1. Ausflug nach Urfa.

Wie weit es von Aleppo nach Urfa dem alten Edessa der Kreuzzüge ist, kann niemand genau sagen, denn im Orient werden die Wege nicht nach Kilometern gemessen. Ob es zweihundert sind oder etwas mehr oder weniger, ist gleichgültig, denn nicht die Länge des Weges entscheidet, sondern welche Hindernisse sich auf ihm finden. Die Hauptfrage ist, ob man fahren kann, oder ob man reiten muß. Zum Fahren würde nach unsern Begriffen eine Straße gehören. Das ist hierzulande nicht nötig; man fährt durchs Gelände, und wenn es irgendwo zu bergig und steinig wird, dann hört das Fahren eben auf, oder man fährt trotzdem. Natürlich kann es dabei passieren, daß der Wagen umfällt oder zerbricht und daß man unterwegs liegen bleibt. Aber ob sich so etwas ereignet, das hat Allah vorherbestimmt, und dazu kann kein Mensch etwas tun. Unter diesem Vorbehalt läßt sich sagen, daß man bei Eile und trockenem Wetter in zweieinhalb Tagen von Aleppo nach Urfa kommen kann; will man bequem fahren, so braucht man einen Tag mehr. Wenn es geregnet hat und der Boden aufgeweicht ist, so kann es noch viel länger dauern. Zunächst also wurde der Wagen gemietet.

Wir bekamen ein sehr gutes, neues und bequemes Gefährt mit einem verständigen Kutscher; dazu einen dienstbaren Geist, einen armenischen Schuhmacher, der aus Urfa stammte und etwas Englisch gelernt hatte, und einen Saptié (berittenen Gendarmen) zur Bedeckung. Notwendig ist die Eskorte hier noch nicht, aber es reist sich angenehmer damit. Früh mit Sonnenaufgang ging es aus dem engen Basar von Aleppo hinaus.


Am nächsten Morgen wurde wieder möglichst früh aufgebrochen, aber leider doch nicht früh genug, denn als wir nach drei Stunden an den Euphrat kamen, stand dort schon eine ganze Anzahl Wagen vor uns. Wir mußten also warten, bis die übergesetzt waren, und waren erst um ein Uhr mittags so weit, daß drüben wieder eingespannt werden konnte.

Der letzte Abstieg zum Euphrat ist sehr steil; vorsichtige Leute, zu denen in diesem Falle auch wir alle gehörten, steigen hier aus dem Wagen und gehen zu Fuß bis ans Wasser hinunter. Dagegen streitet freilich der Ehrgeiz mancher Kutscher. Unsrer, der auf den alttestamentlichen Prophetennamen Nahum hört, arabisch Naum, ist aber ein vorsichtiger Mann und war ganz zufrieden, allein auf dem Bock zu bleiben. Landschaftlich enttäuscht der Euphrat an dieser Stelle sehr, und meine Frau gab dem Gefühl auch unverhohlen Ausdruck. Um diese Jahreszeit ist der Fluß hoch geschwollen, aber die graugelben schaumigen Wassermassen wälzen sich durch ein ganz totes Gelände. Das rechte Ufer ist hoch; ausgebuchtete und gegen den Fluß hin steil abgewaschene Wände von Kreidekalk ziehen sich stromauf und stromab, soweit der Blick reicht; gegenüber ist flaches Land. Nur der große alte Stadtberg Tell Achmar erhebt sich einige hundert Meter vom Ufer, an ihn gelehnt das Dorf gleichen Namens, dessen Bewohner den Fährdienst besorgen. Nicht ein einziger Baum, nicht ein grüner Strauch ist nah und fern zu entdecken. Eine Insel, die bei Tell Achmar durch das Hochwasser entsteht, erleichtert etwas die Überfahrt; ihre einzigen Bewohner sind schwarze Ibisse von einer seltenen, heilig gehaltenen Art. Man wird erst in einem plumpen großen Boot, das einen Wagen und drei bis vier Pferde aufnehmen kann, bis auf die Insel gebracht; dann ziehen die Fährleute das Boot um die Spitze der Insel und schleppen es auf dem andern Ufer mühsam ein großes Stück in die Höhe. Dort steigt man wieder ein, das Fahrzeug wird abgestoßen und treibt nun, mit langen Stangen gerudert und gesteuert, reißend schnell über den Hauptarm des Euphrat. Es sieht manchmal ängstlich aus, ist aber nicht weiter gefährlich. Für jeden Wagen wird eine Medschidijé, ca. 3½ Mark, an Fährgeld erhoben. Unser Armenier erzählte, daß die Leute aus diesem Dorf große Banditen seien und sich nachts an den Weg legten, um gelegentlich einen kleinen Überfall zu probieren. Was Tell Achmar im Altertum gewesen ist, weiß man noch nicht sicher. Einige Stunden oberhalb, bei Dscherablus, wo ich 1900 in der Nacht der Jahrhundertwende an den Euphrat kam, hat man das alte Circesium oder Karkemisch gesucht. Dort besiegte der babylonische Kronprinz Nebukadnezar 606 vor Christus den Pharao Necho, und eine englische Gesellschaft macht jetzt am Platz bedeutende Ausgrabungen. Karkemisch soll aber nach neueren Ergebnissen bedeutend weiter stromab gelegen haben. Von Tell Achmar an waren wir also in Mesopotamien. Stundenlang führte der Weg durch ein vollkommen ödes Gelände, zerfurchte und zerfressene Kalkhügel von karstartigem Charakter. Heute gibt es hier nichts zu sehen, als hier und da eine Schafherde, einen kurdischen Hirten und nach etwa zwei Stunden ein einziges einsames Dorf. Die Leute dort sollten natürlich wieder Räuber sein; räubermäßig genug sahen sie diesmal aus. In früheren Zeiten muß auch diese scheinbar wirklich sterile Landschaft viel besser bevölkert gewesen sein, denn wo sich irgendein kleines Tal mit ebenem Boden zeigte, lag auch ein Tell darin, und alte Grundmauern, bis auf den Erdboden herab, zerstört und abgeschliffen, liefen öfters quer über den Weg. So ging es beinahe vier Stunden, bis jenseits einer kleinen Paßhöhe, auf der zahllose winzige Steinpyramiden, von den Vorübergehenden aufgebaut, standen. Dann rasch hinunter in die große, gut angebaute Ebene von Surudsch, die wie ein flaches, rings geschlossenes Becken in die Karstlandschaft eingesenkt ist.

Surudsch war unser zweites Nachtquartier. Von dort bis Urfa sind noch vier bis fünf Stunden. Halbwegs erreicht man die schöne, im Bau befindliche Fahrstraße von Urfa nach Viredschik am Euphrat. Jetzt, wo die Bagdadbahn kommt, wird sie wohl kaum noch vollendet werden. Unmittelbar vor der Chaussee führt der Weg von Surudsch her durch ein felsiges Tal, an dessen Südwand alte Höhlen mit griechischen und arabischen Inschriften über dem Eingang liegen. Vor einer dieser Höhlen lagen hunderte verwesender Schafkadaver. In dem harten Winter dieses Jahres, dem schlimmsten, den Syrien und Mesopotamien seit Menschengedenken erlebt haben, sind hunderttausende von Tieren zugrunde gegangen. Auch alle Öl- und Maulbeerbäume sind erfroren. Zwischen Surudsch und Urfa beginnt jene Region Obermesopotamiens, die voll ist von eigentümlich gearteten baulichen Überresten aus dem Altertum. Sie sind zum Teil in den Kalkfels gehauen, zum Teil waren sie oberirdisch aufgebaut oder aus dem Fels herausgearbeitet. Höhlen, Zisternen, Treppenanlagen, die zu verschwundenen Gebäuden führten, Trümmer von Landhäusern und Weilern erfüllen das Kalkgebirge tagereisenweit nach Osten.

Urfa liegt auf der ersten leisen Anschwellung, wo die mesopotamische Ebene nach Norden in die dem hohen Taurus vorgelagerte Kalklandschaft übergeht, über der Stadt ragt ein steiler Bergrücken empor, der die alte Festung trägt. Er ist durch einen gewaltigen Einhau von der Hauptmasse der Höhen, deren Ausläufer er bildet, getrennt.

Bis hierher war in der Zeit der Kriegszüge die abendländliche Herrschaft nach Osten vorgedrungen. Damals hieß die Stadt noch mit ihrem hellenistischen Namen Edessa, nach Edessa in Mazedonien. Der alte syrische Name war Urhai, gräzisiert Osrhoë. Seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus residierten hier semitische Dynasten, die »Abgare«, als Vasallen der Seleuziden und später der Römer. Der fünfte Abgar, Uchumo, soll nach einer aus dem frühen christlichen Altertum stammenden Legende mit Jesus im Briefwechsel gestanden haben! Noch Eusebius zur Zeit des Konsils von Nicäa hielt diese Briefe für echt. 1097 nach Christus eroberte Balduin, der Bruder Gottfrieds von Bouillon, an der Spitze eines Heeres, das aus niederrheinischen Deutschen bestand, Edessa und das obere Mesopotamien und wurde Lehnsträger des Königreichs Jerusalem. Nach einem halben Jahrhundert aber verlor der Fürst Jocelyn II. Stadt und Gebiet an den mohammedanischen Emir von Mossul.

Für das deutsche Interesse ist Urfa durch zwei oder drei deutsche Werke, die hier getrieben werden, wichtig. Es sind das das Hospital und das Waisenhaus der deutschen Orientmission und die deutsche Teppichmanufaktur. Die Orientmission ist das Lebenswerk von Johannes Lepsius, aus dessen Armenierhilfe sie hervorgegangen ist. Ich habe vor Jahren einmal in den Preußischen Jahrbüchern eine Berechnung darüber angestellt, wieviel Geld nach den armenischen Massakers der neunziger Jahre aus Europa und Amerika nach Armenien geflossen ist; ich glaube, es waren zweieinhalb Millionen Mark, und auf Deutschland entfiel davon der vierte oder fünfte Teil. Es ist nicht zuviel gesagt, daß diese Hilfe einen großen Teil der armenischen Nation gerettet hat, denn Zehntausende, vielleicht Hunderttausende außer denen, die das Morden Abdul Hamids hinweggerafft hatte, wären noch in der Folge an Hunger, Kälte und Wunden zugrunde gegangen, wenn nicht die große Hilfsaktion im Abendland eingesetzt hätte. Als ich Urfa vor zehn Jahren besuchte, war das Innere der armenischen Kathedrale, wo die Mohammedaner 2000 Menschen hatten ersticken lassen, noch durch Rauch geschwärzt. Jetzt sind jene Tage fast vergessen, und die Kleinen, die ich damals in dem Lepsiusschen Waisenhause sah, sind herangewachsen und, wie man nach übereinstimmendem Urteil wohl sagen darf, etwas Rechtes geworden. Das Waisenhaus zählt aber immer noch etwa 150 Kinder, denn vater- und mutterlose Waisen oder solche, denen die überlebende Mutter keine Nahrung schaffen kann, gibt es unter den Armeniern noch genug. Außerdem ist eine ganze Anzahl Kinder aus Antiochien herübergebracht worden, wo im April 1909, zu derselben Zeit, wie in Adana, wieder ein Massaker stattfand, hoffentlich das letzte, das noch auf die Todeszuckungen des alten Regimes zurückzuführen war. An das Waisenhaus haben sich unter der Leitung der sehr verdienstvollen und hingebenden Vorsteherin, Fräulein Jeppe, verschiedene Handwerksmitglieder angegliedert: Weberei, Gerberei u. a. Diese Betriebe erzielen sehr schöne, auf dem Bazar von Urfa und weit darüber hinaus durch gute Preise anerkannte Leistungen. Es ist erstaunlich, mit welch organisatorischer Energie und welcher Einarbeitung in die Technik Fräulein Jeppe diese Dinge beherrscht und dirigiert; aber sie sind nicht das einzige Hervorragende, was sie geleistet hat. Sie hat es auch zustande gebracht, durch ein genial einfach erdachtes Schreib-Lesesystem den Elementarunterricht in der armenischen Sprache, um den es bisher bei den Schwierigkeiten des armenischen Alphabets und dem Mangel methodischer Ausbildung der armenischen Lehrkräfte sehr schlecht bestellt war, in einer Weise zu reformieren, daß die armenischen Lehrer und Lehrerinnen jetzt von weit und breit nach Urfa gezogen kommen, um die Jeppesche Methode zu lernen. Sie hat ferner erfolgreiche deutsche Unterrichtskurse für die älteren Zöglinge des Waisenhauses eingerichtet und regiert Kinder und Lehrerinnen, Hausväter und Hausmütter mit fester und verehrter Hand.

Eine zweite Säule für das Ansehen der christlichen Deutschen in Urfa und weit darüber hinaus ist das Hospital, an dem ein Arzt, Dr. Vischer, Deutsch-Schweizer, Diakon Künzler, sowie ein armenischer Arzt und mehrere einheimische Schwestern tätig sind. Wenn auch die Zahl der christlichen Patienten überwiegt, so nimmt doch die der mohammedanischen fortdauernd zu, und der Einfluß des Hospitals reicht bis weit in die mesopotamische Steppe und bis in die kurdischen Berge. Es ist nicht zu sagen, welch ein moralisches Eroberungskapital durch das Hospital und die ganze Arbeit der deutschen Orientmission in diesem Lande zinsbringend angelegt wird, und ich begreife die Kurzsichtigkeit nicht, mit der gelegentlich an der deutschen Orientmission gerade in der Heimat Kritik geübt wird. Die Kritiker können sicher sein: besser können die Gaben, aus denen das Werk der Orientmission erhalten wird, gar nicht angelegt werden, als hier geschieht. Das gilt vom allgemein menschlichen und vom deutschen, wie vom idealreligiösen Standpunkt aus gesehen. Nur darf kein verständiger Mensch erwarten, von heute auf morgen weithin sichtbare Früchte reifen zu sehen. Was der Orient zu seiner inneren kulturellen und religiösen Umwandlung braucht, sind andere Menschen, als er jetzt hat, Menschen, die unter dem Einfluß abendländisch-christlicher Gewissenhaftigkeit und Aufrichtigkeit erzogen sind, Menschen, die an den Werken, die von diesen deutschen Christen unter ihnen getan werden, und an dem lebendigen Segen, der von diesen Werken ausgeht, einen überzeugenden Eindruck von der inneren Kraft gewonnen haben, die dieser Art Tun innewohnt. Das ist eine Arbeit, die nicht mit Flügeln des Dampfes vorangeht, aber so langsam sie wirkt, so sicher tut sie es. Von dem Geist, der in dem Waisenhaus herrscht, gab uns ein Abend, den Fräulein Jeppe für die Gäste aus Deutschland mit ihren Kindern veranstaltete, ein erfrischend lebendiges Zeugnis. Eine Anzahl von Lehrerinnen und älteren Mädchen führten, in armenischer Sprache natürlich, die uns gedolmetscht wurde, Szenen auf, wie es in dem häuslichen Leben einer armenischen Familie zugeht, die noch nach alter Art, von Schulbildung, religiöser Belebung und andern Einflüssen der neuen Zeit unberührt, ihr Dasein führt. Die niedere Stellung der Frau, die wunderlichen und törichten Sitten der alten Zeit, der krasse Aberglaube und andres der Art wurden mit erfrischendem Humor, von einzelnen Darstellern sogar mit schauspielerisch feiner Ironie veranschaulicht. Alle Rollen mit Ausnahme eines unartigen kleinen Jungen, der dazu diente, die Erziehungsfehler und die pädagogische Hilflosigkeit der besserungsfeindlichen Alten zu demonstrieren, wurden von Mädchen gegeben.

Auch den Betrieb in der Teppichmanufaktur haben wir uns ausführlich angesehen. Sie hing ursprünglich ebenfalls mit dem armenischen Hilfswerk zusammen und diente dazu, den Witwen und armen Frauen nach dem Massaker Beschäftigung und Nahrung zu geben. Jetzt ist sie selbständig organisiert und wird auf geschäftlicher Grundlage betrieben, jedoch so, daß vor allen Dingen armenische Mädchen und Frauen aus der Stadt und frühere Waisenhauskinder beschäftigt werden. Ich war erstaunt zu sehen, wie sich die Urfaer Ware seit 1901, wo ich die ersten Anfänge der Arbeit in Urfa miterlebte, entwickelt hat. Es werden fast nur noch Qualitätsteppiche zum Preise von 25–30 M. pro Quadratmeter ab Fabrik hergestellt. Durch Bezug einer besonderen Art von Teppichwolle von der persischen Grenze und durch die Erfindung einer Methode, den neuen Teppichen den berühmten, echten und unvergänglichen Altersglanz zu verleihen, ist die Teppichmanufaktur von Urfa im Begriff, sich der gesamten orientalischen Teppichproduktion, was Qualität betrifft, in die vordere Reihe zu stellen, und es bleibt nur zu wünschen übrig, daß genügend Kapital hineingesteckt werden kann, um die Herstellung auch quantitativ weiter auszudehnen.