Erste Fortsetzung

Diese Züge wiederholen sich immer wieder, nur ist der Mechanismus der Bewegung nicht immer so leicht zu erkennen. Kehren wir nach unserem Ausflug ins Mittelgebirge wieder in die Alpen zurück, so werden wir sehen, wie tiefgreifend diese Art der Abtragung das Aussehen einzelner Täler beeinflusst. Am deutlichsten wird auch hier ein Beispiel sprechen. Es ist dem Kanton Tessin in der südlichen Schweiz entnommen. Von alters her ist dort das Maggiatal von Rutschungen heimgesucht, die oft eine Ausdehnung erlangten, dass sie in Inschriften und Chroniken vermerkt worden sind.

In die gewaltigen Schieferberge sind tiefe Täler eingesenkt. In jäher Steilheit steigen die Hänge empor, durchfurcht von zahllosen Runsen. Die weichen Schiefer (S. 65) bieten ja dem Wasser so vortreffliche Angriffspunkte. Es kann uns also gar nicht wundern, dass dort die Abtragung tiefe Spuren in die Erdrinde gegraben hat. Sind doch die jähen Formen, die Täler und Schluchten selbst ihr Ergebnis im Großen. Wir aber suchen jetzt die kleinen Linien!


Große Trümmerströme wälzen sich langsam auf den Ort Campo zu, dessen Boden selbst sich nach abwärts bewegt. Der Fluss Rovana schneidet in den Sockel, auf dessen Scheitel hoch über ihm die Häuser liegen. Stück um Stück bröckelt von der Terrasse ab, ja als geschlossener Körper sinkt sie samt den Häusern ganz langsam dem Fluss zu. Von oben aber legen sich auf sie noch die Felsmassen, die in ständigem Gleiten von Jahr zu Jahr vorschreiten. Vor diesen Strömen wird alles verschoben und erdrückt: Wege, Brücken, Mauern, und fruchtbarer Boden wird in erschreckender Weise verwüstet. Unaufhaltsam, aber langsam, kaum wahrnehmbar schreitet das Unheil vor, zugleich mit den großblockigen Wülsten. Wie wenn ein schäumender Gebirgsbach Wellen wirft, so bäumt sich das wilde Trümmerwerk in hohen Wällen, sobald die Bodenneigung größer und die Bewegung beschleunigt wird. In den Wannen und Gräben zwischen den Wülsten sickert trübes Schlammwasser hervor und steht in Tümpeln. Dies ist der Spender des unheimlichen Lebens. Quellen, die zum Teil zutage ausgehen, zum Teil aber das Trümmerwerk gänzlich durchnässen, ohne ans Licht zu kommen, wirken wie Triebfedern der Bewegung. Seit vielen Jahren schon dauert sie an; die Bäume der Wälder stehen schief und streben doch wieder, gerade zur Löhe zu wachsen. In bizarren Krümmungen ragen so die alten Stämme neben umgelegten jungen Bäumen. — Neben der enormen Durchnässung der Massen ist auch hier die Art und Lagerung der Gesteine maßgebend für das Zustandekommen der talwärts kriechenden Schuttströme. Die Schiefer neigen sich gegen das Tal. Wieder ist es also eine Art Schichtfläche, auf der die Bewegung stattfindet! Der anstehende Fels ist es, der sich losgelöst hat, weil sein Gewicht zu groß war, auf geneigter, schlüpfriger Unterlage zu haften. Im Verlaufe der Bewegung löst sich die Gesteinsmasse in große und kleine Schollen auf, bis das wüste Blockwerk an der Zunge des Schuttstromes nicht mehr erkennen lässt, wie es entstanden sein könnte. In langen Zeiträumen ist dies geschehen, nicht von heute auf morgen. Und allenthalben sehen wir ähnliche Vorgänge, nur nicht in solcher Ausdehnung. Jedenfalls aber beherrschen sie bis zu einem gewissen Grade das Landschaftsbild. Denn in den Abrissnischen treten die kahlen Wände jäh hervor; unter ihnen ist der bewachsene Boden in rundliche Höcker und Wülste gestaut, von seiner Beweglichkeit zeugend. Nicht immer muss dabei die Vegetation vernichtet werden; die Bewegung ist ja mitunter eine überaus langsame. Menschenleben werden kaum bedroht, aber Menschenkultur geht in solchem Gebiet dem Ruin entgegen. Besonders gilt dies vom Maggiatal. Ja, fast möchte man als Voraussicht sagen, dass dies ganze Tal einer allmählichen Verschüttung entgegengeht, besonders wenn wieder nässere Zeiten die Flanken der Berge rascherer Zerstörung und Abtragung entgegenführen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge