Vorwort.

Im Jahre 1808 erschien ein anspruchsloses Bändchen: Naturgeschichtliche Volksmärchen, das heißt: Sagen und Märchen, die die Natur in ihren einzelnen dem Volke vertrauten Erscheinungen zu deuten versuchen. Es hatte die zweifache Aufgabe, als Buch für Schule und Haus und als bequeme Zusammenstellung für Freunde der Volkskunde zu dienen. Im Jahre 1904 wurde eine neue Auflage nötig, und es trat die Frage an mich heran, ob es nicht zweckmäßig sei, die Zwiegestalt zu beseitigen, vorerst ein schlichtes Jugend- und Volksbuch herauszugeben und die volkskundlichen Absichten auf neuer Grundlage in einem umfassenden wissenschaftlichen Werke zum Ziele zu führen. Die Entscheidung konnte keinen Augenblick zweifelhaft sein. Seitdem ein wohlwollender Kritiker, Alexander Tille im Literarischen Centralblatt vom 19. März 1898 mir den Gedanken nahegelegt hatte, „den Gegenstand entwicklungsgeschichtlich zu behandeln“, fühlte ich die Jahre hindurch die wissenschaftliche Pflicht, das einmal angefangene Sammelwerk in gründlichen Studien fortzusetzen. Freilich verhehlte ich mir nicht, daß eine solche Arbeit sich zu einem Riesenunternehmen auswachsen würde. Zu sicheren Schlußfolgerungen und klaren Ergebnissen war die zwingende Kraft des Massenbeweises nötig, und ein solcher ließ sich nur aus einer schier endlosen Literatur gewinnen. Es mußten die Sagen aller Völker der Erde durchmustert werden. Aber war es überhaupt möglich, zu Ergebnissen zu kommen? Und wenn nicht, — war die bloße Sichtung der gesammelten Sagen die aufgewandte Mühe wert?

So war es denn ein Wagnis, als ich an die Lösung der Aufgabe ging. Daß es nicht gescheitert ist, danke ich der Mitwirkung hilfsbereiter Fachkenner und Freunde. Ich nenne in erster Linie Georg Polivka (Prag), der mir gleich anfangs wertvolles Material beschaffte und andere Mitarbeiter gewinnen half Zahlreiche kleinrussische Beiträge sandte Wladimir Hnatjuk (Lemberg), polnische Stanislaus Zdziarski (Lemberg), finnische Kaarle Krohn (Helsingfors). In deutscher Übersetzung brachte Oskar Hack man (Helsingfors) einige dänische und schwedische Stoffe herbei, Martin Hiecke (Leipzig) zahlreiche rumänische, Karl Dieterich (Leipzig) neugriechische und sehr viele andere. Für treffliche Winke und Mitteilungen bin ich Johannes Bolte verpflichtet. Frau Dr. Rona-Sklarek, die verdienstvolle Herausgeberin der Ungarischen Volksmärchen, wußte nicht nur durch Sammeln und Übersetzen ungarischer Sacren zu helfen, sondern hat auch über ihr eigentliches Arbeitsfeld hinaus das Unternehmen vielfach gefördert. Mit besonderer Dankbarkeit nenne ich M. Boehm (ehedem in Livland, jetzt in Gebweiler i. E.), der als ein vorzüglicher Kenner des großen lettischen Sammelwerkes von Lerchis-Puschkaitis über reiche Sagenschätze verfügt und mir bereitwilligst alles Erforderliche mitteilte. In rührend gütiger Weise sorgte der ehrwürdige Nestor der nordischen Volkskunde, Pastor Dr. Feilberg, noch während der Drucklegung für die Stoffe aus Skandinavien, wobei auch Hinweise auf verwandte Fassungen anderer Völker nicht fehlten. Kurz vor dem Erscheinen dieses Bandes sagten noch zwei Helfer ihren Beistand zu, ein junger Livländer, August von Löwis of Menar, der russische Stoffe in freundlichster Weise zur Verfügung stellte, und Fräulein Bertha Ilg in Malta, deren Güte mir gestattet, bisher noch ungedruckte Sagen zu veröffentlichen. Zuletzt aber und dennoch vor allen habe ich meinem vortrefflichen Übersetzer zu danken, einem allezeit treuwilligen, uneigennützigen und wahrhaft edlen Manne, der trotz eigener schwerer Arbeit seine staunenswerten Sprachkenntnisse freudig in den Dienst der Wissenschaft stellt, dem Dolmetscher am Leipziger Amtsgericht Victor Armhaus. Ohne ihn wäre es mir nicht möglich, mein Unternehmen zu Ende zu führen.


Auch darf ich noch der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften in Leipzig für die tatkräftige Unterstützung danken, die mich in den Stand setzte, mehrere Wochen im Britischen Museum zu arbeiten. Die schwierige Sammelarbeit wurde mir dadurch wesentlich erleichtert.

Außer dieser vielfachen Hilfe, deren ich mich zu erfreuen hatte, ist mir noch mancher wertvolle Dienst geleistet worden. So hat Frau Professor Emmy Schreck (in Leipzig) die Güte gehabt, die von Kaarle Krohn gesandten finnischen Sagen zu verdeutschen. Russisches Material wurde vom Studiosus Garbe aus Riga und dem Konservatoristen Braatz übersetzt, italienisches von meinem lieben Freund Dr. Fritz Jäckel, Oberlehrer am Leipziger Carolagymnasium, bulgarisches von Dr. A. Pariapanoff in Leipzig. Naturgeschichtliche Auskunft gewährte mein verehrter Kollege an der Thomasschule, Professor Walther Schmidt. Brieflichen Rat erteilte mit eingehendem Literesse Professor August Wünsche in Dresden. Die Herren Prof. Sumcov (in Charkow) und Grincenko (in Kiew) sandten russische Druckschriften.

Ich selbst habe die deutsche, holländische, englische (amerikanische), französische und italienische Literatur nach Möglichkeit durchgesehen und übersetzt, wobei mir die treue Helferin, der dieses Werk gewidmet ist, mit echt weiblicher Ausdauer zur Seite gestanden hat. Ihr danke ich auch die Übersetzungen aus dem finnischen Buche von Kaarle Krohn: Suomalaisia Kansansatuja I. Bücher, die ich nicht selbst eingesehen habe, findet man im Quellenverzeichnis durch ein Sternchen bezeichnet.

Ich veröffentliche zunächst Sagen zum Alten Testament und suche zu zeigen, daß sie unter der nachdrücklichsten Einwirkung iranischer, indischer, gnostischer, moslemischer und jüdischer Tradition, wie auch unter dem Einfluß apokrypher Schriften, z. B. des Adambuches des Morgenlandes, sich entwickelt haben. Freilich haben sie eine Gestalt erlangt, die oft weit abführt vom Geist und Wort der Bibel; immerhin stehen sie mit deren Geschichte und Wesen in solchem Zusammenhang, daß sie kaum anders genannt werden können, als Sagen zum Alten Testament.

Band II, die Sagen zum Neuen Testament, wird namentlich den Einfluß der apokryphen Kindheitsevangelien auf die Volkssagen zeigen. Er soll noch in diesem Jahre erscheinen.

Band III und IV (Tier- und Pflanzensagen) werden im nächsten Jahre folgen, hierauf die Sagen von Himmel und Erde, sowie vom Menschen. Endlich soll eine kritische Untersuchung über Wesen, Werden und Wandern der Natursagen das Werk abschließen.

Wiewohl nun in diesen Bänden eine bisher fast unbekannte Stoffmasse der weiteren Forschung zugänglich gemacht wird, so bedeutet meine Sammlung doch nur einen Anfang. Möchte ihr die fördernde Teilnahme der Wissenschaft auch außerhalb des engen Kreises der Volksforscher zuteil werden. Denn diese allein werden die Probleme, die in den Worten Völkerverkehr, Kulturwandel, Geistesentwicklung liegen, schwerlich lösen können.

Leipzig, Ostern 1907.

Dr. Oskar Dähnhardt,

Gymnasialoberlehrer zu St. Thomae.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Natur Sagen - Band 1 - Sagen zum Alten Testament