wir bei jedem Schritt wie auf einem Schmiermittel ausgleiten! Das Gestein ist wie dazu geschaffen, als durchweichter Schuttstrom an den Gehängen herabzukommen. Freilich fehlen in dem welligen Hügelland meist steile Böschungen. Aber bei Mühlhausen senken sich die rebenbestandenen Talflanken mit 30 Grad gegen den Wiesengrund; eine Neigung, die noch künstlich durch einen mehrere Meter hohen, steilwandigen Anschnitt vergrößert wurde. An ihn lehnen sich die Häuser der Ortschaft. Eine nähere Betrachtung des Gesteins ließ gleich hinter ihnen eine schmale Tonschicht erkennen, aus der kleine Quellen heraustraten (Wasserschicht, Quellhorizont). Berücksichtigen wir nun noch, dass die Schichten selbst gegen das Tal, gegen die Häuser geneigt sind, so haben wir an dieser einen Stelle die günstigsten Vorbedingungen für ein Ausgleiten der Gesteinsmassen vereinigt: weicher, leicht zerstörbarer Fels, der auf geneigter Tonunterlage ruht; diese ist durch Wasser durchfeuchtet, so dass eine glitschige Gleitfläche geschaffen war. Und dazu kommt noch die Steilheit der Gehänge! Der Vorgang spielte sich auch, angemessen den charakteristischen Vorbedingungen, in höchst charakteristischer Weise ab. Wir können uns schon vorstellen, dass die Bewegung auf der Tonschicht, die von den Umwohnern wegen ihrer mürben, schmierigen Beschaffenheit „Kässchicht“ genannt wurde, vor sich ging. Auf ihr lösten sich auch wirklich die Gesteinsmassen los, als heftige Regengüsse des Juli den äußeren Anstoß dazu gaben. — Nicht plötzlich trat die Katastrophe ein: schon Tage vorher konnte man bemerken, wie sich der Gesteinskörper über die Wasserschichte vorschob. Etwas später war die Bewegung schon mit freiem Auge wahrnehmbar. Freilich achtete niemand dieser Anzeichen! — Zu gleicher Zeit rissen oben am Gehänge Spalten auf, die sich erweiterten, je mehr sich die gleitende Masse den Häusern näherte (Tafel 10). Erst als diese erreicht waren, als schon Schindeln der Dächer durch das drängende Gestein verschoben wurden, dachte man an ein Retten und Fliehen. Da waren aber oben schon eine ganze Reihe klaffender Sprünge entstanden, durch die der innere Zusammenhang des Gesteins zerstört worden war. Dies verlor den letzten Halt und glitt rasch herab, die Häuser vor sich erdrückend. Die Linie, entlang der das Gestein abgerissen war, verläuft bogenförmig. Sie umsäumt eine Nische, die nach dem Ereignis durch steile, etwa 4 m hohe Wände gebildet wurde: die Ausrutschnische. In ihr liegt zusammengesunken ein Teil des abgeglittenen Materials, das in eine ganze Anzahl einzelner Schollen gegliedert worden ist [(Tafel 11). Wie Stufen sinken an Spalten die Stücke talabwärts und lassen in ihrem Grundriss das System von Sprüngen erkennen, deren Verlauf uns über die verschiedene Schnelligkeit der Bewegung Aufschluss gibt. Innerhalb der Abrissnische (A) liegen die einzelnen Staffeln voneinander getrennt durch nach außen konkave Spalten, wie dies unser Querschnitt (a—b) erkennen lässt. Je weiter wir nach abwärtsgehen, desto stärker ist auch die Zertrümmerung, die das Gestein erlitten hat. Die Zerreißung geht natürlich im Bereich der größten Bewegung auch am weitesten vor sich. Erinnern wir uns nur der Verhältnisse, die wir an Gletschern gefunden haben (S. 27)! An der Öffnung der Nische ist das Gestein in loses Haufwerk aufgelöst, das in der Mitte der Schuttzunge am raschesten abwärts glitt. Daher sind die Wülste, die trennenden Klüfte hier — im Gegensatz zum Abrissgebiet — nach außen konvex gekrümmt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 010 Durch den Erdrutsch eingedrückte Häuser in Mühlhausen

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 010 Durch den Erdrutsch eingedrückte Häuser in Mühlhausen

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 011 Erdrutsch von Mühlhausen

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 011 Erdrutsch von Mühlhausen

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