Von Aleppo nach Harran. - Nach Rohrbach in der -Hilfe- 1911.

Von Beirut über den Libanon nach Damaskus geht seit 1895 eine Schmalspurbahn. Sie ist fast in jeder Beziehung ein Musterbeispiel dafür, wie Eisenbahnen im Orient nicht gebaut werden sollen. Eine französische Gesellschaft hatte die Konzession erhalten; statt aber eine bau- und betriebstechnisch günstige Trace über das Gebirge zu suchen, was eine einfache Sache gewesen wäre, verband man Terrainspekulationen im Libanon mit der Linienführung der Bahn und kam so zu Steigungsverhältnissen, die Zahnradstrecken von über dreißig Kilometer Länge notwendig machten und den Betrieb von vornherein wenig leistungsfähig und unrentabel gestalten mußten. An diese erste syrische Stammlinie wurde vor einigen Jahren ein wichtiger, längerer Strang angesetzt, der bei Rayak, in dem Hochtal zwischen Libanon und Antilibanon, abzweigt und über die Städte Hama und Homs nach Aleppo geht. Diese Linie hat wegen des Anschlusses an die Bagdadbahn von vornherein Normalspur erhalten, und sie wird sich in naher Zukunft zu der eigentlichen syrischen Hauptlinie entwickeln. Die Konzession hat dieselbe Gesellschaft, die auch die Bahn von Beirut nach Damaskus erbaute. Betrieb und Einrichtung der Züge nach Aleppo lassen leider so gut wie alles zu wünschen übrig; namentlich sind die Interessen der türkischen Regierung durch den noch unter dem alten Regime geschlossenen Vertrag mit der Gesellschaft recht mangelhaft gewahrt.

Bei Aleppo hört vorläufig die Eisenbahn auf, in kurzem aber wird sich das ändern, denn die Bagdadbahn geht jetzt mächtig voran und wird nach den neuesten Entschließungen nicht nur eine Zweiglinie nach Aleppo entsenden, wie früher geplant war, sondern selbst über den Platz geführt werden. Besondere Freude aber herrscht hier, daß die Gesellschaft auch die Konzession Osmanij–Alexandretta erhalten hat. Zu diesem Entschluß können sich beide, die Türkei und die Bagdadbahngesellschaft beglückwünschen. Der nächste Hafen an der Bagdadbahnlinie für Aleppo sollte nach dem früheren Plan nicht Alexandretta sein, sondern das weit entfernte Mersina an der Südküste von Cilicien. Diese Gestaltung des Projekts wird dadurch verständlich, daß aus strategischen Gründen die Bagdadbahn nirgends das Meer berühren soll. Verkehrspolitisch und technisch wäre es das vorteilhafteste, sie nach Überwindung des Taurus, d.h. von Adana aus, direkt an dem Golf von Alexandretta heran, und dann unmittelbar an der Küste entlang bis zu diesem Platze selbst zu führen. Von Alexandretta aus wäre dann die Überwindung des Amanusgebirges durch einen Tunnel von mehreren Kilometern Länge erfolgt, wonach weiter ostwärts bis nach Bagdad und bis zum Persischen Golf mit Ausnahme der Überbrückung der Ströme keine weiteren Schwierigkeiten vorlagen. Eine Bahn aber, die nahe der Meeresküste um den Golf von Alexandretta läuft, kann durch eine feindliche Flotte so unter Feuer genommen werden, daß sie an dieser Stelle völlig unterbrochen ist. Was das im Ernstfall für die Türkei bedeuten würde, lehrt ein Blick auf die Karte. Gesetzt, eine feindliche Macht bedrohte Bagdad oder schickte sich an, von Ägypten her nach Syrien einzudringen, so käme es darauf an, die Truppen aus dem Kernlande Anatolien dorthin zu dirigieren. Ist aber die Bagdadbahn am Golf von Alexandretta unterbrochen, so sind Syrien, Mesopotamien und Arabien außer Verbindung mit dem übrigen Reich. Daher bestand die türkische Heeresleitung von Anfang an auf Führung der Trace durch das Binnenland. Eine zeitlang wurde auch erwogen, ob man die Bahn nicht doch an der Küste entlang bauen und zu ihrem Schutz Befestigungen am Eingange des Golfs errichten solle. Man mußte sich indessen überzeugen, daß die Kosten hierfür in keinem Verhältnis zu dem Gewinn gestanden hätten. Die Notwendigkeit, Alexandretta in Verbindung mit der Bagdadbahn zu bringen, blieb aber unabhängig davon bestehen, denn erstens war mittlerweile klar geworden, daß Alexandretta gute, Mersina dagegen, abgesehen von seiner Entfernung, sehr schlechte natürliche Hafenverhältnisse besitzt, und zweitens hätte England versucht, Alexandretta zum Anfangspunkt einer englischen Linie in das Euphratgebiet hinein zu machen.


Schon seit Jahrzehnten stehen sich zwei verschiedene Bagdadpläne gegenüber: einer im türkischen, d. h, unter den gegenwärtigen Verhältnissen im türkischdeutschen, und einer im englischen Interesse. Für das politische, militärische und wirtschaftliche Erstarken der Türkei kommt es darauf an, daß die entfernten Provinzen des Reiches durch Bahnbauten in Verbindung mit dem Schwerpunkt des ganzen, Anatolien und Konstantinopel, gebracht werden. Die Entwicklung des Eisenbahnsystems muß daher folgerichtig vom politischen Zentrum nach der Peripherie zu fortschreiten und die Provinzen fest an die Autorität der Zentrale binden. Diesem Prinzip entspricht auch der Plan der jetzt im Bau begriffenen Bagdadbahn, die eine türkische Staatsbahn unter technischer Verwaltung der Bagdadbahngesellschaft wird. Die englische Politik dagegen befolgt andere, entgegengesetzte Ziele. Willcocks, der berühmte Wasserbauingenieur, der jetzt an der Wiederherstellung der alten babylonischen Kanäle im Gebiet von Bagdad arbeitet, hat vorgeschlagen, eine Bahn zu bauen, die von Bagdad parallel dem Euphrat nach einem Hafen an der syrischen Mittelmeerküste führen soll. Bagdad selbst liegt vorläufig, solange die Eisenbahn von Kleinasien und Syrien her es noch nicht erreicht, im Einflußgebiet Englands von Indien und vom Persischen Golfe her. Die bequemste, wenn auch nicht die kürzeste Verbindung dorthin führt gegenwärtig über Aden, Bombay und Basra. Von Basra aufwärts bis Bagdad ist der Tigris für größere Flußdampfer fast zu allen Jahreszeiten schiffbar. Daher richteten sich die englischen Bestrebungen auch auf Gewinnung des Schifffahrtsmonopols in den mesopotamischen Strömen, Bestrebungen, die durch den Widerstand der Bevölkerung und die Einsicht der türkischen Autoritäten vorläufig ergebnislos geblieben sind. Bei Lichte besehen heißt also der Willcockssche Plan, daß eine Bahn gebaut werden soll, die im Wirkungsbereich der den Persischen Meerbusen beherrschenden englischen Macht anfängt und zwischen den beiden Positionen Englands im Mittelmeer, Cypern und Ägypten, endet. Es ist klar, daß die Türkei im Falle politischer Verwicklungen von einer derartigen Linie nicht nur keinen Nutzen hätte, sondern daß ihr eher Gefahren entständen. Namentlich verbietet das türkische Interesse, daß Bagdad von einer andern Bahn erreicht und dieser wichtige Platz der Gefahr auswärtiger aggressiver Tendenzen preisgegeben wird, bevor die türkische Bagdadbahn die Verbindung zwischen der Provinz Irak, dem Vilajet von Bagdad, und den Kernländern des Staates sichert. Neben diesen politisch-militärischen Gesichtspunkt tritt für die Bagdadbahn natürlich auch der wirtschaftliche, und nach dieser Seite hin ist es selbstverständlich, daß der Güterverkehr zwischen Mesopotamien und dem Westen einen Hafen braucht, der den teuren Eisenbahntransport möglichst verkürzt. Es ist ausgeschlossen, daß die Waren von und nach Aleppo, Mossul und Bagdad per Bahn durch ganz Kleinasien gefahren werden, und hier liegt die große Bedeutung des Entschlusses, den besten Hafen Nordsyriens, Alexandretta, durch die bei Osmanijé abzweigende Seitenlinie an die Bagdadbahn anzuschließen. Auf diese Weise wird gleichzeitig den militärischen wie den handelswirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung getragen, und allen auf Durchkreuzung des vorhin charakterisierten Systems abzielenden Wünschen von dritter Seite wird von vornherein der Boden entzogen.