2. Von Urfa nach Harran.

Von Urfa machten wir einen Ausflug nach Harran, Direktor Eckard, Fräulein Jeppe, die Leiterin des Waisenhauses der Orientmission, und ich. Der Zweck dieser schön gelungenen Fahrt war für mich ein doppelter: die Ruinen zu sehen und unterwegs meine beiden Reisegefährten, die durch ihren langjährigen Aufenthalt im Lande über eine sehr genaue Kenntnis der Verhältnisse verfügen, soviel wie möglich auszufragen. Beides gelang ausgezeichnet.

Unser Kutscher von Aleppo, Naum, fuhr uns mit seinen Pferden und seinem Wagen auch nach Harran. Ich hatte ihn fragen lassen, ob die Tiere, die doch in zweieinhalb Tagen von Aleppo nach Urfa gegangen sind und in derselben Frist den Weg zurückmachen müssen, das aushalten würden, und glaubte, er würde die Fahrt ablehnen, aber er meinte kaltblütig, das könnten seine Pferde ohne weiteres leisten. Und er hat recht behalten. Aus dieser einheimischen Pferderasse ist wirklich bei einiger Pflege, und auf die versteht sich Naum, Unglaubliches herauszuholen. Erst die 200 Kilometer bis Urfa, dann ein Tag im Stall gestanden, dann gestern von morgen bis abend gute 80 Kilometer bis Harran und zurück, und übermorgen geht es wieder nach Aleppo. Das Höchste, was ich an Pferdeleistung im Orient erlebt habe, bleibt freilich die Fahrt vor anderthalb Jahren über den Taurus, von Tarsus nach Eregli in 50 Stunden, davon die Pferde 42 Stunden im Geschirr!


Der Weg von Urfa nach Harran führt ganz und gar durch die mesopotamische Ebene, die hier eine weitgedehnte Bucht in das dem Taurus vorgelagerte Kalkgebiet hinein entsendet. Am Nordrande dieser Bucht liegt Urfa; im Süden, wo sie sich mit der unendlichen Fläche von Innermesopotamien vereinigt, liegt Harran. Alle Gewässer, die in den Bergen rundum entspringen, sammeln sich in der Gegend von Harran und bilden dort den westlichen Ursprungsarm des Belich, der in der Nähe von Rakka in den Euphrat mündet und in der Regel das ganze Jahr hindurch Wasser führt.

Vor zehn Jahren hatte ich Harran nur von ferne liegen sehen; der Glockenturm der alten byzantinischen Kathedrale ist eine Tagereise weit sichtbar. Während der Fahrt zeigte sich alles Land zur Rechten und Linken vom Wege und bis an den Fuß der Berge mit Weizen bestellt. Wir passierten mehrere Dörfer und sahen auch in größerer Ferne verschiedene Ansiedlungen liegen. Allerdings standen zwischen den Häusern auch viele schwarze Beduinenzelte, denn ein Teil der Bevölkerung ist eigentlich erst halbansässig. Im Vergleich zu früher haben aber Besiedlung und Anbau der Harranebene sichtliche Fortschritte gemacht. Noch ist das freilich erst ein kleiner Anfang zu dem, was kommen wird, wenn die Bagdadbahn hier durchgeht, denn nicht nur die vierzig Kilometer zwischen Harran und Urfa, sondern ganz Ober-Mesopotamien, ein Gebiet, mindestens so groß wie Ost- und Westpreußen, kann in Kultur genommen werden, sobald die Bauern, die hier pflügen, ihres Lebens und ihres Eigentums wieder sicher sind. Das ganze Land ist erfüllt mit Tells, und jeder von diesen Hügeln bezeichnet die Stelle einer alten städtischen Siedlung. Den Anfang bildete gewöhnlich in entfernter Vorzeit eine künstliche Aufschüttung, um den befestigten, mit Mauern umgebenen Kern der Stadt darauf anzulegen. Bei dem wenig widerstandsfähigen Baumaterial, meist ungebrannte oder schwachgebrannte Lehmziegel, verfielen die Mauern und Gebäude schnell; sie wurden erneuert und erweitert, und auf diese Weise erhöhte und vergrößerte sich die Aufschüttung immer mehr. Als die Zeit der Verödung kam, verschwanden die schwachen Lehmmauern der Häuser, die solch eine Stadt bildeten, sehr schnell; auch die Burgmauern zerfielen, und nichts blieb übrig, als ein einsamer Hügel. Viele hundert solcher Tells erfüllen Mesopotamien, von Hatra südwärts Mossul über das Sindschargebirge, Nisibis und Harran bis an den Euphrat, und wo ein Flußlauf wie der Belich oder der bedeutende Charbur den südlichen steppenhaften Teil des Landes durchschneidet, begleiten ihn die Tells in dichtem Schwarm bis zur Mündung in den Hauptstrom. Nach Harran gibt es keine Straße, sondern nur Kamelpfade, aber man kann ohne Schwierigkeit überall durch die Ebene fahren. Alte steinerne Brücken zeigen, daß hier in früherer Zeit bedeutende Verkehrswege gelaufen sind, aber es ist lange her, denn die Flußläufe haben seitdem in dem weichen Erdreich ihr Bett hier und da verlegt, und unter dem freistehenden Brückenmauerwerk fließt kein Wasser mehr. Anderwärts war der Steindamm, der zum Brückenwege hinaufführt, weggespült und verfallen, so daß wir aussteigen mußten, dann faßte Naum die Tiere am Kopfzeug und führte sie vorsichtig mit dem leeren Wagen hinüber. Allmählich wuchsen der Turm von Harran und der mächtige Schuttberg, der die Stätte der alten Abrahamsstadt bezeichnet, breiter und höher am Horizont empor, und nach etwas über vier Stunden waren wir an Ort und Stelle. In einem Winkel der Ruine liegt heute ein arabisches Dorf; seine bienenkorbartigen Hütten sind aus flachen römischen Bauziegeln erbaut, von denen eine Schicht kreisförmig die zunächst darunterliegende immer etwas überragt. Nach dem System sind schon in vorhomerischer Zeit die Königsgräber von Mykenä angelegt worden. Wir gingen zunächst aber nicht ins Dorf, sondern ließen Naum bei einer alten Moschee, die vor der Mitte der westlichen Stadtmauer liegt, ausspannen.

Ich habe es, seit ich zum erstenmal von Harran Näheres hörte, schwer begreifen können, weshalb sich die archäologische Wissenschaft noch niemals mit Ausgrabungen hierher gewandt hat. Harran ist eine der ältesten Städte, die wir in dem Lande am Euphrat und Tigris kennen.

Auf Urfa und Harran gehen die Abrahamsgeschichten zurück, und nach Harran sandte Abraham seinen Elieser, der um Rebekka, die Tochter von Abrahams Neffen Bethuel für Isaak werben sollte. Es ist daher eine richtige Erinnerung, wenn die mohammedanische Überlieferung Urfa noch heutigen Tages die Abrahamstadt nennt. Auch die berühmte Szene zwischen Elieser und Rebekka wird von den Arabern an einem Brunnen, eine Viertelstunde südlich vor den Toren von Harran lokalisiert. Dieser Brunnen, den wir auf der Rückfahrt von Urfa besuchten, hat das beste Wasser in der Umgegend. Ein anderer im Hofe der Moschee, wo wir ausspannten, ist salzig. Die Stadt selbst hat natürlich Zisternen und eine Leitung aus dem Belich gehabt, aber wenn jemand wirklich gutes Trinkwasser in seinem Hause haben wollte, so mußte er es vom Rebekkabrunnen holen lassen, wohin die Frauen und Mädchen aus dem Dorfe Harran noch heutigen Tages mit ihren Krügen auf dem Kopfe gehen. Her Brunnen besteht aus einer unterirdischen Wasserkammer, zu der eine steinerne Treppe steil hinunterführt. Daneben ist eine alte Brücke sichtbar, unter der kein Wasserlauf mehr fließt, und ein Stück alter mit weißen Quadern gepflasterter Straße.

Noch einmal warfen wir von der Höhe des alten Burgberges inmitten der Stadt einen Blick über das Trümmerfeld und suchten uns den ungeheuren Wechsel der Zeiten zu vergegenwärtigen, die dieser Ort gesehen hat. Hier in der Nähe hat auch die Macht Roms eine der schwersten Niederlagen erlitten, die sie jemals erfuhr. Die Vernichtung der Armee des Crassus im Sommer des Jahres 53 v. Chr. durch die Parther. Später behauptete Rom diesen Teil Mesopotamiens gegen die Könige des Ostens, und erst die arabische Invasion entriß die Stadt den byzantinischen Kaisern. Damals, als diese Mauern aus Quadern, die erst vom Gebirge herangebracht werden mußten, um die Stadt gezogen wurden, als Prachtbauten und dichte Häusermassen den stundenweiten Ring erfüllten, war auch das Land vor den Toren ein Besitz, wertvoll genug, um Römer, Parther, und Sassaniden jahrhundertelang blutige Kriege darum führen zu lassen. Nichts aber in der Natur Mesopotamiens hat sich seit jenen Tagen geändert. Damals wie heute tränkt der Regen das Land, und seine Fruchtbarkeit ist groß genug, um wieder wie vor Jahrtausenden Millionen von Ackerbauern statt der wenigen Beduinen zu ernähren, die es jetzt durchziehen und langsam anfangen zu einer Art Halbansässigkeit überzugehen. Und noch weit südwärts von Harran dehnt sich die unbebaute »Steppe« in die Ferne, die Steppe, die ein Weizenmeer werden wird, sobald erst der Schienenweg der Bagdadbahn vom Euphrat über Harran zum Tigris führt.