Corfu

Anblick der Stadt. — Schnee und Frühling. — Straßen und Gestalten. — Esplanade und Chiaja. — Das Land der Phäaken. — Der Erzbischof der Ebräer. — Kapistran. — Die jüdische Schule. — Gesprenkelte Schafe. — Heide und Hoherpriester. — Touristen verderben Alles. — Die Königin von Griechenland. — Verstummende Berichterstatter.

Am dritten Tage der Fahrt erblickten wir vor Mittag Corfu. Eine prächtige umschlossene Bai, beschützt von mittelalterlichen Kastellen, eine fremdartig aussehende Stadt mit Türmen und Palästen, hinter denen sich die Berge der Insel bis zu den Gipfeln grün bepflanzt erheben, gewähren einen großartigen Anblick, eine freudige Anfahrt. Die wir noch kurz zuvor den Schnee der Steyermark gesehen, die Bora des Karst, den kalten Regen in Triest empfunden hatten, ergriff eine selige Empfindung, als wir uns in einem vollen grünen, duftigen Frühling befanden und über uns den warmblauen, jonischen Himmel gewölbt sahen.


Nachdem von der heran rudernden Sanitá unsere dargereichten Pässe mit einer Zange gefasst und durchgesehen waren, begaben wir uns in einer Barke ans Land. Wir befanden uns bald mitten unter den buntesten Gruppen auf der eigentümlichsten Szene. Wir gingen durch enge schmutzige, schlecht gepflasterte Kassen und Gässchen mit bunten Häusern, die eine barocke Vermischung des italienischen, maurischen und orientalischen Baustils zeigen. Neben marmornen Balkonen zerbrochene Fensterläden, auf Aushängschilden meist griechische und englische, weniger italienische Aufschriften. Die Bevölkerung größtenteils in der griechischen weiten Hose, der bunten Jacke, dem roten Feß, häufig barfuß, die Papierzigarren im Munde; in schreiender und lärmender Bewegung durch alle Gassen. Zweirädrige, mit einem Maultiere, oder einem Pferde bespannte Karren, Esel, die prächtige Orangen und Zitronen, üppig gediehenes Gemüse, oder in Netzen die abenteuerlichsten Fische tragen, hindern häufig am Vorwärtsschreiten.

Wir gelangen auf die Esplanade, einen großen mit Bäumen bepflanzten Platz, dessen eine Seite prächtige Häuser mit Laubengängen zieren, während die andere durch das großartige Kastell begrenzt wird. Wir stiegen ein wenig empor zum weiß schimmernden, großartigen Palaste des Lord-Oberkommissärs, zu dessen beiden Seiten säulengeschmückte Tore stehen, durch die wir die schneebedeckten Berge Albaniens erblickten, im Sonnenlichte funkelnd. Wir sind an der Statue des deutschen Helden Schulenburg, der zu Anfang des vorigen Jahrhunderts Corfu gegen die Türken siegreich verteidigte, vorbei bis zum Palaste gelangt, vor dem rote, englische Soldaten Wache stehen. Wir wenden dem Palaste den Rücken und der glorreichste Anblick glänzt uns entgegen: die blaue, im Sonnenlichte schimmernde See.

Nur die Chiaja in Neapel ist ein dieser Esplanade zu vergleichender Spazierraum. Mitten auf demselben spielten Soldaten in Hemdärmeln Ball, Frauen und Kinder, sommerlich gekleidet, saßen im Rasen und sahen ihnen zu und klatschten zuweilen Beifall.

Aus dem Laude der Phäaken, wie der große deutsche Dichter es nennt, kommend hätte ich, in das wirkliche nunmehr gelangt, es gerne durchstreift. Hier, in Koreyra entbrannte der peloponesische Krieg, an der nahen Quelle der Kressida begegnete Ulysses der Nausikaa. Doch der Kapitän hatte uns nur wenige Stunden am Lande gegönnt und so konnten wir diese und durch andere altgriechische Legenden geweihte Stellen und Tempelreste nicht besuchen.

Von der Esplanade wieder in die engen Gassen der Stadt einbiegend, am unansehnlichen Parlamentsgebäude vorüber, gelangte ich, ziemlich tief abwärts steigend, zum stattlichen Hause des Oberrabbiners der jonischen Inseln, zu Herrn Chazan. Der Platzdiener, als ich ihm sagte, mich zu ihm zu führen, wusste Anfangs nicht Bescheid, bis er sich besann: „Ah, ihr wollt zum Erzbischof der Ebräer!“

Im zweiten Stockwerke des Hauses fand ich den ehrwürdigen Herrn in einem geräumigen Bibliotheksaale, eine hohe Gestalt in langem schwarzen, gegürteten Talare, in einem Buche lesend auf und ab wandelnd. Ein faltenreicher, schwarzer Überwurf, violett ausgeschlagen, ein weißer gestickter Spitzenkragen um den Hals hob die Erscheinung noch mehr hervor. Ein breitkrempiger dem Haupte flach anliegender Hut warf auf das edle bleiche Antlitz einen malerischen Schatten.

Von dem Zweck meiner Reise bereits durch Zeitungen unterrichtet, begrüßte er mich in freudiger Weise und versprach mir sogleich die eindringlichsten Empfehlungsschreiben an seine Freunde in Jerusalem, seiner Geburtsstadt. Mit glänzendem, talmudischem Wissen ausgerüstet und als theologischer Schriftsteller bekannt geworden, erhielt er einen Ruf als Oberrabbiner der Gemeinde in Rom, wo er fünf Jahre lebte und sich die italienische Sprache so eigen machte, dass er bald zu den glänzendsten Predigern Italiens gezählt wurde. Vor fünf Jahren nach Corfu berufen, genießt er auch hier großen Ansehens. Seit jener Zeit hatten wir die Freude ihn in Wien unseren Gast zu nennen; bald darauf folgte er einem Rufe als Oberrabbiner nach Alexandrien.

Herr Chazan spricht sehr lebhaft und eindringlich, wobei ihn seine geistvoll und lebhaft bewegte Physiognomie noch besonders unterstützt. Ein bleiches, lang gezogenes Antlitz, mit einem langen schwarzen Barte, funkelnde schwarze Augen unter starken und dunkel geschwungenen Brauen, eine hohe Denkerstirne und kühn gewölbte Nase geben seinem Antlitz jenen schönen Charakter, den wir einen orientalischen nennen, zu welchen Eigenschaften sich noch die Mimik der ganzen Gestalt gesellte. Ich musste an Kapistran denken, der in Wien vor Jahrhunderten in der den Massen unverständlichen, lateinischen Sprache predigte und durch die Gewalt seiner äußeren Erscheinung, den mächtigen Ton der Stimme und die Energie der Geberde alles Volk zur Begeisterung hinriss.

Herr Chazan sprach von sehr traurigen Verhältnissen der Juden in den jonischen Freistaaten. In Corfu leben deren 4.000, auf der Insel Zante 2.000. Meist Kaufleute, leben nur wenige von einem Handwerke. Wohlhabend sind bloß wenige unter ihnen und sind, trotz des stolzen Titels: Ionische Freistaaten und des mächtigen Protektorats von England unfrei und bedrückt.

Die jüdischen Kinder werden in den Schulen verhöhnt, Mädchen gar nicht aufgenommen. Die Juden von Zante hatten eben eine Vorstellung an die Regierung gerichtet mit der Bitte, ihre bedauernswerten, sozialen Zustände zu verbessern.

Ich ersuchte Herrn Chazan um eine genaue Darstellung der Verhältnisse, die er mir nach Jerusalem zu senden versprach. Bei meiner Rückkehr aus dem Orient besuchte ich ihn wieder; er entschuldigte sich, seinem Worte nicht nachgekommen zu sein, indem die Vorsteher der Gemeinde es nicht rätlich gefunden hätten, Mitteilungen zu machen, weil sie in die Öffentlichkeit gelangen und die Regierung verletzen könnten.

Seit wann aber ist ein Parlament empfindlich gegen die Öffentlichkeit, zumal eines das von einem Lord Oberkommissär Englands eröffnet und geleitet wird? Es ist überall das Schicksal der Bedrückten, dass sie selbst das nicht auszusprechen wagen, was ihnen das Gesetz gestattet und was der Würde einer mannhaften Gesinnung geziemt.

Herr Chazan lud mich ein, mit ihm die Gemeindeschule zu besuchen, wo mich die, von meinem Besuche durch ihn benachrichtigten Vorsteher in freundlichster Weise empfingen. In einem geräumigen Saale waren etwa achtzig Knaben versammelt, die fast alle den südlichen Ausdruck und die südliche Bildung des Kopfes zeigten. Wenige nur mahnten an die jüdische Abkunft, eine Erscheinung, die uns schon wiederholt auch in deutschen Schulen aufgefallen ist, wo wieder das blonde Haar und die blauen Augen der Kinder, im besten Falle an das physiologisch begründete Verfallen des Erzvaters Jakob, als er gesprenkelte Schaft erzeugt haben wollte, erinnerte. Winkelmann leitet, unter anderen Gründen, die schöne Bildung des italienischen Kopfes und Leibes von dem in Italien vielfach dargebotenen Anblicke edler Gestalten der Plastik und der Farbe her. Wir müssen annehmen, dass sich die jüdischen, jonischen Frauen häufig versehen.

Ich wurde, schon hier mit echt orientalischer Hyperbolik als „primo Dottore dell' Europa“ den Kindern vorgestellt, für dessen „hochehrenden und beglückenden Besuch“ sie sich geschmeichelt und erhoben und zu Fleiß und guten Sitten aufgemuntert fühlen sollten.

Auf ein gegebenes Glockenzeichen des Lehrers standen alle auf und Bank für Bank heraustretend, bewegten sie sich taktgemäßen Ganges die Wände des Saales entlang und in die Bänke sich einreihend, nahm jedes Kind wieder seinen Platz ein. In dem warmen Klima, erklärte mir Herr Chazan, ist diese Übung nötig, um die Kinder wach und munter für den Unterricht zu erhalten. Sie wurden hierauf von den Lehrern geprüft, zuerst in hebräischer, dann in griechischer und italienischer Sprache. Es fiel mir auf, dass die Kinder auch während der hebräisch gesprochenen Gebete barhaupt blieben. Die Antworten der Kinder waren lebhaft und zeugten von guter Unterrichtsmethode.

„Das Griechische“, bemerkte einer der Vorsteher, „wird als die Landessprache mit besonderer Sorgfalt und reinster, dialektloser Aussprache gelehrt. „Wir wollen nicht, auch der fehlerhaften Sprache wegen verhöhnt werden“, setzte er, bloß mir hörbar leise hinzu,

Nur der Lehrer des Hebräischen und der Bibel war ein Jude; die Lehrer der übrigen Gegenstände waren Griechen. Als ich fragte, ob denn keine Juden auf Corfu fähig seien, den weltlichen Unterricht zu leisten? bemerkte Herr Chazan: „Das ist ein großer Schmerz für uns, dass hier noch kein Jude die Fähigkeit besitzt. Wir hoffen aber zu Gott, dass die Bildung auch unter uns heimisch werden wird.“

Und ist es den als sein fromm bekannten Juden der Inseln kein Anstoß, ihre Kinder von Christen unterrichten zu lassen?

„Besser ein gelehrter Heide, als ein Hoherpriester, der ein Idiot ist,“ zitierte Herr Chazan aus dem Talmud.

Ich war durch die Äußerung solcher Gesinnungen aus dem Munde eines strenggläubigen Rabbiners eben so überrascht, als erfreut. Ich erlaubte mir einige Fragen an die Vorsteher über allgemeine Zustände, die mir, unter bedeutungsvollen Blicken auf die christlichen Lehrer, nur sehr vorsichtig beantwortet wurden.

Der Vertreter einer deutschen Macht, dem ich empfohlen, meinen Besuch abgestattet hatte, ohne ihn in seinem Hause zu finden, suchte mich auf, bis er mich in der Schule erfragte. Die Prüfung, die er mit vieler Teilnahme anhörte, war jetzt zu Ende, und ich hatte Gelegenheit, auch ihn, aber über mehr allgemeine Zustände sprechen zu hören:

„Die Touristen schreiben alle von dem ewig blauen, jonischen Himmel, von dem milden Klima der Inseln, das schimmert und duftet Alles, und ruft die Sehnsucht wach. Vom Volke dieser Inseln aber wissen sie nichts, nichts von seinen traurigen Zuständen, von seiner geistigen Versunkenheit, seinem sittlichen und materiellen Elend. Sie könnten fragen: schwebt hier nicht die Trikolore eines Freistaates, ist sie nicht gehalten und geschützt von den Pranken des englischen Greifs, verklärt von den Phrasen des Protektorats der gebildetsten Nation der Welt? Die Engländer kümmern sich aber nur um ihre militärische Stellung hier, sonst um nichts; weil sie sich nicht in die innern Angelegenheiten mischen wollen, sagen sie. Es scheint mir aber einer gebildeten Nation würdig, auf die Kultur eines Landes Einfluss zu üben, über dem sie die Flagge ihrer Macht und ihres Ehrgeizes flattern lässt. Die Blicke der Jonier, des englischen Protektorats müde, wenden sich immer mehr dem griechischen Königreiche zu, mit dem sie vereinigt fein möchten. Als die Königin im Hafen auf ihrer Reise nach Deutschland, Anker werfen ließ, umschwärmten sie fort und fort Barken mit der blauweißen Flagge, und sangen Lieder und huldigten ihr mit Musik und begeisterten Zurufen.

Auf den Inseln, welche vermöge ihrer glücklichen klimatischen Lage und ihres gesegneten Bodens die „seligen“ genannt werden könnten, bleiben die Kinder ohne Unterricht, die Erwachsenen ohne Kultur, der Gerichtssaal ohne Ansehen. Die Touristen, mein Herr! verderben Alles.“

Ich fühlte mich, wie von einer Warnungsstimme berührt, nicht auch einen Hymnus auf den jonischen Inseln anzustimmen, und erlaubte mir die Frage: warum diejenigen, denen eine klare Einsicht in die Zustände gegönnt ist, die sie amtlich zu kennen verpflichtet sind, nicht selbst Bericht geben und unsere Anschauungen und Vorurteile aufklären?'

„Tun wir es denn nicht? Jeder Beamte, der aus dem Abendlande kommt, ist von der wundervollen, südlichen Natur bezaubert. Personen und Zustände prägen sich in ihrer Ursprünglichkeit und Neuheit seinen Sinnen unwillkürlich lebhaft ein. Er ist gewöhnlich ein aufmerksamer Beobachter und teilt gerne in seinen Berichten Anschauungen und Erfahrungen mit. Er tut das fleißig, innerlich gedrängt sowohl, wie im Gefühle seiner Pflicht, wenigstens wird sie in seiner Instruktion ihm besonders empfohlen. So tut er sie denn Jahre lang, ohne zu ermüden, wenn er auch keine Antwort, keine Anerkennung für seine Mühe, keine Aufmunterung zu Fortsetzungen seiner Arbeit empfängt. Endlich tritt irgend ein großes, politisches Ereignis, wie der eben nur unterbrochene und nicht abgeschlossene russisch - türkische Krieg auf. Die Diplomaten wollen plötzlich unterrichtet sein, und der Beamte erhält wohl gar einen Verweis, seine Regierung vernachlässigt zu haben. Er merkt, dass er Jahre lang umsonst beobachtet und geschrieben hat, dass seine beste Meinung, sein klar entwickeltes Memoire nicht gelesen wurde. Er weiset auf seine Berichte hin, die im besten Falle in irgend einem Archive noch zu finden sind und — schweigt fortan. Russland allein kennt und versteht die orientalischen Verhältnisse und Zustände der Türkei genau.“

Warum veröffentlichen Sie Ihre reichen Erfahrungen und Einsichten nicht durch die Presse?

„Man stört die gute Laune oft schon durch das Memoire, soll der Beamte, der, wenn er z. B. ein Konsul ist, Generalkonsul werden will, an das Feuer der Öffentlichkeit rühren und dadurch missliebig werden? Bleiben Sie vier Wochen bei uns. Ich will Sie auf die Inseln führen, Sie werden beobachten und sehen, welcher Fluch auf diesem irdischen Paradiese lastet!“

Der L'loyddampfer fing im Hafen wieder zu heizen an, und seine stärker qualmende Rauchsäule mahnte, dass die kurze Zeit seines Aufenthaltes zu Ende sei. Ich musste die interessanten Mitteilungen des so wohl unterrichteten Beobachters zu meinem Leid unterbrechen, und schied.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nach Jerusalem! Band 1