Meine Nachbarn

Ein Wahnsinniger. — Ein Abenteurer. — Das Casino. — Gedrückte Stimmung. — Byrons letzte Stunden. — Napoleon und Byron. — Das Mädchen von Athen.

Ich wohnte in dem besten Hotel Athens l'Orient zwei Treppen hoch. Die schöne Aussicht aus meinem Fenster habe ich geschildert. Nicht so gut wurde mir es in der Stube selbst; zu meiner Linken, wenn ich im Bette lag, sang eine Männerstimme fort und fort ein und dasselbe griechische Lied; zur Rechten deklamierte eine andere Stimme eine griechische Rede. Sänger und Deklamator konnten, ohne sich gegenseitig zu stören, Hebungen fortsetzen, nur für den, der in der Mitte lag, vermischten sich Gesang und Deklamation in ein unangenehmes Lärmen. Es wollte nicht aufhören, da wendete ich mich zur Rechten und rief dem Deklamator zu: „Mein Herr! ich bin von den in Ihrer Rede vorgebrachten Gründen bereits durchdrungen. Ich danke Ihnen recht sehr!“ Dann wendete ich mich zur Linken und rief dem Sänger zu: „Mein Herr! Ich habe mir bereits die Melodie gemerkt. Ich danke Ihnen für die Wiederholung.“ Ich rief ihnen diese Bitten italienisch zu und, indem sie plötzlich verstummten, konnte ich bemerken, dass ich verstanden worden war.


Mit beiden Nachbarn trug sich am folgenden Tage Folgendes zu.

Als ich von einem Spaziergange zurückgekehrt war, fand ich das Hotel von Gensd'armen besetzt. In der Stube meines nachbarlichen Sängers waren zwei Schüsse gefallen und als man in dieselbe eilen wollte und sie verschlossen fand, wurde die Türe eingebrochen. Ein junger Mann von einer griechischen Insel, der seit mehreren Tagen hier wohnte und durch sein stilles, fast scheues Wesen auffiel, war eben mit dem Laden einer Pistole beschäftigt. „Ich habe mich“ sagte er den gewaltsam Eindringenden ganz ruhig, „zweimal verfehlt und muss nun zum dritten Male schießen, stören Sie mich nicht, meine Herren!“ Man erkannte bald, dass man es mit einem Geistesirren zu tun habe und brachte ihn in Sicherheit.

Als sich der Lärm im Hause beruhigt hatte, und ich in meine Stube ging, trat ein eleganter, intelligent aussehender, junger Mann bei mir ein, der sich als der Nachbar zur Rechten aufführte, Herr D. von der Insel Ithaka, dem einstigen Besitze des schlauen und länderkundigen Odysseus. Er überreichte mir eine in italienischer Sprache geschriebene, in Malta gedruckte Broschüre, die er mir, seinem Kollegen als Schriftsteller, wie er höre, mitteile. Er selbst stehe in Unterhandlung mit England, um dahin eine Bestimmung zu finden; Griechenland sei zu klein für seine Pläne, sein Herz umfasse die Welt, und da er sich eben in einiger Verlegenheit befände, möchte ich ihm etwas — Geld leihen.

Als ich ihm eine kleine Summe übergab, dankte er mir sehr verbindlich sich verneigend:

„Gottlob! jetzt kann ich doch durchgeh'n! Denn leider ist es nicht so viel, um den sechswöchentlichen Aufenthalt zu 8 Francs täglich, zu bezahlen. Sie haben meinen Geist befreit, mein Herr! Ich gehöre wieder den Ideen an. Als ich etwas verblüfft fragte: „Werden Sie wenigstens dem Gastwirte nicht sagen, dass Sie ihm später —“ Herr D. lächelte: „Sie sind ein Poet und kennen die praktische Welt nicht. Sage ich es dem Wirte, so begeht er gewiss im Zorne die Dummheit und lässt mich einsperren und ich kann ihn doch nicht bezahlen. Bin ich aber frei, so kann ich wirken, arbeiten, verdienen und er kommt um keinen Kreuzer. So wahr ich ein Galantuomo bin!“ Er verneigte sich — und ging.

Herr D. war am folgenden Tage verschwunden. Auf die Broschüre schrieb er mir:

„All Eccellente Dottore Frankl per la memoria di D. —

Wenn wir uns im schönen Saale des Hotels, der mit Szenen aus dem griechischen Freiheitskriege geschmückt ist, um den lodernden Kamin zum Kaffee versammelten, hatte ich einen interessanteren, ernsten Nachbar, den königlich griechischen Obersten Epaminondas Vasili. In Wien geboren, der deutschen Sprache vollkommen mächtig, hatte er viele freundliche Aufmerksamkeit für mich und führte mich im Casino ein.

Wir traten in eine Vorhalle, in der eine breite lichte Treppe emporführt. In einer Nische ist die Büste des Gründers aufgestellt, des in der neuesten Geschichte des Landes bekannten Kalergis. Die gebildetere Gesellschaft Athens hatte außer unbedeutenden Kaffeehäusern keinen Vereinigungspunkt, bis mehrere Säle dieses Hauses zu Konversations- und Spielzimmern eingerichtet wurden. Die Zimmer des zweiten Stockwerkes werden zu Lesezimmern benützt. Die Säle, anständig bequem eingerichtet, zeigen an den Wänden Szenen und Gestalten aus dem Befreiungskampfe. Jede Woche ein oder zweimal spielt Militärmusik. Hier begegnen sich Offiziere und Professoren, Staatsbeamte und Kaufleute, Einheimische und Fremde zu freundlich heiterer Geselligkeit. Ich hatte diesen Kreisen manche liebenswürdige Zuvorkommenheit und Belehrung über die mannigfaltigsten Zustände und Verhältnisse des Landes zu danken und ruhte des Abends meist hier, von den oft anstrengenden Wanderungen des Tages aus.

Die Stimmung der Gesellschaft von Athen war im Allgemeinen, namentlich aber die der Offiziere, eine gedrückte. Im Piräus lagen die fremden Kriegschiffe und dem Kommandanten rühmte man nicht den ritterlich galanten Geist seines Volkes nach. Das Nationalgefühl fühlte sich durch den Anblick der fremden Truppen fort und fort verletzt und manche Hoffnung, die noch kurz zuvor von einer wünschenswerten Vergrößerung des Königreiches träumte, schien für den Moment wenigstens unerfüllt bleiben zu sollen. Mit teilnahmsvoller Anhänglichkeit blickt das Volk auf seinen König.

„Er ist ganz Grieche geworden“ sagte mir ein Nationaler als höchstes Lob von ihm. Die Königin lebhaft, energisch, tugendhaft, gefällt dem kühnen, tapferen Griechen; aber die Zukunft des Landes — wer wird dereinst die goldenen Zäume der Herrschaft fassen? Es ist dieselbe Unruhe in dem Gemüte des Volkes, welche sich im einzelnen Menschen erzeugt, wenn sich zum Gedanken der sorgensvollen Gegenwart auch der an eine ungewisse Zukunft gesellt.
Eines Abends war im Casino wieder Herr Dr. Treiber, der oberste Stabsfeldarzt der griechischen Armee, mein Nachbar. Wenn schon die bedeutende, allgemein geachtete Persönlichkeit dieses Mannes mich anzog, so war sie mir noch von ganz besonderem Interesse. Dr. Treiber war der Arzt eines der edelsten Kämpfer für die Freiheit Griechenlands; er drückte Lord Byron die Augen zu.

Byron hatte kein Vertrauen zu seinem jungen, italienischen Arzte, der dem Kranken eine Ader schlagen wollte, was übrigens nach viertägiger Krankheit durch einen englischen Arzt dennoch, aber zu spät geschah.

Am sechsten Tage wurde Dr. Treiber zu einer Beratung eingeladen. Byron war noch bei vollkommenem Bewusstsein.

„Beobachten Sie mich“ sagte er, „so viel Sie wollen, nur fragen Sie mich nicht viel!“ Als am siebenten Tage der letzte Augenblick für den Dichter herankam, waren nur Dr. Treiber und Dr. Mayer, ein Arzt aus Basel, bei ihm. Der Wunsch des Dichters, den er in seinem letzten Gedichte niederschrieb: „Zeit wär's, dass dies mein Herz sei unbewegt“ erfüllte sich. Dr. Treiber sagte: „Drücken wir ihm jeder ein Auge zu.“ Und sie taten es mit tief schmerzlichem Gefühle, denn sie wussten, dass eine Leuchte der Welt erloschen war.

Die Sekktion der Leiche zeigte alle Organe vollkommen gesund; Byron hätte ein langes Leben leben können. Die Stirn war wunderbar entwickelt und es verdient bemerkt zu werden, dass Byrons und den er zumeist auf Erden hasste, Napoleons Gehirn das schwerste Gewicht unter allen Gehirnen hatten, die bis jetzt gewogen worden sind.

Der Zufall fügte es, dass ich wenige Tage nach diesem Gespräche in dem alten Stadtteile mit einem Professor der Universität ging. Wir begegneten einem Weibe, das mit Füttern geputzt, jenen widerwärtigen Eindruck machte, wenn längst versunkene Schönheit noch die Blicke auf sich lenken will. Das Weib sah uns mit großen, schwarzen, wilden Augen an, die Haare flatterten grau und ungeordnet, um ihren Mund zuckte es wie einst süß gewesenes Lächeln. Mein Begleiter sagte mir: „Diese ist das von Byron besungene „Mädchen von Athen.“ Er kaufte, als er das erste Mal in Griechenland war, die schöne Blüte.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nach Jerusalem! Band 1