Eine Reise durch das heutige Tibet. - Auf verbotenen Wegen.- Nach -Daheim- 1899 Nr. 8

Es gibt zur Zeit nur noch ein einziges großes Land auf dem weiten Erdenrund, das den Europäern durchaus verschlossen ist. Dieses Land ist Tibet, der Kirchenstaat des Buddhismus. Auf einem Flächenraum von fast zwei Millionen Quadratkilometern, der sich über ein überaus rauhes Hochland erstreckt, lebt eine Bevölkerung von annähernd anderthalb Millionen Menschen. Das Klima ist so unwirtlich, daß der Norden des Landes fast ganz unbewohnt ist. Ungeheuere Herden von wilden Yaks, langhaarigen Antilopen, Wildziegen werden hier kaum je durch Menschen beunruhigt. Mehr nach Süden hin durchziehen Nomaden das Land, das nur wenige größere Städte hat. Die Nomaden haben die Yaks gezähmt und benutzen sie als Reit- und Lasttiere, und sie führen ferner Herden von Rindern, Schafen und Pferden mit sich. In den städtischen Siedelungen werden Woll- und Filzwaren fabriziert. Diese, Moschus- und Pelzwaren werden nach China und in das nördliche indische Gebirgsland ausgeführt.

Im siebenten Jahrhundert drang der Buddhismus bis nach Tibet vor, und es scheint sich schon damals ein Priesterstaat gebildet zu haben. Zum Kirchenstaat des Buddhismus wurde Tibet aber erst im fünfzehnten Jahrhundert, als es der Sitz des Papstes der Buddhisten, des Dalai Lama, wurde.


Alle hohen Beamten sind Klostergeistliche, Lamas, und das Land ist bedeckt von Klöstern, Lamasereien, in denen Herden von trägen, unwissenden und unsittlichen Mönchen und Nonnen sich von der ohnehin blutarmen Bevölkerung ernähren lassen.

Wie gefährlich der Versuch, Tibet zu erforschen, ist, hat 1897 ein junger Engländer Henry S. Landor am eigenen Leibe erfahren müssen. Er hat seine Reise in einem Buch beschrieben, das »Auf verbotenen Wegen« heißt und 1898 in deutscher Ausgabe bei F. A. Brockhaus in Leipzig erschienen ist. – Herr Landor hatte von vornherein den Plan, die Tibetaner zu überlisten. Seine Expedition mußte deshalb aus möglichst wenig Personen bestehen. Mit diesen wollte er auf Wegen, die den meisten Menschen unzugänglich sind, in das Land eindringen, und wenn er die streng überwachte Grenzlandschaft hinter sich hatte, als indischer Pilger nach Lhassa gelangen.

Landor hatte als Einbruchsstelle den 5115 Meter hohen Lippupaß im Nordosten von Almora ins Auge gefaßt. Er hoffte in dem Dorfs Garbyang die nötige Anzahl Träger zu finden, und es gelang ihm in der Tat mit Hilfe eines englischen Missionars Dr. Wilson, dreißig Mann willig zu machen, ihm zu folgen. Auch Dr. Wilson entschloß sich, ihn zu begleiten. Es stellte sich bald heraus, daß der Kommandant von Taklakot erfahren hatte, ein Engländer wolle in Tibet eindringen, und die Grenzwache alarmierte. Infolge dessen mußten Landor und seine Gefährten westlich ausbiegen und auf den ungangbarsten Bergpfaden den 5530 Meter hohen Lumpiyapaß zu erreichen suchen. Da sie alle geschickte Bergsteiger waren, gelang ihnen das auch, obgleich sie mehrfach reißende Bergströme auf Schneebrücken überschreiten mußten. Obgleich reitende Boten der Grenzwache den Befehl überbracht hatten, auf den verwegenen Engländer zu fahnden, ließ diese die Karawane, die angeblich aus Pilgern bestand, doch passieren. Als Landor aber das nächste Fort erreicht hatte, trat ihnen ein hoher Beamter entgegen und zwang sie, da er Verdacht geschöpft hatte, Landor könne der junge Engländer sein, zur Rückkehr. Sie fügten sich denn auch scheinbar, Landor beschloß aber, während die Karawane unter Dr. Wilson nach Indien zurückkehrte, mit einigen wenigen Trägern in Tibet einzudringen. Zwei indische Diener, Tschanden Sing und Man Sing, und sieben Träger folgten ihm. In furchtbarem Schneetreiben verließen sie das Lager, täuschten die sie überwachenden Spione und marschierten, sich immer auf den unwegsamen Bergen haltend, landeinwärts. Auf diesem Marsche erlebte Landor eine Fülle von Abenteuern der verschiedensten Art und hatte nicht nur tibetanische Soldaten und Räuber, sondern auch Verrat im eigenen Lager zu bekämpfen.

Schließlich hatte er nur noch die beiden indischen Diener. Trotzdem setzte der furchtlose Mann im Vertrauen auf die Feigheit der Tibetaner seinen Marsch in der Richtung von Lhassa fort und hatte sich diesem bereits bis auf vier Tagereisen genähert, als er plötzlich in der Nähe eines Forts von den Tibetanern hinterlistig gefangen genommen wurde. Landor nahm sich vor, ihnen unter allen Umständen durch seine Selbstbeherrschung zu imponieren, und die letzten Worte, die er an seine Diener richtete, lauteten: »Was sie euch auch zufügen mögen, laßt sie nicht sehen, daß ihr leidet.« Landor wurde nun einem Verhör unterworfen, das er folgendermaßen schildert: »Auf einem hohen Sitze in der Mitte des Zeltes saß ein Mann, der weite Hosen von schreiend gelber Farbe und einen kurzen gelben Rock mit lang herabhängenden Ärmeln trug. Auf dem Kopfe hatte er einen ungeheuren vierspitzigen über und über vergoldeten Hut, auf den drei große Augen gemalt waren. Er sah jung aus; sein Kopf war glatt rasiert, da er ein Lama vom höchsten Range war. Zu seiner Rechten stand ein dicker, kräftiger roter Lama, der ein gewaltiges, zweihändiges Schwert hielt, und auf beiden Seiten waren zahlreiche andere Lamas, Offiziere und Soldaten. Als ich schweigend und hocherhobenen Hauptes vor ihm stand, stürzten zwei oder drei Lamas auf mich zu und befahlen mir, niederzuknieen. Sie versuchten, mich dazu zu zwingen, indem sie mich auf die Kniee niederdrücken wollten, aber es gelang mir, meine aufrechte Stellung zu bewahren.

Der Pombo, der vor Wut buchstäblich aus dem Munde schäumte, redete mich in Worten an, die sehr heftig klangen, aber da er klassisches Tibetanisch sprach und ich nur die Umgangssprache, konnte ich kein Wort von dem, was er sagte, verstehen, und so bat ich ihn demütig, nicht so schöne Worte zu gebrauchen.

Dieses unerhörte Ersuchen machte den großen Mann ganz verdutzt, und mit drohender Miene gab er mir ein Zeichen, nach links zu blicken.

Die Soldaten und Lamas traten zur Seite, und ich gewahrte meinen treuen Diener Tschanden Sing, der vor einer Reihe von Lamas und Militärpersonen mit dem Gesicht nach unten und von den Hüften abwärts gänzlich unbekleidet platt am Boden lag. Nun begannen zwei starke Lamas, einer von jeder Seite, ihn von neuem mit geknoteten, mit Bleistücken besetzten Lederriemen zu züchtigen, indem sie ihn mit kräftigen Armen vom Gürtel bis zu den Füßen mit wuchtigen Hieben bearbeiteten. Er blutete jämmerlich.

Jedesmal, wenn ein Hieb auf seine zerrissene Haut niederfiel, war es mir, als würde mir ein Dolch in die Brust gestoßen; aber ich kannte die Orientalen zu gut, als daß ich mein Mitleid mit dem Manne gezeigt hätte, weil ihm dies nur eine noch härtere Strafe zugezogen haben würde. So sah ich seiner Tortur zu, wie man auf ein alltägliches Vorkommnis blickt. Die in meiner Nähe stehenden Lamas schüttelten ihre Fäuste vor meiner Nase und erklärten mir, daß ich gleich an die Reihe kommen würde, worauf ich lächelte und das gewöhnliche »Nikutza, nikutza« wiederholte.

Wie ich auf ihren Gesichtern deutlich sehen konnte, wußten der Pompo und seine Offiziere nicht, was sie aus mir machen sollten; und je mehr ich bemerkte, wie gut mein Plan einschlug, desto höher schraubte ich meinen Mut, um meine Rolle, so gut ich irgend konnte durchzuführen.

Wenigstens zwei Minuten lang saß der Pombo, ein weibischer, jugendlicher, hübscher Mensch wie in einer Verzückung da, seine Augen fest auf die meinigen gerichtet.

Es war eine wunderbare, plötzliche Veränderung mit dem Manne vorgegangen, und seine vor wenigen Augenblicken noch so anmaßende und zornige Stimme klang jetzt sanft und gütig. Die Lamas, die ihn umgaben, waren augenscheinlich bestürzt, als sie ihren Herrn und Meister aus einem schäumenden Wüterich in das sanfteste Lamm verwandelt sahen. Sie ergriffen mich daher und brachten mich ihm aus den Augen, an die Stelle, wo Tschanden Sing gezüchtigt wurde. Hier konnten sie mich wieder nicht zum Niederknieen zwingen, weshalb mir schließlich erlaubt wurde, mich vor den Offizieren des Pombos auf die Erde zu kauern.

Die beiden Lamas verließen Tschanden Sing und begannen, nachdem sie meine Notizbücher und Karten hervorgezogen hatten, mich scharf zu verhören, wobei sie sagten, daß ich verschont bleiben sollte, wenn ich die Wahrheit spräche; im anderen Falle würde ich erst gepeitscht und dann enthauptet werden.

Ich antwortete, daß ich die Wahrheit sprechen würde, gleichviel ob sie mich strafen oder nicht.

Darauf sagte mir einer der Lamas, ein großer, dicker, roher Kerl, der mit einem prächtigen rotseidenen Rock mit Goldstickerei am Kragen aufgeputzt war, ich solle aussagen, daß mein Diener mir den Weg durch Tibet gezeigt und daß er die Landkarten und Skizzen gemacht habe. Wenn ich dies sagen wollte, wären sie willens, mich freizugeben und mich mit dem Versprechen, mir kein weiteres Leid anzutun, an die Grenze zurückbefördern zu lassen. Sie wollten meinen Diener enthaupten: das wäre alles; mir persönlich sollte aber kein Schaden zugefügt werden.

Ich machte es den Lamas klar, daß ich allein für die Karten und Skizzen sowie für die Auffindung des Weges verantwortlich sei, der mich so weit ins Land geführt hätte. Die Lamas wurden hierüber zornig, und der eine von ihnen schlug mich mit dem dicken Ende seiner Reitpeitsche heftig auf den Kopf. Ich tat, als ob ich es nicht fühlte, trotzdem meine arme Kopfhaut noch lange davon schmerzte und brannte.«

Ein Regenguß, den die Tibetaner über alles fürchten, machte der Folter zunächst ein Ende. Am folgenden Tage aber wurde Landor von neuem in der grausamsten Weise gefoltert. Es erscheint kaum glaublich, daß ein Mensch solche Qualen aushalten kann. Man setzte ihn auf einen mit Stacheln versehenen Sattel und jagte das Pferd, das ihn trug, umher: man hielt einen glühenden Eisenstab so nahe an seine Augen, daß er fast geblendet wurde; man tat, als ob man ihn hinrichten wollte, und der Henker berührte mit seinem Schwert fast seinen Hals, aber da Langor kein Zeichen von Furcht gab, konnte der Pombo sich wirklich nicht entschließen, ihn hinrichten zu lassen. Nicht nur das, er gewann eine Art Zuneigung für den Fremdling und suchte ihm persönlich zu imponieren, indem er unter anderem vor ihm einen Tanz aufführte.

Schließlich wirkte er, obgleich die befragten Orakel sehr ungünstig für den Engländer ausfielen, dahin, daß dieser und seine Diener am Leben gelassen und nur über die Grenze gebracht werden sollten. Das geschah denn auch, und Landor erreichte, nachdem er noch unterwegs furchtbare Qualen ausgestanden hatte, glücklich, wenn auch im jammervollsten Zustande, Dr. Wilson. Er erhielt auch einen Teil seines konfiszierten Gepäcks, sein Tagebuch, seine Karten und Skizzen zurück.

Nicht so schlimm ist es Sven Hedin ergangen, der 1901 den gleichen Versuch machte, nach Lhasa, der heiligen Stadt Tibets, vorzudringen. Auch er wurde trotz aller Verkleidung als Europäer erkannt, ausspioniert, beobachtet, endlich festgehalten und schließlich von einem Lama in hoher Stellung, Kamba Bombo, verhört. »Als dieser,« erzählt Sven Hedin , (»im Herzen von Asien« 1910) »in der Nähe unseres Zeltes anhielt, sprang das Gefolge aus dem Sattel und breitete auf der Erde einen Teppich aus, auf dem der Gouverneur abstieg. Dann nahm er auf Kissen und Decken Platz, und Nanso Lama, ein vornehmer Priester, setzte sich neben ihn.

Jetzt ging ich ruhig zu ihm heraus und bat ihn, ins Zelt zu treten, wo er sofort den Ehrenplatz, einen nassen Maissack, einnahm. Er sah listig und schelmisch aus, blinzelte mit den Augen und lächelte oft. Er mochte 40 Jahre alt sein, war klein und bleich, sah abgezehrt und müde, aber doch beglückt aus, daß er uns jetzt endlich in der Falle hatte; er wußte ganz genau, daß er in Lhasa großen Ruhm ernten werde. Sein Anzug war geschmackvoll und elegant. Die Überkleider, einen großen, roten Radmantel und ein rotes Baschlik, nahmen ihm die Diener ab. Er trug ein kleines, blaues, chinesisches Käppchen, ein weitärmeliges Gewand von schwerer gelber Seide und grüne, mongolische Sammetstiefel. Es wurde ihm Tintenfaß, Feder und Papier gebracht, worauf das Verhör begann. Wir interessierten ihn weniger als das zurückgebliebene Hauptquartier und die Stärke der Karawane. Alle Antworten notierte er selbst. Dann wurden unsere Habseligkeiten untersucht, aber nur sehr oberflächlich. Über mich schien er ganz im reinen zu sein. Mein Kosak Schagdur gebärdete sich, als er gefragt wurde, wie ein Feldmarschall; er sei russischer Untertan, aber auch Burjate und berechtigt, nach Lhasa zu reisen. Die russischen Behörden würden es als eine Beleidigung betrachten, wenn man uns, friedliche Pilger, hindere, die Wallfahrt zu machen; niemand, wer es auch sei, dürfe uns antasten. Doch Kamba Bombo erwidert lachend: »Du glaubst mir Furcht einjagen zu können; ich tue meine Pflicht, die mir Dalai-Lama auferlegt hat. Nach Lhasa dürft ihr nicht reisen, nicht einen Tag mehr in dieser Richtung, nein! Einen Schritt weiter – und es kostet euch den Kopf.« Und dabei fuhr er mit der flachen Hand, die er wie eine Klinge hielt, um den Hals herum: »Es ist ganz einerlei, wer ihr seid und woher ihr kommt, aber ihr seid im höchsten Grade verdächtig; ihr seid auf einem Schleichweg hiehergekommen und ihr müßt nach eurem Hauptlager zurückkehren.«

Wir sahen ein, daß hiergegen nichts zu machen sei. Kamba Bombo erklärte, daß wir aufbrechen könnten, wann wir wollten, daß er jedoch nicht eher umkehre, als bis wir fort seien. Um keine Zeit zu verlieren, beschlossen wir, den Rückweg schon am folgenden Morgen anzutreten. Eine Eskorte sollte uns bis zum Hauptquartier bringen. Alles, was wir während des Transports brauchten, solle uns kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Im großen ganzen war er sehr freundlich und artig. Wer ich war, ist ihm wohl nie völlig klar geworden; doch muß er mich für etwas Außerordentliches gehalten haben, sonst wäre er wohl nicht mit solchem Pomp angekommen. Ohne Zweifel hatten die Behörden in Lhasa Kenntnis von dem, was sich kurz vorher in China abgespielt hatte. Sie wußten, wie schwer der Mord des deutschen Gesandten von Ketteler in Peking bestraft worden war. Sie mochten sich daher sagen, daß es klüger sei, sich nicht an einem Europäer zu vergreifen.