10. Der Lübecker Anonymus (um 1416).

Zum Schluss der Übersicht über die ältesten Zeugen der Namen Jumin, Jomsburg, Wineta, Julin und Wolin müssen wir noch mit einigen Worten das Verzeichnis der Ratsmänner der Stadt Lübeck erwähnen, das sich als Zusatz zu dem Lübecker Recht in einer oldenburger Handschrift vorfindet. In diesem Verzeichnis werden unter denen von 1158 — 1234 der Reihe nach aufgezählten Ratsmännern manchmal in einem und demselben Jahre die einen aus Wineta, die andern aus Julin oder Wolin, also wie aus zwei verschiedenen Städten abstammend angeführt; so z.B. 1158 ein Jarvin van Scodthorpe von Julin und Cord Strahe aus Wineta u. s. w. Allein es ist schon von anderen Seiten genügend bewiesen worden, dass dieses Verzeichnis erst viel später, etwa im Anfange des 15. Jahrh. aus verschiedenen trüben Quellen zusammengestellt wurde, mit der einzigen Absicht, den damals blühenden Lübecker Geschlechtern durch Erfindung einer uralten und berühmten Abkunft derselben zu schmeicheln. Uns genügt es hier, dass dem Verf. jenes Verzeichnisses der Name Wineta bekannt war, er mag ihn genommen haben woher immer.
Es ist nicht unsre Absicht, uns hier in eine detaillierte Untersuchung der von neueren Historikern über Wineta aufgestellten Hypothesen einzulassen; wir wollen nur oberflächlich berühren, dass schon Albrecht Kranz († 1517) aus Missverständnis der „Worte Helmolds anfing, allerhand Mährchen über die Zerstörung Winetas zu ersinnen; dass nach ihm Johann Buchenhagen (1518), nachdem er von einer Sage der Fischer auf der Insel Usedom von einer Stadt bei dem Dorfe Damerow etwas Lauten gehört, welche Stadt wegen ihrer Sünden vom Meere verschlungen sein solle, sogleich in einigen Steinhaufen auf dem Meeresgrunde nahe bei Dammerow die Überreste des alten Wineta zu sehen meinte; dass nach ihm Nikolaus Marschalcus Thurius in Rostok (gest. 1525) und Thomas Kanzow († 1542) dieses Märchen noch weiter ausspannen und ausschmückten, der letztere vorzüglich durch Abbildung der erwähnten Steinmassen unter der Meeresfläche, den vermeintlichen Trümmern von Wineta; und dass endlich der Präsident Kessenbrink (um 1770) diese Fabel auf den Gipfel des Unsinns hinauftrieb, indem er das alte Wineta als die vorzüglichste Veste des ganzen Nordens darstellte, mit einer künstlich erbauten Citadelle, mit einem Waffendepot für grobes Geschütz, mit Kasernen für gemeine Soldaten, mit einem Admiralitätskollegium u.s.w. Diese späteren Geschichtsschreiber konnten über die Ereignisse des 10. und 11. Jahrh. nicht mehr wissen, als die gleichzeitigen Augenzeugen und andere nähere Gewährsmänner. Was aber jene vermeintlichen Mauerüberreste unter dem Meere bei Damerow betrifft, so ist von späteren sorgfältigem Untersuchern gründlich nachgewiesen worden, dass sie nichts anderes sind als natürliche Reihen und Haufen von Steinen; auch kann die Geschichte mit gutem Gewissen und Erfolg auf solche unsichere Volkssagen über untergegangene Städte, wie sie auch anderwärts ohne die geringste Begründung herrschen, etwas Sicheres und Bestimmtes nicht gründen, um so weniger, da solche Sagen hier nach so vielfachen Stürmen gegen die Städte Wolin und Usedom und in Folge der späteren Nachfragen nach dem Wineta Helmolds leichter als irgend wo entstehen konnten.