Capitel 3 - Der Diebstahl.

Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander hergegangen sein, als hinter ihnen auf der Straße eine Equipage und klappernde Hufschläge gehört wurden, die sie rasch einholten und an ihnen vorbeirauschten, eine dicke Staubwolke dabei über den Weg wälzend. Es war die Familie Dollinger mit dem, neben dem Wagen hin galoppirenden Fremden, dem Bräutigam der Tochter.

„Die kommen schneller von der Stelle als die armen Auswanderer vorhin,“ sagte Kellmann, als sie vorbei waren - „Wetter noch einmal, es ist doch ein anderes Ding so ein paar flüchtige Rappen vor sich zu haben, und wie im Flug durch die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem Rücken und wunden Füßen vielleicht, mühselig die staubige Straße entlang zu keuchen.“


„Ja, die Gaben sind ungleich vertheilt in der Welt,“ seufzte der Actuar, „was der Eine haben möchte, hat der Andere schon, und das ist auch wohl das ganze Geheimniß der socialen Frage, läßt sich aber nun einmal nicht ändern, und wir dürfen vielleicht den Kopf darüber schütteln, und wünschen daß es anders wäre, aber weiter eben Nichts.“

„Der auf dem Pferd, war der Dings da von Amerika,“ sagte der Apotheker jetzt, „der das schmählige Geld hat und des reichen Dollingers Tochter noch dazu heirathet. Soll mir noch einmal einer sagen daß Eisen der stärkste Magnet sei; Gold ist’s, und wo das liegt zieht es anderes hin.

„Und wie steht’s mit Actien?“ lachte Kellmann.

„Bah - bleibt immer dasselbe,“ brummte der Apotheker, „das Gold steckt darin, und kann durch einen sehr einfachen chemischen Proceß leicht herausgezogen werden - wenn man sie hat.“

„Es wundert mich übrigens daß der alte Dollinger sein Kind über das große Wasser hinüberziehen läßt,“ meinte der Actuar - „dem hätte es doch auch hier im Lande nicht an einer eben so guten Parthie gefehlt.“

„Liebe,“ meinte Kellmann achselzuckend - „Liebe ist blind sagt ein altes Sprichwort; dagegen lassen sich eben keine Gründe anbringen. Wär’s übrigens auch nicht wegen dem großen Wasser, der Bursche gefällt mir außerdem nicht, und ich möchte ihm meine Tochter nicht geben und wenn er bis über die Ohren in Golde stäcke. Er hat ein verschlossenes, hochfährtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen Hund, und spricht von Allem was wir hier haben, unseren Einrichtungen, unseren Gesetzen, unseren Vergnügungen selber, ja unserem Klima und Land, das doch zum Henker auch sein Vaterland ist, mit der größten Verachtung. Amerika, und immer wieder Amerika, hinten und vorn; ei Blitz und Hagel, ich will gar nicht leugnen daß es manche gute Seiten haben mag, das Amerika, wenn ich sie auch gerade nicht einsehen kann, aber so viel besser wie unser Deutschland ist es doch auch nicht drüben, und wenn’s so einem Burschen da einmal zufällig geglückt ist, sollt’ er nicht als Lockvogel sich hier mitten zwischen uns hineinsetzen, anderen vernünftigen Leuten unglückselige Ideeen in den Kopf zu pflanzen.

„Wenn sich andere vernünftige Leute solche Ideeen einpflanzen lassen , geschieht’s ihnen ganz recht,“ sagte der Apotheker - „man braucht nicht zu glauben was jeder dahergelaufene Lump eben sagt.“

„Nun ganz ohne kann’s aber auch nicht sein,“ meinte Kellmann kopfschüttelnd, „und ich - ich halt’ es immer für gefährlich. S’ist merkwürdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit gemacht hat.“

„Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem Wasser zieht hat leicht freien,“ sagte der Actuar - „Glück muß der Mensch haben, dann geht Alles wie am Schnürchen; wer aber das nicht hat, der mag sein Lebtag fischen und fängt doch Nichts - am wenigsten aber solch einen Goldfisch.

„Wo stammt er denn eigentlich her?“ frug der Apotheker jetzt, wie sie wieder eine Weile schweigend neben einander hingegangen waren, „man hört doch sonst eigentlich gar Nichts von ihm, und er kommt auch mit keinem Menschen weiter zusammen - stolzer aufgeblasener Bursche der.“

„Gott weiß es,“ sagte der Actuar; „er ist, glaub’ ich, mit einem holländischen Schiff herübergekommen, und hatte einen Paß von Amsterdam.“

„Und der Paß lautete nach Heilingen?“

„Nun nicht gerade nach Heilingen, aber doch nach der Residenz, und wie sich die Sache dann hier mit der Dollingerschen Familie gestaltete, nun lieber Gott, da drückte der Stadtrath das eine, und die Stadtverordneten drückten das andere Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. Ueberdieß verzehrte er ja hier viel Geld; wär’ es ein armer Teufel gewesen, hätten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder über die Grenze gehabt.

„Hm, ja, glaub’s,“ sagte Kellmann mit dem Kopfe nickend, „s’ist in Heilingen eben nicht anders wie - wie anderswo - warum auch?“

Das Gespräch drehte sich von da ab, auf die städtischen Einrichtungen, deren wärmster Vertheidiger der Apotheker war, und über die sich der Actuar natürlich nur sehr vorsichtig ausließ, während sie Kellmann um so unnachsichtiger angriff; kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder mit einem Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen Reiches, bis sie das Thor und zwar gerade mit Sonnenuntergang erreichten, wo Jeder seinen Weg ging, die eigene Heimath aufzusuchen.

Der Actuar Ledermann besonders, der an dem entgegengesetzten Ende der Stadt wohnte, beeilte seine Schritte, noch vor einbrechender Dunkelheit seine Wohnung zu erreichen; das Gerücht ging nämlich in der Stadt, daß ihn seine Ehehälfte bei solchen Gelegenheiten oft allerdings sehr unfreundlich empfange, und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr nützliche, bei der Gelegenheit aber nichts weniger als passende häusliche Geräthe entgegen und vor die Füße geworfen habe. Thatsache war, daß „Madame“ oder Frau Actuar Ledermann, was auch ihres Gemahls Thätigkeit und Ansehn außerhalb seiner eigenen vier Pfählen sein mochte, innerhalb derselben jedenfalls das Commando, und nicht immer mit Mäßigung führte, und der Actuar suchte den Hausfrieden wenigstens soviel als möglich zu erhalten und jeden Anlaß, zu irgend einer Störung desselben, zu vermeiden.

Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf, wollte Ledermann eben vom Marktplatz aus in die Straße einbiegen, an deren äußersten Ende seine eigene, sehr bescheidene Wohnung stand, als er seinen Titel genannt und sich selber gerufen hörte.

„Herr Actuar - Herr Actuar Ledermann.“

Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener eilig auf sich zukommen, der, die Mütze abnehmend, vor ihm stehen blieb und ihm meldete, daß er eben abgeschickt worden ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein Einbruch geschehen sei, über den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen werden solle.

„Protokoll aufnehmen?“ sagte Actuar Ledermann, keineswegs angenehm überrascht; „ja was hab ich denn heute damit zu thun, wo ist mein College ?“

„Herr Actuar Beller sind unwohl geworden, heute Nachmittag,“ berichtete der Polizeidiener, „und mußten zu Hause gehn; ich bin eben abgeschickt zu sehn, welchen von den andern Herren ich zuerst treffen könnte.“

„Hm - ist sehr amüsant,“ brummte Ledermann vor sich hin - „kommt mir gerade apropos. Bei wem ist es denn?“

„Bei Herrn Dollinger.“

„Was? - bei Kaufmann Dollinger?“ rief der Actuar rasch und erstaunt - „am hellen Tag, während er ausgefahren war?“

„Er ist, wenn ich nicht irre, eben zu Hause gekommen,“ berichtete der Mann, und hat glaub’ ich sein Pult geöffnet, und eine bedeutende Summe Geldes entwendet gefunden.“

„Hm, hm, hm,“ sagte der Actuar kopfschüttelnd und seinen Rock dabei, den er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen hatte, zuknöpfend, „es wird immer besser hier bei uns. Am hellen lichten Tage. Aber die ganze Stadt steckt auch voll fremden Volkes, das sich natürlich keine Gelegenheit entschlüpfen läßt Reisegeld zu bekommen.“

?Es muß doch wohl Jemand gewesen sein der mit dem Hause genau bekannt war,“ sagte der Polizeidiener - „nach dem wenigstens, was ich bis jetzt von den Dienstleuten darüber gehört habe, kann’s nicht gut anders sein.“

„Nun wir werden ja sehn; da muß ich aber erst - „

„Wenn sich der Herr Actuar nur eben an Ort und Stelle bemühen wollen,“ sagte jedoch der Diener des Gerichts, „alles Nöthige ist schon dorthin geschafft und ich war eben nur fortgelaufen, einen der Herren zu suchen.“

Der Actuar, dem Dienste natürlich Folge leistend, seufzte tief auf und schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs gedenkend, der seiner harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem Abendessen warten mußte, rasch die „Poststraße“ hinaufbiegend, dem gar nicht weit entfernten Dollinger’schen Hause zu, dort den Thatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, etwaige Spuren des Uebelthäters zu entdecken und zu verfolgen, und die Leute im Hause nach möglichem Verdachte zu inquiriren.


Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem Alles sonst so still und ruhig und wie am Schnürchen zuging, wo Jeder seine angemessene und fest bestimmte Beschäftigung hatte, genau wußte was ihm oblag, und das that, ohne eben viel Lärm darum zu machen, lief und rannte und sprach heute alles durcheinander, und sämmtliche Bande der Ordnung schienen gelöst.

Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Krämpfen in ihrem Boudoir, und beanspruchte die Hülfe ihrer beiden Töchter und der weiblichen Dienstboten im Haus, ihren Zustand zu bewachen; Herr Dollinger selber war in seinem Zimmer des obern Stocks, und ging dort mit raschen Schritten und auf den Rücken gekreuzten Armen auf und ab, während dem jungen Henkel indessen die Bewachung des Platzes selber übertragen war, und die andern Dienstboten, mit einem nicht unbedeutenden Theil der Nachbarschaft und deren Verwandten, in den verschiedenen Winkeln und Ecken des Hauses herumstanden und kopfschüttelnd, die Hände ein über das andere Mal in Verwunderung zusammenschlugen. Die verschiedenartigsten Vermuthungen und Beweise wurden da laut, und die Orte und Stellungen oder Beschäftigungen jedes Einzelnen auf das Genaueste und Peinlichste angegeben, wo und wie sich Jeder gerade in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, verruchte That geschehen und vollbracht sein mußte.

Dem Actuar, mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener wurde übrigens willig und dienstfertig Platz gemacht; Alle wollten aber hinter drein, und die Frauen besonders gaben dabei durch die entschiedensten Ausrufe - „Ne Du meine Güte“ und „Ne so was“ ihre vollkommenste Misbilligung des Geschehenen zu erkennen. Nichts desto weniger wurde auch selbst ihnen die Thüre vor der Nase zugemacht, und Einer der Bedienten bekam strenge Ordre die Hausflur zu räumen, und Niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse Jemand noch um den Diebstahl, und könne irgend einen Fingerzeig geben den Dieben auf die Spur zu kommen; solche Zeugen sollten nachher vernommen werden.

Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie gleich zu dem Ort, wo der Diebstahl verübt worden, hinzuführen; einer der Leute war indessen abgeschickt Hrn. Dollinger selber zu rufen, und dieser erschien jetzt, den Actuar freundlich grüßend.

Es war indessen schon ziemlich dunkel, und im Zimmer Licht angezündet worden.

„Ich bedaure sehr, Herr Dollinger,“ sagte der Actuar, „daß, wie ich gehört habe, eine so fatale Sache mich hier in Ihr Haus geführt haben muß.“

„Ja allerdings,“ erwiederte der alte Herr, „ist es sehr unangenehm; weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls ertragen ließ, als wegen dem Bewußtsein getäuschten Vertrauens, mit selbst keinem gewissen Anhaltspunkt auf Verdacht. Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, wenn es hätte können auf andere Weise geschehn.“

„Das Ganze ist übrigens mit einer raffinirten Geschicklichkeit ausgeführt,“ fiel Henkel hier ein, „und der Thäter, wer auch immer, jedenfalls ein höchst gefährliches Subject, von dem ich nur hoffen will daß wir ihm auf die Spur kommen.“

„Dürfte ich Sie bitten mir den Platz zu zeigen?“

„Treten Sie hier in das Zimmer meiner Töchter; dort der Secretair ist erbrochen.“

„Hm - mit einem breiten meißelartigen Instrument,“ sagte der Actuar nach kurzer Besichtigung der offenen, arg beschädigten Mahagoniplatte - „und die Thür ebenfalls eingebrochen?“

„Nein - die Thür ist unbeschädigt und muß jedenfalls mit einem Nachschlüssel geöffnet sein.“

„Und was vermissen Sie in dem Secretair?“

„Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden, und im Beisein meiner Familie und eines zuverlässigen Comptoirdieners, im Paket wie ich sie von der Post erhalten, hier eingeschlossen hatte, und von der der Dieb auf eine mir unbegreifliche Weise muß Kenntniß bekommen haben.“

„Wer ist dieser Comptoirdiener?“

„Oh, Loßenwerder; Sie kennen ihn ja wohl?“

„Loßenwerder,“ sagte der Actuar nachdenkend - „ist wohl schon eine ganze Weile in Ihrem Geschäft?“

„Schon zwölf Jahr; mit keinem Schatten irgend eines Verdachts; ich nahm ihn als einen ganz jungen Burschen in mein Haus; er muß aber gegen irgend Jemand davon gesprochen haben.“

„Hm, hm, wollen ihn uns doch einmal nachher besehn; also hier hinein hatten Sie das Geld gelegt?“

„Es ist ein Secretair, den meine Töchter gemeinschaftlich benutzen, und zu dem jede von ihnen ihren Schlüssel hat. Bitte lieber Henkel, lassen Sie doch einmal Sophie oder Clara einen Augenblick zu uns herüber rufen.“

„Ich habe schon das Mädchen geschickt, eine der jungen Damen ersuchen zu lassen,“ entgegnete der junge Henkel, der indessen im Zimmer umhergegangen war, und sich überall umgesehen hatte, ob nicht vielleicht doch der Dieb irgend eine Spur, irgend ein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich später einmal halten könne. -

„Und vermissen Sie weiter Nichts als das Geld?“ frug der Actuar.

„Auch ein Schmuck meiner ältesten Tochter scheint mit geraubt zu sein,“ sagte Herr Dollinger - „aber da kommt Clara, die Ihnen das Nähere davon selber angeben wird.“

Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach; sie sah todtenbleich und angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen sie zu unterstützen.

„Clara, mein liebes armes Kind,“ sagte Herr Dollinger, auf sie zugehend und die Hand nach ihr ausstreckend, „fehlt Dir etwas? - Der Schreck hat Dich wohl so angegriffen. Mach Dir doch nur keine Sorge, mein Herz; vielleicht bekommen wir Alles wieder und wenn nicht - nun ein Unglück ist es dann auch nicht; wenn Ihr mir nur Alle gesund bleibt, können wir die paar tausend Thaler schon verschmerzen.“

„Es ist nicht der Verlust, lieber Vater,“ sagte aber das junge Mädchen, sich gewaltsam zusammennehmend, und des Vaters Hand ergreifend - „nur die Ueberraschung, der Schreck wahrscheinlich, und das - das Unheimliche dabei, als ich mein Zimmer vorhin betrat, und die Spuren des verübten Verbrechens entdeckte. Ich fürchtete die entsetzlichen Menschen noch irgend wo zu sehn, die vielleicht hinter einer Gardine stehen, unter einem der Divans liegen, hinter einem Ofen lauern konnten und, wenn entdeckt, zu verzweifelter Gegenwehr getrieben mich anfallen würden, und all solch kindische Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm dabei, die hinuntergeworfene Stickerei von dem Secretair selber, am meisten aber der Tabaksgeruch im Zimmer und die verlöschte, angerauchte Cigarre dort auf dem Fensterbret, erfüllten mir das Herz mit einem unbeschreiblichen Grausen.“

„Eine Cigarre?“ sagte Ledermann, sich vergebens nach dem bezeichneten Gegenstand umschauend - „wo lag sie?“

„Dort im Fenster, als ich zurückkam.“

„Die alte angerauchte Cigarre?“ sagte Henkel rasch - „die hab’ ich zum Fenster hinausgeworfen; ich glaubte Einer der Dienerschaft hätte sie in der Aufregung mit hereingebracht und dort abgelegt - sie muß unten auf der Straße liegen.“

„Bitte schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, daß er sie heraufholt,“ sagte der Actuar; „man darf auch das Unbedeutendste nicht unbeachtet lassen, und wir wollen indessen die vermißten Gegenstände aufnehmen. Das Geld?“

„Davon giebt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichniß,“ sagte Herr Dollinger, „aber ich fürchte fast daß wir durch das Geld selber nicht auf die Spur kommen werden, indem das Paket fast nur Gold und kleinere Banknoten enthielt, die leicht umzusetzen und schwer zu controliren sind. Eher hoffe ich durch den Schmuck den Dieb verrathen zu sehn, da einige sehr auffällige Stücke, wie ich höre, dabei gewesen sind.“

„Dürfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute Abend noch, wenn irgend möglich schriftlich bitten?“ erwiderte, nach einigem Besinnen, der Actuar, „diese Einzelheiten würden mich jetzt zu lange aufhalten.“

„Kannst Du das geben, Clara?

„Bis auf die kleinste Nadel hinunter,“ sagte das junge Mädchen rasch, „besonders auffällig war eine kleine, rundum mit Brillanten besetzte Broche, ein Erbstück unserer Großmutter, und ausgezeichnet vor jedem andern Schmuck, den ich noch in meinem ganzen Leben gesehen, durch einen, in der Mitte gefaßten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen Turquis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den aber muß der Dieb in der Eile übersehen haben; er ist unangerührt geblieben.“

„Das ist allerdings glücklich,“ sagte der Actuar, „wäre wohl auch des Mitnehmens werth gewesen. Lag gleich dabei?“

„Hier in dem rothen Kästchen.“

„Aber das ist auch geöffnet worden.“

„Das? - nein, das hab ich wohl selbst geöffnet, nachzusehen, ob auch Alles darin sei, und nicht wieder ordentlich geschlossen. Die Haken waren allerdings auf, wenn ich mich nicht ganz irre, aber der Dieb hat keinenfalls eine Ahnung gehabt, welchen Werth das kleine unscheinbare Kästchen enthalte, oder es stände jetzt nicht mehr da.“

„Sehr wahrscheinlich, hm - aber Sie vergeben wohl nicht, mein Fräulein, alle diese Einzelheiten besonders zu notiren; wer weiß ob sie nicht noch einmal wichtig werden. Ah, da kommt auch Herr Henkel wieder; haben Sie die Cigarre gefunden?“

„Gott weiß wo sie ist;“ lachte dieser, „irgend Jemand muß es doch noch der Mühe werth gehalten haben sie aufzuheben, und in einer Pfeife vielleicht zu verrauchen - ich bin selber hinunter gegangen, kann sie aber nirgends mehr entdecken. Uebrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde morgen ganz früh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen freilich nicht viel helfen.“

„Man weiß nicht,“ sagte der Actuar kopfschüttelnd, „je nach der Güte des Tabaks ließ sich vielleicht auf die Schicht der menschlichen Gesellschaft schließen, in der sich unser heimlicher Besuch herumtriebe. Aber das ist allerdings Nebensache; wo also ist der Dieb hereingekommen? - hier durch diese Thür?“

„Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Euers Schlafzimmers,“ sagte Herr Dollinger, „denn durch das Haus würde er es sich am hellen Tage im Leben nicht getraut haben.“

„Aber ich möchte meine Seligkeit zum Pfande setzen daß ich den Schlüssel, der nach unserer Schlafkammer führt, ehe wir fortgingen, herumgedreht und stecken gelassen hätte, so daß von innen ein Oeffnen unmöglich war.“

„Und war die Thür noch verschlossen wie wir zurückkamen?“

„Nein, nur in’s Schloß gedrückt, aber der Schlüssel stak darin.“

„Hm, hm, hm - dann ist der Bursche dort wahrscheinlich hinaus“ - sagte der Actuar - „zur Thür hier hereingekommen und dort zur Nothröhre hinaus - hm, muß aber genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf in’s Gebet nehmen müssen, denn ein ganz Fremder, kann sich die Zeit nicht so abgepaßt haben.“

„Wo kommt der Blumenstock her?“ sagte da plötzlich Clara rasch und erstaunt, auf einen sehr schönen Rosenstock deutend, der in ihrem Fenster, zunächst der Thüre stand - „wer hat den jetzt hier heraufgestellt?“

„So lange wir hier sind Niemand“ - rief Henkel - „war er vorher nicht da?“

„Nicht heute Mittag, das weiß ich gewiß; aber vielleicht hat ihn eins der Dienstleute mir heimlich hier hereingesetzt.“

„Heimlich? - so?“ sagte der Actuar, „den freundlichen Geber wollen wir also vor allen Dingen einmal herauszubekommen suchen.“

„Es ist heute mein Geburtstag,“ sagte Clara leise und erröthend.“

„Oh?“ meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen Lächeln, „da thut es mir freilich leid, meine ganz ergebensten Gratulationen zu keiner angenehmeren Zeit vorbringen zu können - will eben nicht passen bei einer solchen Untersuchung, kann es aber doch auch nicht geradezu hinunterschlucken - ich gratulire eben nicht zur Untersuchung.“

„Es muß gewiß ein gesegnetes Land sein,“ sagte Henkel mit einem leisen, halb boshaften Lächeln, „wo die Polizei sogar witzig sein kann.“

„Hm,“ meinte der lange Aktuar, sich nach dem Sprecher umdrehend, „die Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, und ist das meistens Privateigenthum. Aber wir wollen die Zeit nicht mit Allotrien vergeuden; ist nicht herauszubekommen wer den Blumenstock hier, während Ihrer Abwesenheit in das Zimmer gesetzt hat?“

„Jedenfalls müssen die Dienstboten darum wissen,“ sagte der junge Henkel, „und es wird das Beste sein sie einzeln darum zu befragen.“

„Allerdings; - Einzelverhör hat überhaupt viele Vortheile, bitte schicken Sie einmal die Leute herauf, daß man vor allen Dingen ihre Gesichter zu sehen bekommt.“

„Aber nicht hier, Väterchen, nicht wahr nicht hier in meiner Stube?“ bat Clara - „ich würde den fatalen Gedanken im Leben nicht wieder los.“

„Wir wollen hinuntergehn in das untere Zimmer,“ sagte Herr Dollinger, freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend, „es läßt sich das dort eben so gut abmachen als hier.“

„Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste,“ warf der Actuar ein, „aber wie Sie wünschen - nur um eines möchte ich Sie noch vorher bitten, daß ich mir einmal die Stelle oder das Fenster ansehn darf, durch das sich Ihrer Vermuthung nach, der oder die Diebe entfernt haben könnten.“

„In unserem Schlafzimmer?“

„Doch durch diese Thür?“

„Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, meine Leute unten zusammenzurufen; wir kommen gleich hinunter. Sie werden heut viel belästigt.“

„Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger,“ sagte der junge Mann, rasch seinen Hut aufgreifend, „wenn ich Ihnen nur darin von irgend einem wirklichen Nutzen sein könnte. Lieber erlauben Sie mir vielleicht mit Ihnen einer möglichen Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin vielleicht schärfer als manche andere.“

„Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu spüren geben,“ meinte indeß der Actuar; „das werden wir uns müssen auf morgen früh aufsparen - also jetzt noch das Fenster, wenn ich bitten darf - ich möchte mir nur die Gelegenheit einmal von oben besehn.“

Clara selber öffnete die Thür und führte dem Actuar mit ihrem Vater in das kleine freundliche Gemach, dessen beide, schon von Blätter schießenden Weinranken überzogene Fenster, auf den Garten hinaussahen. Das eine Fenster war allerdings geöffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht zusammengezogen, daß sich ein Körper kaum hätte hindurchzwingen können. Die Höhe nach dem Garten hinunter, und gerade unter dem Fenster sollte ein kleiner Rasenplatz sein, war eben nicht beträchtlich, vielleicht zehn oder zwölf Fuß, und unten umgab niederer aber ziemlich dichter Hollunder den Rasen. Im Zimmer selber ließ sich aber nicht das mindeste erkennen, das einen solchen Verdacht unterstützt hätte; das Einzige was dafür sprach, war die aufgeschlossene Thür.

Zu der Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute versammelt worden, streng examinirt zu werden. Der Hausmagd vor allen andern lag die Pflicht ob, die Etage, wenn sie nach unten in die Küche ging, in Abwesenheit der Herrschaft verschlossen zu halten. Diese aber behauptete steif und fest, und weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen an, daß sie die Vorsaalthür auch ordentlich, „zweimal herum“ abgeschlossen und den Schlüssel zu sich gesteckt hätte, und Niemanden in der weiten Gotteswelt gesehen habe, der das Haus in der Zeit betreten haben könne. Trotzdem aber sei die Vorsaalthür, als sie wieder nach oben gekommen offen, wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen, und sie hätte selber im Anfang nicht begreifen können wie das möglich wäre, aber auch nicht weiter darüber nachgedacht, und es ihrer eigenen Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt der Herrschaft sei sie aber nur eine ganz ganz kurze Zeit unten geblieben um - sie wollte erst nicht mit der Sprache heraus, aber der Herr Actuar drängte gar so sehr - um den jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehn. Nachher mochte sie vielleicht noch zehn Minuten der Köchin geholfen haben, und war dann nicht wieder von dem Vorsaal oben fortgekommen, auf dessen Balkon sie gesessen und genäht hatte. In der Zeit habe Niemand mehr den Vorsaal oder des Fräuleins Zimmer betreten, darauf wolle sie das heilige Abendmahl nehmen, und der Diebstahl müsse jedenfalls in den paar Minuten, die zwischen dem Fortreiten des jungen Herrn und ihrem eigenen Wiederhinaufgehn nach oben gelegen hätten, verübt sein - anders war es nicht möglich.

„Wer aber hatte den Blumenstock in des Fräuleins Zimmer gestellt?“

„Einen Blumenstock? - während die Herrschaft fort war?“

„Allerdings, eine Monatsrose - in das Fenster nächst der Thür.“

„Der das gethan hat, müsse damit zum Fenster, oder in derselben Zeit mit einem Nachschlüssel zur Thür hereingekommen sein, als der Diebstahl verübt worden, denn sie hätte keine Seele im Haus gesehn.

Die Dienstboten hatten indessen mit einander geflüstert, als der Actuar das Wort nahm und mit langsam bedächtiger, aber ziemlich ernster Stimme sagte:

„Hört einmal Leute, ich will Euch etwas sagen; Ihr habt Euch da gut unschuldig stellen, als ob Ihr eben erst auf die Welt gekommen wärt, damit dringt Ihr aber nicht durch. Das Geld ist fort - Ihr seid die Einzigen die unter der Zeit im Haus waren, und Euere Pflicht wäre es gewesen-„

„Aber Herr Actuarius“

„Ruhe da, wenn ich Euch etwas mitzutheilen habe - und Euere Pflicht wäre es gewesen, sag’ ich, aufzupassen, daß niemand Fremdes den Platz betrat, der Euch anvertraut war, und für den Ihr also auch in der Zeit zu stehn hattet. Jemand ist aber in der Zeit da gewesen, und hat etwas gebracht und etwas geholt, und man wird sich jetzt an Euch halten müssen, bis der Jemand ausfindig gemacht ist. Was giebt’s da hinten - was ist gekommen?“

„Dullmanns Rieke von über dem Weg drüben,“ sagte die Köchin jetzt, gegen den Actuar vortretend, „will den Loßenwerder haben heimlich aus dem Haus schleichen sehn. Da haben Sie einen; uns brauchen Sie so etwas nicht unter die Nase zu reiben, Herr Actuar - wir sind ehrliche Dienstboten die sich ihr bischen Brot sauer genug im Schweiße ihres Angesichts“

„Ach halt’ sie das Maul,“ fiel ihr aber der Actuar etwas unsanft in die Rede - „ wer ist im Haus gewesen, Loßenwerder? - und heimlich hinausgeschlichen? - wer hat ihn gesehn?“

„Hier die Rieke von Dullmann’s“

„Wann war das?“ fragte der Actuar das jetzt vorgeschobene Mädchen, das feuerroth wurde und ihren einen Schürzenzipfel anfing wie einen Plumpsack zusammenzudrehen. Erst ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer Freundinnen im Dollinger’schen Haus, und gewiß nicht in der Absicht die Mittheilung gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor die Polizei gezogen zu werden.

„Nun Mamsell - wie hieß sie? - Rieke? - Wann haben Sie Loßenwerder aus dem Haus kommen sehn, und ist er ruhig hinausgegangen oder geschlichen?“

„Wenn Loßenwerder im Haus war,“ sagte Herr Dollinger ruhig, „so wird er auch ordentlich hinaus gegangen und nicht geschlichen sein; der wäre der Letzte dem ich so etwas zutrauen möchte.“

„Die Rieke behauptet,“ fiel aber hier die Köchin in dem Bewußtsein unrechtlich gekränkten Ehrgefühls rasch ein, „daß sie gar nicht auf ihn geachtet haben würde, wenn er sich nicht so schnell und heimlich, und dicht unter den Fenstern, am Hause hingedrückt hätte. Wer kein böses Gewissen hat, kann gerade und offen gehen.“

„Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal,“ rief der Actuar jetzt ungeduldig werdend - „wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie so lange hinausführen, bis wir Sie wieder brauchen. Hier Mamsell Rieke; wenn Sie sich die Schürze abgedreht haben, dann sein Sie so gut und sagen Sie uns einmal wo und wie Sie den Herrn Loßenwerder gesehen haben.“

„Ich - ich weiß nicht gewiß“ - stammelte das Mädchen verlegen - „aber - aber Loßenwerder kam - bald nachher wie die Herrschaft fortgefahren war-“

„Wie lange nachher?“ frug der Actuar.

„Etwa eine halbe Stunde denk’ ich - vielleicht nicht so lange - kam er viel rascher als es sonst seine Art ist, denn er geht gewöhnlich immer sehr langsam - kam er - kam er aus der Thür heraus, die er geschwind hinter sich zuzog - und dann-“

„Und dann?-“
Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte daß ihn Jemand, der vielleicht von oben heruntersähe, erkennen möchte - hielt er den Kopf nieder und drückte sich - drückte sich dicht am Haus hin, so schnell er konnte die Straße hinunter, und um die Ecke.“

„Und nachher?“ frug der Actuar.

„Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehn,“ sagte die Köchin.

„Ob Sie still sein wird,“ sagte Herr Ledermann jetzt aber wirklich böse gemacht - „Wenzel, wenn mir die Person da jetzt noch einmal das - noch einmal den Mund aufthut, dann wissen Sie was Sie zu thun haben.“

„Sehr wohl, Herr Actuar,“ sagte der Gerichtsdiener.

„Und sind Sie dann nachher nicht herübergekommen und haben das den Leuten im Hause gesagt, was Sie gesehn?“ frug der Actuar.

„Ich habe ja aber Nichts gesehen,“ sagte die Rieke.

„Sie haben doch den Loßenwerder gesehn“ -

„Ja aber der geht doch so oft in das Haus hier herein, und kommt nachher immer wieder heraus.“

Der Actuar warf sich ungeduldig herüber und hinüber und sagte endlich mürrisch:

„Unsinn - baarer Unsinn - aber hatte er denn irgend etwas in der Hand? - trug er etwas?“

„ Trug ? - ja - ja sehn Sie Herr Actuar - das kann ich Sie nicht sagen - das weiß ich nicht.“

„Nun Sie werden doch gesehen haben, ob er irgend ein schweres Paket in der Hand hatte oder nicht.“

„Ja sehn Sie, das weiß ich Sie wahrhaftig nicht, aber ich glaube es fast,“ sagte das Mädchen, „denn ich habe den Herrn Loßenwerder eigentlich noch gar nicht anders gesehn, als daß er irgend ‘was getragen hätte; und wenn’s nur ein paar Briefe gewesen wären, oder ein Regenschirm.“

„Lieber Herr Actuar, ich glaube Sie sind da auf einer falschen Fährte,“ sagte Herr Dollinger jetzt - „man kann einem Menschen allerdings nicht in’s Herz sehen, aber für den Loßenwerder möchte ich fast selber einstehen.“

„Mein bester Herr Dollinger,“ sagte aber der Actuar kopfschüttelnd, „es ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche Sache, und Leute auf die man am allerwenigsten gedacht, von denen man nie das geringste Unrechte vermuthet hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwickelungen vor und - sind schuldig. Ich selber kenne Loßenwerder als einen ordentlichen braven Menschen, und will zu Gott hoffen, daß unser ganzer Verdacht unbegründet ist; das heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und daß ihn Niemand sonst im Haus gesehen hat macht ihn verdächtig. Meine Pflicht ist es wenigstens ihn selbst deshalb zu vernehmen und ich werde jedenfalls noch heute Abend nach ihm schicken müssen - unsere Eisenbahnverbindungen sind jetzt zu schnell, und man darf keiner Menschenseele mehr zwölf Stunden Vorsprung lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehn haben will.“

„Passen Sie auf,“ sagte Herr Dollinger, „der Loßenwerder wird den Blumenstock zum Geburtstag Clara’s oben hinaufgetragen haben, und zum Dank dafür kommt der arme Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen Diebstahls.“

„Wie aber ist er ohne Nachschlüssel in die verschlossene Thür gekommen,“ warf der Actuar ein.

„Hm“ sagte Herr Dollinger, „das weiß ich freilich nicht - nun fragen Sie ihn selber, das wird jedenfalls der kürzeste Weg sein.“

„Um das Verzeichniß der gestohlenen Gegenstände dürfte ich Sie dann vielleicht nachher noch bitten.“

„Meine Tochter wird es gerade jetzt eben schreiben,“ sagte Herr Dollinger, „wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen.“

„Dann dürfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine Wohnung zu schicken,“ meinte der Actuar nach kurzer Ueberlegung, „ich muß vor allen Dingen erst in meine Wohnung und werde dann von da gleich noch einmal in’s Bureau gehen. Wo ist denn der Loßenwerder wohl am leichtesten zu finden?“

„Ich habe eben nach seinem Hause geschickt,“ sagte Herr Dollinger, „aber dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, er ginge manchmal, aber selten, in eine Bierstube an der Ecke der Rößnitzer und Hertzergasse, aber dort war er auch nicht; es ist übrigens an beiden Orten bestellt, ihn gleich, so wie Jemand seiner ansichtig wird, hierherzuschicken.“

„Sehr wohl,“ sagte der Actuar, seine Papiere zusammenpackend, und sie dem Gerichtsdiener übergebend; nach kurzer Begrüßung wollte er sich dann eben entfernen, als er noch einmal in der Thür stehen blieb und, sich scharf auf dem Absatz herumdrehend, fragte:

„A prospos - raucht Loßenwerder?“

„Soviel ich weiß nicht ,“ sagte Herr Dollinger.

„Doch ja, manchmal,“ sagte Einer der Leute - Sonntags nach Tisch z. B. regelmäßig eine Cigarre.“

„Hm, so?“ sagte der Actuar und verließ dann rasch das Zimmer und Haus.

Er hatte übrigens auch alle Ursache sich zu beeilen, denn daheim wartete ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes Unwetter auf ihn, das er mit einer Art von verzweifelten Hoffnung immer noch mit den, dem Gerichtsdiener wieder zu dem Zweck abgenommenen, und geschäftsmäßig unter den Arm geklemmten Streifen Akten abzuleiten gedachte. Jedenfalls mußte ihm der Vorfall im Dollinger’schen Haus, der so viel von seiner Zeit in Anspruch genommen, entschuldigen. Frau Actuar Ledermann aber hatte sich schon den ganzen Nachmittag über, mit immer wachsender Ungeduld, vorgenommen gehabt mit ihrem Gatten gegen Abend einen der vor der Stadt gelegenen Gärten, wo Concert sein sollte, zu besuchen und die Parthie war ihr jetzt - was halfen alle Gründe dagegen - zu Wasser geworden; es verstand sich von selbst daß Actuar Ledermann die Schuld, und deshalb auch die Folgen trug.

Frau Actuar Ledermann hatte sich übrigens vor einigen Tagen, wo sie trotz dem nassen Wetter und allen Vorstellungen ihres Mannes spatzieren gegangen war, furchtbar erkältet, und brachte keinen lauten Ton über die Lippen. Das aber, und daß sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen Kraft ihrer Stimme hinaus gießen konnte über den Gatten, wie sie es - und er auch - gewohnt war, sondern alles das was sie ihm zu sagen hatte - und sie hatte ihm viel zu sagen - heraus flüstern mußte, reizte ihren Zorn nur noch immer mehr.

„Aber liebes Kind, ich versichere Dich,“ sagte der Actuar in einem vergeblichen Versuch den aufsteigenden Sturm zu beschwichtigen, „daß ich mich über anderthalb Stunden bei dem verwünschten Diebstahl im Dollinger’schen Hause aufgehalten habe und-“

„Und ich versichere Dich,“ zischte sie, mit einem Gesicht, dem die Anstrengung die es sie kostete die Worte hörbar zu machen, einen noch viel unfreundlicheren, ja sogar boshaften Ausdruck gab - „daß ich Dich vor anderthalb Stunden schon gerade so erwartet habe wie jetzt, und seit drei Stunden vollkommen angezogen dasitze und auf Dich passe.“

„Aber Du bist ja gar nicht angezogen, beste Therese.“

„Weil ich mich wieder ausgezogen habe,“ rief die Frau - „glaubst Du ich soll mir ein Beispiel an einem liederlichen Menschen nehmen, und bei Nacht und Nebel noch draußen herumstreichen, wie Leute die das Licht zu scheuen haben? - Und dann mit meinem Katharr - daß ich mir den Tag über im warmen Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das fällt Dir nicht ein; aber Nachts, wenn der schädliche Thau niederfällt, der für mich gerade Gift wäre, da möchtest Du mich jetzt wohl noch hinausschleppen nicht wahr? damit ich nur recht schnell unter die Erde käme - o ich armes unglückseliges Weib-“

„Aber Therese Du bist unbillig, ich habe Dir doch angeboten heute Nachmittag mit mir nach dem rothen Drachen hinauszugehn-“

„Weil Du wußtest daß das nichtsnutzige Geschöpf von einer Wäscherin mir mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen würde,“ zischte die Frau.

„Aber Du hast ja noch andere-“

„Am Sonntag zum Skandal der andern Menschen mit einer solchen Fahne zu einem anständigen Vergnügungsort hinausziehn, nicht wahr? - Dir läge natürlich Nichts daran was die Leute über Deine Frau sagten; aber Du bist auch an anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt Deiner Frau einmal ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, und nachher mit ihr zusammen auszugehen, mußt Du natürlich g’rad in’s Wirthshaus laufen, und ein Bischen vor Mitternacht dann wieder zu Hause kommen.“

„Liebes Kind, es ist halb neun Uhr jetzt“ - sagte der Actuar ruhig, „dann aber Therese,“ fuhr er nach kleinem Zögern, mit einer fast gewaltsamen Anstrengung etwas herauszubringen, das er auf dem Herzen hatte, fort - „bist Du theilweise mit selbst Schuld daran, daß ich mir eben außer dem Hause mein Vergnügen suchen muß .“

„Ich?“ wollte die Frau erstaunt rufen, der etwas zu hoch eingesetzte Ton blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, mit der entsprechenden Gesticulation, das zum Höchsten erstaunte Gesicht der Gattin. Dadurch aber vielleicht, und durch die ungewöhnliche, freilich erzwungene Stille, etwas muthiger gemacht, fuhr er entschlossen fort:

„Ja liebes Kind, Du; denn anstatt Deinem Mann, wenn er von seinen Berufsgeschäften ermüdet zu Hause kommt den Aufenthalt daheim zu einem freundlichen zu machen, in dem er gerne bleibt, läßt Dich Dein unglückseliges, heftiges Temperament nicht ruhen noch rasten, sondern Du mußt irgend eine Gelegenheit vom Zaune brechen mit mir zu zanken. Gebricht es Dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in höchst seltenen Fällen zu sein scheint, so bist Du mürrisch und verschlossen, machst ihm ein finsteres, verdrießliches Gesicht, und sprichst kein Wort.“

Sprachlos nur vor Zorn und Staunen über die unerhörte, bodenlose Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute so redseligen Gatten (der aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen wagte, sondern bald die rechte, bald die linke Ecke der Stube mit den Augen suchte) angesehn. Es war eine allerdings noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, die Frau Actuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens stark markirten Backenknochen und durchdringend scharfen, wenn auch kleinen lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und um den Mund in vielen kleinen Fältchen, zusammengezogen, das Kinn jedoch etwas zurückstehend, was ihr ein besonderes, und nicht eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem Anzug ließ sie sich zuviel gehn; der Zauber reinlicher Kleidung fehlte ihr, der selbst der ärmlichsten Tracht etwas Nettes, Freundliches giebt; die Krause die das oben am Hals dicht anschließende Kleid einfaßte, war schon mehrere Tage getragen und verdrückt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren längeren Dienstes, und die Haube saß ihr verschoben und zu viel zurückgedrängt auf dem, nicht überreich mit Haaren bedeckten Scheitel. Frau Actuar Ledermann war nicht hübsch, und der Affect der ihre Züge in diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, nahm ihnen leider auch die letzte Spur sanfter Weiblichkeit, die sonst doch wohl noch hie und da darin verborgen lag. Der bis jetzt mehr durch Erstaunen als Mäßigung niedergekämpfte Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand, und während die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit gehört zu machen, ihr Antlitz fast dunkel färbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, den Oberkörper gegen den überrascht einen Schritt zurückweichenden Gatten vorgebeugt:

„Spreche kein Wort, heh ? sagt der Herr? - prahlt da, „wenn er von Berufsgeschäften nach Hause kommt“ - spreche kein Wort? - sitzt in der Kneipe den ganzen gesegneten Nachmittag - im rothen Drachen und das nennt er Berufsgeschäfte; vertrinkt das Geld das wir hier zum nothwendigsten Leben brauchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit vor, die mir der Himmel geschickt hat, oder mein böses Glück, dem ich auch einen solchen Mann verdanke - daß ich kein Wort spreche und verdrießlich bin. Ich soll wohl tanzen ? eh? - wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist vor Jammer und Elend daheim, und wenn ich den ganzen Tag da sitze, und brüte und denke wie wir auskommen wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann soll ich nachher, wenn der gestrenge Herr sein Gesicht zeigt, lachen und vergnügt und lustig sein, nur damit der Haustyrann sich nicht unbehaglich fühlt in seinen vier Wänden.“

Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der Frau, der die übermäßig angestrengte Luftröhre den Dienst versagte, und der Actuar Ledermann nahm still und schweigend, den Moment benutzend, ein Licht von dem kleinen Seitenschrank, zündete es an der Lampe an, und verließ kopfschüttelnd und seufzend das Gemach, sich auf sein eigenes kleines Stübchen zurückzuziehn.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nach Amerika! - Ein Volksbuch - 1. Band