2. Eine Sage vom südsibirischen Altai. (Aus Radloff I, S. 175 fg.)

Ehe die Erde geschaffen war, war alles Wasser, die Erde war nicht da, der Himmel war nicht da, Sonne und Mond war nicht da. Gott flog umher, auch noch ein Mensch flog umher, beide schwarze Gänse seiend, flogen umher, Gott dachte durchaus an nichts, jener Mensch, den Wind erregend, regte das Wasser auf und spritzte Wasser in das Antlitz Gottes. Jener Mensch gedachte höher als Gott sich zu erheben, er stürzte aber nach unten und fiel ins Wasser. Herabgestürzt sprach er fast erstickend: „Ach mein Gott, errette mich.“ Gott sprach: „O Mensch, erhebe dich aus dem Wasser hervor.“ Jetzt erhob sich jener Mensch aus dem Wasser in die Höhe. Gott sprach: „Es möge ein fester Stein entstehen.“ Von dem Grunde des Meeres kam ein harter Stein hervor; auf die Oberfläche desselben setzte sich der Mensch, der mit Gott zusammen lebte.

Gott sprach: „Du steige herunter zum Grunde des Meeres und bringe Erde herauf!“ Nachdem er hinabgestiegen, faßte er Erde mit der Hand, und nachdem er Erde genommen, gab er sie Gott. Gott warf diese Erde über die Oberfläche des Meeres hin und sprach: Es werde Land. Darauf entstand das Land. Darauf sprach Gott abermals: „Steige hinab und bringe noch Erde herauf.“ Der Mensch dachte bei sich: „Wenn ich dort hinabsteige, werde ich auch für mich Erde mitbringen.“ Er stieg zum Grunde des Wassers hinab, nahm nach seinen Gedanken zwei Hände voll Erde mit. Die eine Handvoll brachte er Gott, mit der andern Hand steckte er die Erde in den Mund und stieg empor, um selbst vor Gott verborgen Land zu machen. Die eine Handvoll Erde gab er Gott, Gott nahm sie, streute sie aus, und die Erde wurde dick. Jener Mensch steckte die Erde in seinen Mund, sie schwoll an, der Mensch wollte ersticken, sie schnürte ihm die Kehle zu, und er wäre fast gestorben. Jetzt lief er zur Seite und entfloh vor Gott. Er meinte, er sei weit fortgegangen, aber als er sich umblickte, stand Gott ihm zur Seite. Als jener Mensch dem Ersticken nahe war, sprach er zu Gott: „Ach Gott, wahrhaftiger Gott, errette mich.“ Gott sprach: „Was hattest du vor? Dachtest du etwa, du könntest die Erde nehmen und in deinem Munde verbergen; weshalb verbargst du die Erde?“ Jener Mensch sprach: „Ich habe die Erde in den Mund genommen, um Land zu machen.“ Gott sprach: „Spei sie aus!“ Als der Mensch dieselbe ausgespieen, entstanden die kleinen Sumpfhügelchen. Darauf sprach Gott: „Jetzt bist du in der Sünde. Du dachtest mir Böses zu tun; des dir unterworfenen Volkes innerer Sinn wird ebenso böse sein! Der Sinn des mir unterworfenen Volkes wird heilig sein. Sie werden die Sonne sehen, sie werden das Licht sehen, der wahre Kurbystan werd eich genannt werden. Dein Name soll Erlik sein. Der Mensch, welcher seine Sünde vor mir verborgen, soll der deinige, der Mensch des Erlik sein. Der Mensch, der sich vor deiner Sünde verborgen, soll der meinige sein.“


Es wuchs ein einziger Baum ohne Äste empor, diesen erblickte Gott. ,,Ein einziger Baum ohne Zweige ist nicht angenehm zu sehen, es mögen an ihm neun Äste entstehen“, sprach er. Neun Zweige wuchsen empor. „Am Fuße der neun Äste mögen neun Menschen sein, aus jenen neun Menschen mögen neun Völker entstehen.“

Als jetzt Erlik kam, ertönte ein Geräusch von vielen (ihm unbekannten) Dingen. Erlik sprach jetzt zu Gott: „Woher rühret dieses Geräusch?“ Gott sprach: „Du bist ein Fürst, ich bin auch ein Fürst, dies ist mein Volk.“ Darauf sprach Erlik: „Ach gib mir doch dieses dein Volk.“ Gott sprach: „Nein, ich werde es dir nicht geben, du warte nur.“ Jetzt sprach Erlik zu sich selbst: „Halt, halt, ich will mir doch das Volk Gottes ansehen.“ Erlik ging, ging und kam dort an. Als er nachsah, erblickte er alles, Menschen, Wild, Vögel und allerlei Lebendiges. Erlik sprach: „Wie hat nur Gott dies alles gemacht? Ich sagte doch, ich will alles nehmen; wie soll denn dies zur Tat werden, wovon nährt sich dieses Volk?“

Als Erlik sah, daß sie von der einen Seite des einzigen Baumes aßen, von der andern aber nicht, sprach er: „Weshalb esset ihr nur von diesem?“

Es folgt nun der Sündenfall des Töröngöi und der Edji; Gott stürzt den Versucher in das Land der Finsternis hinab und schickt den Menschen Mai-Tere, ihnen die Anfänge der Kultur zu bringen.

Der Teufel, der sich gern „nach oben hin, zur Seite Gottes“ erheben möchte, ruft die Vermittlung dieses Mai-Tere an. Gott sprach: „Ja, wenn du mich nicht anfeindest, wenn du dem Menschen nichts Böses zufügest, so komm.“ Jetzt stieg Erlik zum Himmel empor. (Er erhält nun die Erlaubnis einen Himmel zu schaffen, „und des Erlik Teufel wuchsen in diesem seinem Himmel, in großer Menge wuchsen sie“. Ein Mensch Gottes, Mandy-Schire, beschließt deshalb Erlik zu bekriegen.) Erlik schlug den Mandy-Schire mit Feuer und vertrieb ihn. Mandy-Schire entfloh heimwärts. Gott fragte ihn: „Woher kommst du denn?“ Mandy-Schire sprach zu Gott: „Des Erlik Volk lebt oben im Himmel; unser Volk lebt auf der Erde, dies ist sehr schlecht. Ich selbst gedachte des Erlik Volk zur Erde hinabzustürzen, hatte aber keine Kraft und konnte sie nicht hinabstoßen.“ Gott sprach: „. . . Erlik ist jetzt stärker als du;... wenn seine Zeit kommt, so werde ich dir sagen: Heute geh. Wenn du an diesem Tage gehst, so wirst du stärker sein.“ (Als der Tag gekommen ist, erhält Mandy-Schire einen Speer von Gott, besiegt Erlik und vertreibt ihn.) Den Himmel des Erlik zerschmetterte er mit dem Speere; alles, was sich dort; befand, warf er nieder. Vor dieser Zeit war kein Stein, kein Felsen, kein Bergwald. Als jetzt die Trümmer des Himmels des Erlik zur Erde gefallen, entstanden alle Felsen, alle Steine, der Bergwald, die hohen Berge und alle Bergrücken; das von Gott geschaffene, gute, ganz ebene Land wurde alles schlecht. (Darauf stürzt Mandy-Schire die Untertanen des Erlik zur Erde nieder, sie fielen ins Wasser, auf Vieh, Bäume, Menschen, Steine, und alle starben.) Nachdem dann erzählt ist, daß Gott den Teufel (Erlik) in die Hölle verstößt, um ihn dereinst zurichten, spricht Erlik: „Ich gedenke alle toten Menschen mit mir zu nehmen.“ Gott erwidert: „Die gebe ich dir durchaus nicht,“ worauf der Satan klagt, er habe ja dann gar keine Untertanen, und sich selber welche schafft, die Gott aber in Tiere verwandelt. Dann sagt Gott zu den Menschen: ..Ich werde jetzt fortgehen. Wenn ich auch lange ausbleibe, so werde ich doch kommen ... An meiner Stelle werden euch jetzt Japkara, Mandy-Schire, Schal-Jime helfen . . . Wenn Erlik den toten Menschen nehmen will, so möge Mandy-Schire den Erlik besiegen.“ Die Sage endet indes, ohne von dem Kampfe zu berichten, Mandy-Schire wird von der Erde entrückt.




Diese beiden Sagentypen vertreten zwei umfangreiche Sagengruppen, die von ihren Uranfängen her verwandt sind, aber auf verschiedenen Wegen sich entwickelt haben. In dem ersten Typus werden wir die Anschauungen der Sekte der Bogumilen erkennen, die ihrerseits wieder auf die Lehren armenischer Gnostiker und über diese hinaus auf den iranischen Dualismus zurückgehen. Sie haben lange Zeit hindurch in das Geistesleben Europas nachhaltig eingegriffen. Der zweite Typus beruht, wie sich zeigen wird, auf direktem asiatischen Einflüsse, der auch auf die slawische Welt von Osten her eingewirkt hat.

Ehe wir auf die vielverzweigte Geschichte der beiden Sagengruppen eingehen, deren schier unheimliche Variantenfülle die Klarheit der Umschau zu verwirren droht, wird es von Wert sein, die hauptsächlichsten Sagenzüge, auf die es im folgenden ankommt, festzustellen.

Die bulgarische Sage hat folgende besonderen Züge:

1. Satanael bringt Erde unter den Fingernägeln.
2. Er plant, Gott zu ertränken.
3. Gott fragt Satanael um Rat.

Die altaische Sage hat folgende besonderen Züge:

1. Gott und der Teufel fliegen als Vögel über dem Wasser.
2. Erlik wird von Gott aus dem Abgrund gerettet.
3. Vom Meeresgrunde erhebt sich ein Stein, auf den Erlik sich setzt.
4. Die Erde schwillt in Erliks Munde, und es entstehen Sumpfhügel.
5. Es wird der Weltbaum erwähnt. Die fünf östlichen Zweige (die des Ormuzd) sind den Menschen gestattet, die anderen verboten.

Beide Sagen haben folgende Züge gemeinsam:

1. Zwei Schöpfer erschaffen zusammen die Welt.
2. Der Teufel handelt nach Gottes Weisung, die er indessen aus Eifersucht zu umgehen sucht.
3. Die Erde hat durch Wachsen ihre Ausdehnung erlangt,
4. Der Teufel begehrt die Toten (stärker betont im Bulgarischen, wo ein Vertrag durch Christus gelöst wird, schwächer im Altaischen, wo kein Vertrag geschlossen und die letzte Besiegung Erliks nicht ausdrücklich erzählt wird).

Diese Hauptzüge werden wir scharf im Auge behalten müssen, wenn anders wir unsere Untersuchung zu Ergebnissen führen wollen.

Wir beginnen nunmehr mit der uranfänglichen Grundlage, auf der sowohl die eine, als auch die andere Gruppe beruht. Es gilt weit auszuholen. Aber da die Ideenwelt, die wir da finden, nicht bloß für die Schöpfungssage, sondern auch für andere Überlieferungen (vgl. namentlich Kap. 2 — 4) von Wichtigkeit ist, so lohnt es der Mühe.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Natur Sagen - Band 1 - Sagen zum Alten Testament