Smyrna. - Dr. Gustav Lang, Von Rom nach Sardes, Reisebilder aus klassischen Landen. 2. A. 1900.

Wer nur kurz die wichtigsten Punkte an der Westküste Kleinasiens, die uralten Stätten griechischer Kolonisation am Ägäischen Meer, besuchen will, nimmt Smyrna zu seinem Ausgangspunkt. Man hat hier nicht bloß die besten Verbindungen zu Wasser und zu Land nach allen Hauptplätzen Ioniens und Äoliens (eine englische Eisenbahn geht von hier in zwei sich verzweigenden Linien ins Innere ab); man genießt auch unter allen Städten Kleinasiens in Smyrna die beste Unterkunft und Verpflegung. Und das ist nicht zu unterschätzen in einem Land, wo die Kultur sich auf einige Hauptplätze am Meere beschränkt, im übrigen das meiste, wüste und leer, ein Bild trostlosen Verfalles bietet. Sobald man den europäisch eingerichteten Gasthof am Strande von Smyrna verläßt, hat in der Regel die Gemütlichkeit und Behaglichkeit ein Ende, und nach ein paar Tagen und insbesondere nach ein paar Nächten in der Wildnis Kleinasiens kehrt man immer wieder gern und dankbar unter das sichere und reinliche Dach des internationalen Hotels zurück.

Der Golf von Smyrna ist außerordentlich tief eingeschnitten, stundenlang währt die Fahrt die hohe Gebirgswand der Halbinsel entlang, welche die Bucht im Süden begrenzt, bis im Osten die helle Häuserreihe der Stadt sichtbar wird. Nach Norden begleitet zuerst die angeschwemmte Mündungsebene des Hermosdeltas, kaum merklich sich über die Meeresfläche erhebend, den Golf; erst kurz vor dem Hafen treten die Ausläufer des Sipylosgebirges zur Linken hervor; ein Halbkreis mächtiger Felsengebirge, der jonische Olymp, bildet den Hintergrund. Das Wasser des Golfs, außen vom dunkelsten Meeresblau, wird bei der sandigen Hermosmündung zusehends grünlich, bis es im Hafen selbst, durch die Abwasser der Stadt ohne Unterlaß verunreinigt, eine schmutzig gelbliche Färbung annimmt. Dieser Umstand beeinträchtigt auch die Schönheit des großartigen Quais von Smyrna, welcher die Bucht in langer gerader Linie abschließt. Die Brandung wühlt beständig in dem faulenden Morast und sendet bei heftigem Westwind schmutzige Sturzwellen und einen penetranten Kloakengeruch über die Straße.


Die Stadt Smyrna, die Hauptstadt des türkischen Wilajets Aidin, ist eine der interessantesten Städte des türkischen Reichs. Die Schönheit des Quais von Smyrna, seine Anlage, Länge und Bebauung, die gebirgige Umgebung kann mit Palermo wetteifern. Freilich darf man das schöne blaue Wasser des Mittelmeers nur weit draußen als dunkeln Meereshorizont bewundern. Dafür ist das Treiben auf dem Quai einzig in seiner Art. Hier konzentriert sich der Handel Kleinasiens; geschäftig lädt man ein und aus. Lange Karawanen kommen und gehen: ein Eselsreiter in arabischer Tracht voran, angeseilt folgen die hochbeladenen Kamele im Gänsemarsch mit schwankenden Tritten; das letzte Tier trägt eine klingende Schelle und zeigt so während des Marsches dem Führer beständig an, daß ihm der Zug noch vollzählig nachfolgt. Im übrigen hat der Quai einen fast europäischen Charakter. Eine mächtige Infanteriekaserne und der große Palast des Wali (Generalgouverneurs) beginnen die stattliche Häuserreihe modernen Aussehens, welche in unabsehbarer Linie den Quai begleitet. Außerdem fährt eine Pferdebahn die ganze Länge des Quais auf und ab, ein Bild der europäischen Kultur, welche hier die orientalische Welt berührt und durchsetzt. Aus dieser Mischung resultiert ein drittes, das eben Smyrna sein charakteristisches Gepräge und seine Anziehungskraft verleiht.

Am anziehendsten gestaltet sich das Abendleben auf dem Quai. Ganz Smyrna ergeht sich daselbst an den schönen Abenden der guten Jahreszeit im kühlenden Seewind, die griechischen und armenischen Damen in schmucken Sommertoiletten. Die ganze Hafenfront entlang laden allerlei Etablissements Fremde und Einheimische zu Genüssen jeder Art. Von der gemeinen Matrosenkneipe, wo es bei schlechter Tanzmusik oder Kunstproduktionen niedrigster Gattung recht gemischt zugeht, bis hinauf zum Café chantant und Sommertheater nach Pariser Muster, in denen sich die feine Welt zusammenfindet, ist hier die ganze Skala der großstädtischen Vergnügungen vertreten. In allen Vorgärten der Restaurants wird musiziert; etwa in der Mitte des Quais zeichnet sich ein Café durch besonders feine Ausstattung und Frequenz vor allen andern aus, ein Streichkonzert einer europäisch gekleideten Musikkapelle sorgt für die Unterhaltung der Besucher des Gartens und der nicht weniger zahlreichen Zaungäste.

Natürlich fehlen auf der ganzen Länge des Quais die Händler nicht, die in den malerischen Trachten des Orients ihre Waren feil bieten. Jeder hält sich genau an seine Nationaltracht, so daß man bald den Türken vom Inselgriechen, den Armenier vom Juden unterscheiden lernt. Dies kann in Zeiten nationaler oder religiöser Erregung für den einzelnen verhängnisvoll werden, indem er von jedem Gegner sofort erkannt wird und Gewalt zu erleiden in Gefahr steht, während allerdings eben dadurch auch Unbeteiligte vor unliebsamen Verwechslungen geschützt sind. Unter den zum Verkauf ausgebotenen Waren spielen Backwerk, Früchte und erfrischende Getränke die Hauptrolle; erstaunlich ist aber auch die Menge der griechischen und armenischen Wechsler, welche die Straße entlang hinter kleinen Tischchen hervor, auf denen unter Glaskästen ihr ganzer Reichtum an Gold- und Silbermünzen ausgestellt ist, den Fremden unaufhörlich ihre Dienste anbieten.

Es ist ein recht orientalisches Geschäft, bei einem dieser Gauner sich einen »Napoleon« (20 Fr.) in türkische Münze umwechseln zu lassen. Vor allem muß man genau wissen, wie viel man zu bekommen hat, und auch dann noch muß man mindestens eine Viertelstunde feilschen, bis man dieser Summe, welche der Wechsler zunächst weit unterbietet, auf 1 oder 1 ½ Fr. nahe gekommen ist; hiebei muß man sich schließlich beruhigen, wenn man nicht von vornherein auf das ganze interessante Geschäft verzichten will. Denn jetzt geht die Sache erst recht an. Der Wechsler zählt die geforderte Anzahl Silberlinge auf den Tisch. Nun muß man wissen, daß der türkische Staat nicht wie zivilisierte Länder die abgegriffenen Silberstücke gegen volle Entschädigung einzieht und durch neue ersetzt, sondern daß er eine abgegriffene Münze einfach für wertlos erklärt, ohne sie selbst wenigstens an Zahlungsstatt zurückzunehmen. Hierin liegt nun der Grund, warum im Orient das Wechslergeschäft in solcher Blüte steht. Gegen billiges Geld kann sich jedermann einen ungeheuren Schatz entwerteten Silbergeldes anlegen, und gelingt es ihm, dasselbe vollwertig einem Fremden anzuhängen, so hat er ein glänzendes Geschäft gemacht. Das erste, was man also zu tun hat, ist, die vielen alten abgegriffenen Münzen auszuscheiden und neue zu verlangen, was denn auch ohne Widerstand gewährt wird. Aber noch ist es notwendig, aufzumerken, ob man nun auch wirklich türkisches Geld bekommen hat. Man kann darauf wetten, noch irgend ein seltenes Inventarstück vergangener Silberwährungen darunter anzutreffen: alte Gulden, preußische Silbergroschen, Königreich beider Sizilien und Jerusalem, Kirchenstaat u. dergl., zum mindesten minderwertige Silberfranken aus bankerotten Ländern. Auch ein gefälschtes Stück verirrt sich gar zu gern unter die Münze. Es vergeht abermals fast eine Viertelstunde, bis auch diese Auslese getroffen ist, wobei der Wechsler stets den koulanten Mann spielt, dessen Hochachtung mit jedem entdeckten Schlich höher steigt. Man zieht befriedigt von dannen mit einer Tasche voll großer Silberstücke, um im nächsten Restaurant sich vom Zahlkellner belehren zu lassen, daß man doch noch betrogen worden ist. Abgesehen von den strenggläubigen Türken hält der ganze Orient betrügen für weniger schimpflich, als sich betrügen zu lassen. Wenn man daher nicht zum Schaden noch den Spott haben will, tut man gut, über derartige Erlebnisse sich nicht allzu entrüstet zu zeigen. Wer es nicht über sich gewinnt, diese Eigentümlichkeiten des orientalischen Verkehrs mit Humor zu verwinden, der tut besser, überhaupt zu Hause zu bleiben. –

Wie bei Konstantinopel und den meisten orientalischen Städten entspricht auch bei Smyrna das Innere der Stadt wenig dem prächtigen Anblick, den es vom Meer her darbietet. Smyrna hat noch den stattlichen Quai vor Konstantinopel voraus, wo nichts derartiges zu finden ist; sonst aber steht es an Sehenswürdigkeiten weit hinter ihm zurück.

Die Stadt zerfällt in verschiedene Quartiere, die nach den vorherrschenden Nationalitäten benannt sind. Das Fremdenviertel, unmittelbar hinter dem Quai, ist in seiner ganzen Länge von der Frankenstraße durchzogen. Sie führt uns zwischen niederen Häusern europäischen Stils an den Konsulaten, Kirchen, Hospitälern europäischer Nationen vorbei in das Gassengewirr der Bazare. Jenseits derselben zieht sich das malerische Türkenviertel, an das sich das Judenviertel anschließt, den Abhang hinan. Nach dem Gebirge zu schließt der Cypressenhain des großen muhammedanischen Friedhofs das Stadtbild ab, von seiner beherrschenden Höhe eröffnet sich ein entzückender Blick über Stadt und Golf. Im Osten ragt der Berg Pagos auf, die Akropolis des alten Smyrna, von deren Höhe noch heute die Reste der griechischen und genuesischen Befestigungen herabgrüßen. An unbedeutenden Spuren des antiken Stadion und Theaters vorbei geht es den schroffen Abhang hinan, bis wir auf dem ummauerten Plateau des Berges ankommen. Außer den aus verschiedenen Zeiten stammenden Mauerresten und einer großen Zisterne befindet sich hier wenig Bemerkenswertes. Der Blick ins Tal des Meles, der die Stadt im Osten begrenzt, und in das in üppiger Vegetation prangende Tal von Burnabat, wo die Reichen Smyrnas ihre Landsitze unterhalten, verlockt uns zum Abstieg nach dieser Richtung. Dem Rande des Türkenviertels entlang kommen wir zur einzigen Brücke, welche über den Meles aus der Stadt ins Innere des Landes führt. Sie heißt Karawanenbrücke, weil hier den ganzen Tag lange Züge von Kamelen ein- und ausgehen und rings an den Ufern des Flusses Rast halten. Ein verrufenes Vorstädtchen schließt sich um diese Brücke her. Durch das Armenier- und das Bazarviertel kehren wir auf den Quai zurück. Während das griechische Smyrna sich um den Berg Pagos am Meeresstrand ausdehnte, wo es nach Alexanders des Großen Tod von Antigonos neugegründet wurde, lag die uralte Kolonie der Äolier nördlich über der jetzigen Stadt auf den Vorbergen des Sipylos, wurde aber schon ums Jahr 600 v. Chr. vom Lyderkonig Alyattes zerstört und lag seither wüste und leer. Noch nach Jahrtausenden erkennt der Besucher, der die vorgriechischen Burgen Mykene und Tiryns im Peloponnes studiert hat, ohne Mühe die Stätte der Burg von Alt-Smyrna. Nach mykenischer Art gefügte Mauern umfassen eine Hochfläche von fünfzig Meter im Durchmesser, die einen freien weiten Blick über Land und Meer gestattet. Uralte Gräber, aus kuppelförmig geschichteten Steinplatten errichtet, bezeichnet den Ort als Sitz uralter Herrschergeschlechter der homerischen Welt. Der Name des Tantalus, des Ahnherrn Agamemnons, des Herrschers von Mykene, ist mit diesem Ort verknüpft, und Homer selbst soll am Fürstenhofe zu Smyrna seine unsterblichen Gedichte gesungen haben, welche er drunten im grünen Tal von Burnabat und an den Ufern des Meles gedichtet habe. Wer nach Smyrna kommt, möge die Anstrengung des sechsstündigen Ausflugs auf die ragende Burg nicht scheuen, sondern der Steinwüste von Alt-Smyrnas Felshöhen seinen Besuch abstatten! Die alten Götter- und Heroensagen gewinnen auf den alten Götter- und Heroenbergen neues Leben und volle dichterische Wahrheit wieder und verleihen den Orten, die sie verherrlichen, einen erhabenen Inhalt.