Der Nymphenhügel

Sternwarte. — Blumen und Haare. — Obolus. — Markt. — Ein Atlante. — Gusle und Homer. — Haiduken und Klephten. — Serbisches und griechisches Volkslied. — Die Schweiz und Tyrol. — Romaika und Kolo. — Fallmeraier. — Ein Kind.

An einem sonnigen Nachmittag wanderte ich in Begleitung des Professor Makkas zu den altehrwürdigen Stätten des Museion, zur Pnyx, zum Kerker des Sokrates, zum Areopag: Um des Sonnenuntergangs zu genießen, bestiegen wir zuletzt den Nymphenhügel.


Er scheint in seiner ziemlichen Ausdehnung und Höhe nur ein Felsen zu sein. Baum- und pflanzenlos, ist er von einem architektonisch schönen Gebäude gekrönt, von einer Sternwarte, die der Freiherr von Sina samt dem astronomischen Apparate für 300.000 Drachmen vor einigen Jahren herstellen ließ. Es ist auch dies ein großartiges Beispiel des lebhaften Anteils, den die außerhalb des Königreichs lebenden Griechen für die Kultur und Entwicklung desselben immer empfinden. Das vergoldete, freiherrliche Wappen ist über der Pforte angebracht, und erinnert an die schöne, geistige Tat des Vaters, zu welcher der Sohn eben jetzt großmütig den Bau einer Akademie der bildenden Künste fügt.

Der Nymphenhügel, dessen Bestimmung im Altertume nicht bekannt ist, führt nur darum diesen Namen, weil auf seiner Höhe neben der Sternwarte einem Felsstücke die Worte eingeschrieben sind. Auf einem andern Felsstücke, beiläufig in der Mitte des Hügels sind die Wort nur schwer leserlich, noch zu erkennen.

Am Fuß des Hügels ist etwa eine zwei Klafter hohe und vier Fuß breite Stelle am Felsen zu bemerken, die glatt und glänzend, wie grau roter Porphir poliert ist, und oben einen eben so polierten Sitz zeigt. Im Altertume ließen gesegnete Frauen sitzend von diesem Felsen sich niedergleiten. Noch jetzt ist unter den Frauen im Volke der Aberglaube nicht verschwunden, dass sie schmerzloser Mütter werden, wenn sie Nachts heimlich an diese Stelle hingehen und den Felsen immer mehr und mehr glätten.

Nichts wurzelt tiefer, als der Aberglaube; nach Jahrtausenden, wenn die Erinnerungen an die erhabensten Taten in einem Volke erloschen sind, haften seine feinsten Fasern noch in dessen Gemüt und Fantasie.

Noch bringen junge Mädchen, wenn sie unerwiederte Sehnsucht im Herzen fühlen, im Frühling Blumensträuße am Nymphenhügel als Opfer dar. Das Schlachten eines schwarzen Hahns im Kerker des Sokrates soll, einer unverbürgten Kunde nach, noch vorkommen, um das Haus vor Unheil zu schützen. Da und dort in Griechenland legen sie dem Toten noch eine kleine Münze unter die Zunge für den antiken Fährmann. Der geistreiche Hettner hat in seinen Reiseskizzen die eigentümliche Karfreitagsfeier, bei der ein aus Wachs geformtes Christusbild bei Kerzenlicht und Trauergesängen Nachts durch die Straße getragen wird, mit den eleusinischen Festzügen, sogar dem Inhalte nach verwandt gefunden.

Wir gelangten durch den ärmeren Stadteil zurück, wo — trotz des Sonntags der streng orthodoxen griechischen Christen, der lebhafteste Markt und Verkehr war. Mich, den Pilger aus Norden, zogen zumeist die aufgeschichteten Berge von Orangen und Zitronen an, und da und dort die mich fremd anglotzenden Augen von kleinen Seeungeheuern. Männer und Frauen in den bunten und malerischen Trachten des Landes, jene energisch und entschlossen aussehend, diese völlig unbedeutend, meist unschön, bewegten sich kaufend und verkaufend durch die engen Gassen.

In diesem ältesten Teile der Stadt sind häufig antike Säulenstücke, Kapitäle eingemauert zu sehen. In dem Hofe eines der Häuser befindet sich der Torso eines riesigen Atlanten, in einen Fischschweif endend. Der Torso ist zur Hälfte in die Erde eingesenkt. Ein seiner Größe entsprechendes Postament liegt unter Mist im Hofe. Es sei dieses Torsos darum besonders erwähnt, weil ich in mehreren Werken über Athen vergebens um eine nähere Nachricht über denselben suchte. Mich machte der geistvolle, k. preußische Legationssekretär von Felsen, mit dem ich eine archäologische Wanderung unternahm, auf diesen antiken Atlanten aufmerksam.

Als wir eine Kaserne durchschritten, bot sich uns ein eigentümliches Schauspiel dar. Griechische Reiter, leider in keiner nationalen Uniform, tanzten im weiten Hofraume die Romaika. Ein blinder Bettler spielte eine kleine, Monochorde Kniegeige, die Gusle der Serben, und sang ein näselnd monotones Lied dazu. Man hätte keine besser Parodie des alten blinden Homeros erfinden können.

Für mich hatte die Erscheinung eine andere mehr moderne Beziehung:“

Wie die Haiduken in den Bergen Montenegros, Serbiens und der Herzegowina die Heldenlieder erfinden, die dann zumeist von blinden Bettlern auf den Jahrmärkten gesungen werden; so sind die Klephten in den Gebirgen der griechischen Inseln die freien Dichter des Volksgesanges. Wie wir eben sahen, ist auch ein blinder Bettler hier der Sänger dieser Lieder. Auffallend aber ist auch die Gleichheit des Instrumentes.

Ich wage nicht, was vielleicht der Zufall hier als eine Ausnahme fügte, als ein allgemein Bestehendes auszusprechen. Jedenfalls ist es interessant, die serbische mit der neugriechischen Poesie in gleicher Weise entstehen zu sehen. Dass jene in ihrer einfachen Erhabenheit, in ihrer plastischen Gewalt den homerischen Gesängen nahe steht, ist bereits anerkannt worden. Es fehlt eben nur ein Dichter, wie Homer, oder wie Heinrich von Ofterdingen, der die zerstreuten, goldenen Klänge zu einer gewaltigen epischen Symphonie vereinigt hätte. Fast scheint es, dass zu dieser unsterblich machenden Tat die Zeit vorüber sei; sie fordert noch naive Zustände und das Zusammenfassen zu einem ganzen, einem Kunstwerke darf nicht gar zu fern der Schöpfung der einzelnen Gesänge, Sagen und Heldenkreise liegen.

Die Berge sind die vom Sturm umsungenen Wiegen der Lieder, dieser natürlichen Kinder der Freiheit. Korsika und Montenegro, von den Gebirgen der Basken und der Hellenen stürzen singende Katarakte in die Täler und so bleibt es auffallend, warum die tapfern, freiheitliebenden Bewohner der Schweiz es allenfalls nur zu einem sentimentalen

„Uf'm Bergli
Bin i gesässe“

gebracht haben und dass die allezeit tapfern und frommen Tiroler, in ihren prächtigen Bergen gar nur im trivialen „Schnaderhüpfel“ den Ausdruck ihrer Gefühle finden. Kein historischer Gesang ist in diesen Bergen der Begleiter der schönen und heldenhaften Taten ihrer Bewohner.

Doch wir wollen den Reitern in der Kaserne zusehen, wie sie tanzen.

Die Männer fassten sich an den Händen und bildeten einen weiten Kreis. Wieder wurde ich an den serbischen „Kolo“ einen Kreistanz erinnert. Die Griechen halten die Romaika für einen antikgriechischen Tanz, trotzdem sie ihm, gleichsam sich ihrer großen Abkunft schämend, einen römischen Namen gaben.

Der geniale Fallmeraier wird die hier nur flüchtig angedeuteten Vergleiche des südlichen Liedes und Tanzes, mit dem der südlichen Slawen zu deuten wissen.

Die Männer bewegten sich bald nach rechts, bald nach links im Kreise, beim Takte des von der Gusle begleiteten Liedes. Zuweilen hoben sie den einen, dann den andern Fuß und stampften ihn auf die Erde. Die Bewegungen waren gemessen, langsam und ohne Feuer. Die Gesichtszüge der Tanzenden blieben gleichgültig, teilnahmlos ernst. Ohne Mannigfaltigkeit der Bewegungen dauerte der Reigen eine halbe Stunde lang, während welcher Zeit mancher Tanzende aus dem Kreise trat, und ein Anderer ihn wieder ersetzte.

Professor Maktas hatte die Güte, mir ein Lied des blinden Geigers zu verschaffen; er sang:

„Jenseits von Kjobeses Brücke
Fiel ich durch des Feindes Tücke.
Sagt der Mutter, o Gefährten,
Die zwei Ochsen zu verwerten,
Und das Geld dafür zu geben
Meinem Liebchen, meinem Leben.
Wenn die Mutter fragend quälet.
Sagt, ich hätte mich vermälet;
Wenn sie fragt, wer meine Lust,
Sprecht: drei Kugeln in der Brust,
Sechs in meine Arm' und Beine.
Fragt sie dann, wer zum Vereine
Sei des Hochzeitsmahls gekommen,
Sagt: die Krähen und die Raben,
Kamen als Verwandte, haben
Alles fressend fortgenommen.“

Ich fand zu meiner Freude dieses Lied in den trefflichen „Albanesischen Studien“ Hahns in der gewandten Übersetzung von O. L. B. Wolf wieder.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nach Jerusalem! Band 1