Capitel 9 - Land.

Der naechste Morgen daemmerte; weit im Osten drueben faerbte sich der Horizont mit einem mattlichten Streif, der einen weiten dunklen Schatten auf das Wasser warf, und die Sterne im Westen schienen noch einmal so hell und lebendig zu funkeln, ehe der feindliche Tag sie vom Himmel trieb. Oede und kaum sich bewegend in kleinen rollenden, fahlgrauen Wogen lag das Meer -- ein schlummernder Koloss, gewaltig selbst in seiner Ruhe, und furchtbar, entsetzlich in seinem Zorn, und mit eben geblaehten Segeln, wie ein Schwan auf stiller Fluth, zog das Schiff langsam dahin auf seiner Bahn. Aber in seinem Innern regte und trieb geschaeftiges Leben, der fruehen Morgenstunde zum Trotz, denn heute war ihnen, was sie gestern nicht zu sehn bekommen, versprochen worden -- Land -- und Jeder wollte der Erste sein der es entdeckte, den Reisegefaehrten die frohe, so heiss ersehnte Kunde zujauchzen zu koennen -- „Land!“

Vorn auf der Back bis an den Clueverbaum(18) hinauf stand schon, noch bei voelliger Dunkelheit, ein kleiner Trupp, in den Wanten des Fock- und Hauptmastes hingen sie, und die kecksten und gewandtesten der Schaar, unter ihnen Carl Berger und der junge polnische Bursche, waren sogar in die ersten Marsen, und der letztere bis auf die Vor-Marsraae hinaufgestiegen, von da aus den Horizont weiter zu erspaehn.


Und mehr und mehr im Osten lichtete sich der Himmel, ueber dessen weiten Bogen zuckende weissliche Strahlen heraufschossen und den kleinen zerstreuten Wolken einen rosigen Schimmer gaben; breiter und lichtgelber wurde der Streifen, den das Meer jetzt schon in seinem Glanze wiederspiegelte, und dort -- wie ein gluehender Berg in blendender Majestaet stieg sie empor des Tages Koenigin -- und dort --

„Land! Land!“ jubelte es von den Masten und Raaen, wo hinauf auch schon Matrosen gestiegen waren, mit weit geuebteren Blicken den westlichen Horizont zu erspaehen -- „Land! Land!“ jauchzte es vom Deck ein Echo dem Freudenruf, und nur mitten hinein in den Rausch der Gluecklichen, denen das ersehnte Ziel vor Augen lag, stieg ein einzelner wilder Klageruf, wie ein Misston dieser Harmonie, wild und gellend aus dem Zwischendeck heraus.

„Todt -- todt!“ jammerte eine Stimme in herzzerreissenden Toenen; und die Leute aus den Masten glitten schweigend nieder, und die vorn ueber das Schiff postirten Maenner draengten lautlos oder mit leisen, scheuen Fragen zurueck, der dunklen Luke zu, aus der der wilde Weheruf noch immer schallte.

„Was ist geschehn -- wer ist todt? wer klagt da unten?“ draengten und fluesterten die Leute durcheinander.

„Leupolds Frau ist eben gestorben“ klang aber die Antwort zurueck, und die Gruppen, von denen nur einige neugierig in das Zwischendeck hinabstiegen, waehrend die Uebrigen sich mitleidig fluesternd an Deck ueber den traurigen Fall unterhielten, sammelten sich um die Luke und warfen nur manchmal scheu den Blick nach unten, wo Leupold neben der Leiche sass, ihre kalte Hand zwischen seinen Haenden hielt, und sich selber laut anklagte der Moerder der Dahingeschiedenen zu sein, die er gegen ihren Willen aus dem Vaterland, und in Verhaeltnisse gerissen habe, denen das zarte Leben unterliegen musste. Vergebens suchte ihn die Mutter, suchten ihn seine Freunde zu troesten dass Gott es so gewollt, und er ja nur ausgewandert sei, weil er gehofft habe fuer die Seinigen in dem neuen Vaterland besser sorgen zu koennen. „Nein, nein!“ schrie er immer wieder -- „es ist nicht wahr -- es ist nicht wahr -- reiner Uebermuth nur war es von mir -- reiner toller Uebermuth dass ich, von habgierigen Menschen verlockt, mein sicheres Brod verliess und dem Versucher folgte. -- Ich habe sie gemordet, mit kaltem Blut gemordet und Gott wird mich dafuer strafen, Gott wird mich dafuer strafen.“

„Was der Bursche da unten fuer ein Gewinsel macht dass ihm die Frau abgefahren ist“ brummte der aelteste von den drei an Bord geschafften Verbrechern halb mit sich selber redend, halb zu Meier gewandt, der nicht weit von ihm auf einem der Wasserfaesser sass und ohne weder Notiz von dem in Sicht gekommenen Land, noch von dem Todesfall zu nehmen, ein Stueck Holz in die Form eines Schiffes zu schnitzen suchte. Die beiden Maenner hatten uebrigens, seit dem vor Wochen kurz abgebrochenen Gespraech noch kein Wort wieder mit einander gewechselt.

„Die Haelfte von uns Menschen weiss nie wann's ihr am wohlsten ist“ sagte Meier ebenfalls ohne von seiner Beschaeftigung aufzusehn.

„Mancher hielt's fuer ein Glueck“ meinte der Erste wieder.

„Fuer Manchen waer's eins“ brummte Meier, und die Unterhaltung kam hier wieder fuer eine Weile in's Stocken; dem sonst so schweigsamen Passagier schien aber heute daran gelegen mit dem Anderen das Gespraech fortzusetzen, und er sagte nach ein paar Minuten wieder, in denen Jeder still und mit seinen eigenen Gedanken beschaeftigt vor sich nieder gesehn:

„Kommen nun bald nach Amerika.“

„Ja“ erwiederte Meier lakonisch -- „wird ein Vergnuegen werden.“

„Ihr versprecht Euch nicht viel davon?“

„Muesst' es luegen.“

„Ein Geschaeft?“

„Fleischer“ --

„Hm“ --

„Und Ihr?“

„Ich?“

„Ja“ --

„Schlosser!“ sagte der Alte und warf dabei einen fluechtigen Seitenblick nach dem Mitpassagier, ohne dessen nach ihm hinuebersuchendem Auge zu begegnen.

„Gutes Geschaeft und naehrt seinen Mann“ sagte Meier endlich nachdenklich -- „muss aber recht betrieben werden -- Kein Werkzeug?“

„Steht nicht zu erwarten“ sagte der Mann.

„Hm, nein“ --

„Schon eine Idee wohin Ihr geht drueben?“ frug der Alte endlich wieder nach einer zweiten Pause.

„Drueben? -- wo?“

„Nun dort“ -- und er deutete mit dem verkehrt gehaltenen Daumen ueber die Schulter hin der Richtung zu, in der das Land lag. Meier schuettelte aber den Kopf und knurrte:

„Zum Teufel wahrscheinlich, wenn's mir nicht besser glueckt wie in Deutschland.“

„Da koennen wir vielleicht zusammengehen“ lachte der Alte.

„Oder treffen uns wenigstens da spaeter“ sagte Meier, ausweichend.

„Wahrscheinlich“ brummte der Alte, mit dem Erfolg seiner Annaeherung nicht recht zufrieden, blieb noch eine Weile auf dem Fass sitzen und stand dann langsam auf nach vorne zu gehn, wo er mit seinen beiden Kameraden wieder zusammentraf. Meier aber sah ihm, ohne seine Stellung zu veraendern oder auch nur den Kopf auf die Seite zu drehn, so lange nach, wie er ihm mit den Augen folgen konnte, und pfiff dann leise und mit einem halb spoettischen Grinsen vor sich hin, als er in seiner Selbstbetrachtung ploetzlich durch ein von oben niedertoenendes heiseres Lachen gestoert wurde. Rasch sah er empor, und erkannte den Scheerenschleifer, der oben in der Barkasse lag, ueber deren Rand er gerade mit dem halben Oberkoerper herueberschaute, dass sich die Sonne an den blankgescheuerten Schultern des unverwuestlichen fahlgruenen Rockes spiegelte.

„Gratulire zum Compagniegeschaeft“ sagte er lachend, als er des Fleischers Blick begegnete -- „Meier und Compagnie wird gar nicht so schlecht klingen in New-Orleans.“

„Danke“ brummte Meier vor sich hin -- „der Contrakt ist noch nicht unterzeichnet -- Du scheinst Dir da oben aber Dein stetes Quartier genommen zu haben, Kamerad.“

„Schade dass ich so bald ausziehn muss“ sagte der Scheerenschleifer, den Dampf aus seiner Pfeife dabei in weissen kurzen Wolken von sich stossend.

„Schade? -- ich danke Gott dass ich das verfluchte Schiffsleben bald hinter mir habe -- die Haende wachsen Einem ja zusammen.“

„Bah“ sagte der Scheerenschleifer -- „was verlangt ein Mensch mehr auf der Welt, was kann er mehr verlangen, als drei Mal zu essen den Tag, und Nichts zu thun, ohne weitere Expensen. Ich wuenschte mir mein Lebtag nichts Besseres als auf solche Art hin- und herzufahren, wenn ich nur irgend etwas wuesste wozu sie mich, ohne besondere Beschaeftigung, an Bord gebrauchen koennten.“

„Zur Verzierung etwa“ meinte Meier.

„Ja, fuer den Schafskopf vorn“ sagte der Scheerenschleifer trocken, ohne die Anspielung uebrigens uebel zu nehmen -- „gehst Du heute mit zur Leiche?“

„Ich habe meinen schwarzen Frack nicht draussen“ sagte Meier.

„Ist schade“ erwiederte der Scheerenschleifer -- „geht mir aber auch so.“

„Wir werden uns ueberhaupt bald anziehn muessen an Land zu gehn“ fuhr Meier fort -- „wenn das Schiff einmal anlegt, wird uns der Capitain schnell genug hinaustreiben, und gewiss nicht daran denken uns laenger zu fuettern, als er unumgaenglich noethig hat.“

„Kann ich ihm auch gar nicht verdenken“ sagte Maulbeere; „ich gehe aber vor allen Dingen erst einmal im Neglige hinueber, und werde mich vor der Hand beim Praesidenten entschuldigen lassen, dass ich ihm nicht gleich meine Visite machen kann. -- Fuettern werden wir uns uebrigens jetzt wieder selber muessen.“

„Nun zum Teufel, man wird doch in dem Amerika wenigstens zu leben haben“ -- fluchte Meier.

„Amerika soll verdammt sein“ brummte der Scheerenschleifer, und qualmte aerger als vorher.

„Warum bist Du denn da heruebergekommen, wenn Du's so gut leiden magst?“ frug ihn Meier.

„Weil ich wenigstens die Condition einmal wechseln wollte; aber in dem Hundeleben selber wird verwuenscht wenig Veraenderung sein -- Die Frage ist ausserdem, ob sie hier ueberhaupt Scheeren zu schleifen haben -- sollte mich gar nicht wundern wenn ich den alten vermaledeiten Drehkarren am Ende ganz zu meinem eigenen Vergnuegen im Lande umherfuehre“ --

„Und weiter kannst Du Nichts?“

„Hm, wer weiss“ sagte Maulbeere -- „es liegt noch vielleicht Manches bei mir verborgen, hat sich aber noch nicht entwickelt.“

„Nun in Deutschland drueben haetten wir auch auf der Landstrasse verhungern koennen ohne dass sich Jemand anders als vielleicht ein Gendarme theilnehmend nach unserem Passe erkundigt haette“ sagte Meier -- „die sind wir doch wenigstens los.“

„Haben mich noch nie genirt“ meinte Maulbeere trocken -- „wer sich nicht einmal einen guten Pass verschaffen kann ist selbst zum Stehlen zu dumm.“

„Mit den Grundsaetzen wirst Du hier im Lande wohl auch nicht verhungern“ lachte Meier -- „aber ich glaube da kommen sie aus dem Zwischendeck mit der Leiche herauf“ unterbrach er sich da ploetzlich, indem er von seinem Sitze aufstand; „ich gehe nach vorn -- mag nicht gern Leichen sehn.“

„Habe auch keine Passion dafuer“ brummte Maulbeere, und verschwand gleich darauf hinter dem Rand der Barkasse, in der er sich der Laenge nach behaglich ausstreckte, von dem unten Vorgehenden nichts weiter sehn zu muessen.

Meier war langsam nach vorn geschritten, seinen Lieblingsplatz auf einem der auf der Back liegenden Anker einzunehmen, als er dort dem jungen Donner begegnete, der eben von da niederstieg.

„Hoert einmal Freund,“ sagte dieser, als er ihn einen Augenblick scharf fixirt hatte, und dann bei ihm stehen blieb -- „wir haben doch einander schon frueher einmal gesehen, aber ich kann mich nicht gleich besinnen wo? -- seid Ihr nicht aus Waldenhayn?“

„Waldenhayn?“ wiederholte der Mann, kopfschuettelnd, „was fuer ein Waldenhayn?“

„An der Hart --“

„Kenn' ich nicht“ -- sagte Meier, ohne sich auf weitere Auseinandersetzungen einzulassen, und drehte dem jungen Mann den Ruecken zu, die Back hinaufzusteigen. Georg Donner sah ihm noch ein paar Momente wie zweifelnd und ungewiss nach, verzichtete jedoch auf weitere Fragen, da ihm das Resultat auch ziemlich gleichgueltig sein konnte, und ging nach dem mittleren Theil des Decks zurueck, wo sich indessen die meisten der Zwischendeckspassagiere an zu sammeln fingen.

Die Leiche der Frau wurde jetzt naemlich aus dem engen unteren Raum hinauf an Deck geschafft, und dort in Lee mit ihrer Matratze auf ein paar ueber die Wasserfaesser gedeckte Breter gelegt. Doktor Hueckler, der sich jetzt sehr geschaeftig zeigte, oeffnete ihr dann beide Adern, sich von dem wirklichen Hinleben der Kranken, da man die Leiche nicht an Bord behalten konnte, auch fest zu ueberzeugen. Als aber auch der letzte Zweifel beseitigt, und der Tod fest und unerbittlich constatirt worden, wurde der Segelmacher beordert, die Verschiedene in ein Stueck Segeltuch, wie das auf Schiffen gebraeuchlich ist, einzunaehen. Nur das Gesicht sollte noch bis zum letzten Augenblick der Bestattung frei und offen bleiben.

Es ist ein haesslich unangenehmes Gefuehl eine Leiche an Bord zu wissen, und selbst in der Cajuete, die doch in keine Beruehrung mit der Gestorbenen gekommen war, ja von deren Passagieren sich nur ein paar erinnerten sie ueberhaupt je an Deck bemerkt zu haben, hatte es die froehliche Stimmung die das nahe Land hervorgebracht, wenn nicht ganz gestoert, doch merklich gedaempft. Wesentlich zu dem Unbehagen trug aber auch der Doktor Hueckler bei, der sich vor dem Fruehstueck, das die Passagiere heute aussergewoehnlich zeitig in der Cajuete versammelt hatte, in seinem unglueckseligem Geschaeftsstolz nicht enthalten konnte, dem Professor Lobenstein genau den erfolglosen Aderlass an der Todten, die Umstaendlichkeiten ihrer letzten Augenblicke und den wahrscheinlichen Zustand ihres Gehirns, das einer Entzuendung erlegen waere, zu beschreiben. Der Professor suchte dabei vergebens ihm zu entgehn, eben so beschwor ihn Herr von Benkendroff ihm nicht wieder das Fruehstueck mit seinen verzweifelten Beschreibungen zu verderben. Umsonst, der Fall interessirte ihn selber viel zu sehr, ihn ruhig und unausgesprochen bei sich tragen zu koennen, und er musste seinem Herzen Luft machen.

Indessen war Hedwig, die an dem Morgen schon zweimal vergebens an ihrer jungen Herrin Thuer geklopft, durch den Cajuetenwaerter dorthin beschieden worden, und flog jetzt dem willkommenen Befehle Folge zu leisten. Die junge Frau hatte sich ihr stets so mild, so freundlich gezeigt, war besonders gestern Abend in ihrem Schmerz so herzlich mit ihr gewesen -- und diese Guete that dem armen, verwaisten Kind so wohl -- dass es sie trieb und draengte ihr Leiden zu erfahren. Konnte sie auch nicht helfen, mittragen konnte sie es doch, und Alles, Alles thun was in ihren Kraeften stand, ja selbst was ueber ihren Kraeften lag, es zu erleichtern.

Sie fand Clara heute schon auf, und vollstaendig angezogen in ihrer Cajuete, und als sie die Thuere oeffnete streckte ihr die junge Frau die Hand entgegen. Hedwig erschrack aber ueber das todtenbleiche schmerzdurchzuckte Antlitz der geliebten Herrin, und wollte die gebotene Rechte in aengstlicher Hast an ihre Lippen fuehren, als sie sich von Clara emporgezogen, von ihren Armen umschlossen und einen heissen Kuss, heissere Thraenen auf ihrer Stirne fuehlte.

„Um Gottes Willen liebe -- gnaedige Frau“ --

„Nenne mich Clara fortan und Schwester“ -- fluesterte aber die Frau unter gewaltsam zurueckgedraengten Thraenen -- „denn ich will es Dir sein bis zum Tode, Du armes -- liebes Kind. Aber ruhig jetzt -- keine Frage weiter, kein Wort,“ bat sie, als Hedwig sich halb erschreckt, halb schuechtern aus ihren Armen loszuwinden suchte -- „in wenigen Tagen -- Stunden vielleicht, betreten wir das Land, und die uns fremd hier sind brauchen nicht zu ahnen dass uns ein Schmerz, ein Leid gedrueckt. Komm mein Kind“ setzte sie dann ruhiger hinzu, waehrend sie die Spuren der Thraenen von ihren Wangen zu tilgen suchte, „komm Hedwig, wir wollen hinaus unter die Leute gehn, aber Du bleibst bei mir, nicht wahr mein liebes Kind, Du gehst jetzt nicht wieder von mir fort? -- Schon gut -- schon gut, ich weiss dass Du mich liebst, wenn ich es auch nicht verdiene, denn auch ich -- aber das spaeter -- das spaeter“ fluesterte sie, ihr Herz mit beiden Haenden deckend, als wenn sie es halten und baendigen wollte in der Brust -- „Und nun die Maske vor zum ersten Mal!“

Hedwig, nicht im Stande den, fuer sie raethselhaften Sinn der dunklen Worte zu verstehn, wagte auch nicht zu fragen und zu forschen, haette ihr die Frau selbst Zeit dazu gelassen. Diese aber oeffnete rasch die zur Cajuete fuehrende Thuer, und betrat den inneren Raum, wo sie saemmtliche Passagiere am Fruehstueckstisch bereits versammelt fand.“

„Heilige Mutter Gottes!“ rief aber Marie, die auf sie zu lief, und sie umarmte und kuesste, „wie bleich und angegriffen Du aussiehst Clara; Du bist recht krank gewesen -- bist es noch, und musst Dich unendlich schonen und in Acht nehmen, dass Du Dich ja recht bald wieder erholst. Draussen ist ja schon das Land in Sicht -- soll ich es Dir zeigen?“ --

„Nachher, nachher meine liebe Marie,“ laechelte Clara, ihren Kuss und den Morgengruss der Uebrigen erwiedernd.

Herr von Hopfgarten begnuegte sich aber nicht mit der kalten Verbeugung, sondern ging auf sie zu, um den ganzen Tisch herum, schuettelte ihr die Hand, und sagte ihr dass es ihn unendlich freue sie wieder wohl und munter zu sehn, denn sie haette ihm die ganze Zeit lang gefehlt, und er waere selbst nicht einmal ueber das Land froh geworden.

Marie neckte ihn deshalb, aber des Capitains Ruf noethigte die Passagiere sich zu setzen, und das Gespraech wurde jetzt allgemein.

Mit der Sonne wurde die Brise indessen etwas lebendiger, und das Land lag schon, ein deutlicher dunkler niederer, aber doch selbst dem blossen Auge leicht erkennbarer Streifen am fernen westlichen Horizont, dem das Schiff jetzt mit vollgeblaehten Segeln entgegenstrebte. Rechts und links kamen dabei noch andere Segel in Sicht, kleine Kuestenfahrzeuge wie groessere Schiffe, die theils gegen den Wind aufkreutzten, theils mit ihnen gleiche Bahn gingen der amerikanischen Kueste zu, und die Passagiere haetten des Neuen und Fremdartigen zu sehen genug gehabt, waere ihre Aufmerksamkeit nicht bald auf das Begraebniss der Frau gelenkt worden. Der Capitain trieb naemlich, die Leiche ueber Bord zu lassen, einer Masse Umstaendlichkeiten zu entgehen, die er sonst noch bei der Landung haette haben koennen.

Der Steuermann ging jetzt zu Leupold, machte ihn damit auf seine rauhe aber nichtsdestoweniger herzliche Weise bekannt, und forderte ihn auf sich zu sammeln und dem, was er nun doch einmal nicht aendern koenne, maennlich in's Auge zu schaun. Leupold aber wollte im Anfang Nichts davon wissen, bat nur um -- einen Tag, dann um wenige Stunden noch Aufschub -- man koenne die Gestorbene doch nicht, fast noch warm, schon begraben wollen. Seine Freunde aber redeten ihm zu sich dem Unvermeidlichen zu fuegen, selbst Georg Donner, auf den er am meisten hielt, bat ihn es geschehen zu lassen; die Frau sei todt, und unter den nun einmal bestehenden Umstaenden jedenfalls das Beste, den leblosen Koerper ohne Zeitverlust den Wellen -- ihrem stillen Grab, zu uebergeben.

Der Mann fuegte sich endlich darein, kuesste noch einmal die bleichen Lippen der Dahingeschiedenen, barg dann das Antlitz in den Haenden und weinte laut. Der Steuermann winkte indess dem Segelmacher, den Koerper vollstaendig einzunaehen. Er selber befestigte dabei einen Sack schon bereit gehaltener Steinkohlen zu ihren Fuessen, und die Zwischendeckspassagiere wurden aufgefordert der Todten die letzte Ehre zu erweisen. Von allen Seiten draengten sie still und schweigend herbei, und umstanden den Platz mit entbloessten Haeupten, wo vier Matrosen die Planke auf der die Leiche lag, aufhoben und mit dem Fussende auf die Railing hinausschoben; zwei Mann hielten sie dort im Gleichgewicht.

Der Capitain war indessen auf den Gangweg herunter gekommen, und seine Muetze abnehmend trat er zu der Leiche hinan, und sagte mit lauter einfacher Stimme.

„Ich habe versprochen gehabt alle meine Passagiere sicher und wohlbehalten nach Amerika hinueberzufuehren. Gott der Herr hat es anders gewollt, und diese eine Seele abgefordert zu Seiner himmlischen Herrlichkeit. Sein Name sei gelobt und gepriesen, Er fuehrt Alles zum Guten aus, und des Menschen Kraft ist wie ein Hauch vor Seinem Willen. Aber Er hat uns auch Seine ganze weite Welt zum Trost dafuer gegeben, in der jede schwellende Woge, jeder blinkende Sonnenstrahl ein Zeichen und Merkmal Seiner Macht und Gnade ist -- Ihm wollen wir vertrauen. Des Herren Name sei gelobt!“ Und dann das Haupt neigend begann er mit leiserer Stimme das „Vater unser“ zu beten, in das die Passagiere lautlos mit einstimmten -- mit den letzten Worten aber und auf ein leises Zeichen des Capitains, hoben die beiden Matrosen die die Planke hielten, diese langsam an dem inneren Ende in die Hoeh; die Leiche wurde dadurch mit dem Kopfende mehr aufgerichtet und glitt rasch, von dem Gewicht des Steinkohlensackes nach vorn gezogen, hinab.

„Louise -- Louise!“ rief der Mann mit einem herzzerreissenden Ton und streckte die Arme nach ihr aus, aber im naechsten Momente schlug die Fluth ueber ihr zusammen, und waehrend das Schiff rasch ueber die Stelle glitt, sank der Koerper tiefer und tiefer hinab, und verschwand in der blaeulichen Nacht.

Vorbei -- ueber der Leiche wogte die See so still und ruhig als vorher, und das gewaltige Grab von Millionen waelzte seine munter plaetschernden Wellen rasch und lebendig dem naeher und naeher rueckenden Lande entgegen.




18) Clueverbaum ist das was die Stenge auf den Masten ist, die Verlaengerung des Bugspriets, an der die vorderen dreieckigen Segel (Cluever) befestigt sind.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nach Amerika! - Ein Volksbuch - 2. Band