Mutterliebe und Muttersorgen. Der Kampf um das Kind im Leben der Völker

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Dr. Hans Damm, Erscheinungsjahr: 1926

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mutter, Mutterliebe, Fürsorge, Zuneigung, Pflege, Sorgfalt, Liebe,
Dem Europäer des zwanzigsten Jahrhunderts bereitet die Kinderpflege keine große Sorge mehr. Die einen nimmt der Kampf ums Dasein so stark gefangen, dass sie sich ihren Kleinen nur selten widmen können und sie sich selbst überlassen müssen, die anderen, mit Glücksgaben reicher gesegnet, vertrauen vielfach ihr eigen Fleisch und Blut fremden Händen an. Wie arm sind wir doch in der Hast der Jahrzehnte geworden, wieviel Wertvolles wird damit unseren Kindern vorenthalten! In welch glücklicher, beneidenswerter Lage sind dagegen die Volksschichten, die weniger von dem Zeitgetriebe erfasst werden und ihre Lebenskraft und -freude aus uraltem Volkstum schöpfen, in dem sie unbewusst noch wurzeln: ich denke da zunächst an unsere ländliche Bevölkerung und das Kleinbürgertum, vor allen Dingen aber an die Völker niederer Kulturen. Hier finden wir noch mancherlei Sitte und Brauch, die uns grotesk possenhaft anmuten und die wir mitleidig belächeln, ohne zu ahnen, welch tiefes, inniges Lebensgefühl sich darin verbirgt.

**************************************************
Verstehen wir aber den Sinn dieser Lebensäußerungen all der Völker, die wir noch heute gesprächsweise als „Wilde“, „Primitive“, „Naturvölker“ bezeichnen, dann werden wir zugeben müssen, dass sie uns in der Sorge um das Kind in vieler Hinsicht beschämen. Schon vor der Geburt hat die Mutter allerlei Vorschriften und Handlungen zu beachten, die sie und das werdende Kind vor den Gefahren der Umwelt und denen böser Mitmenschen bewahren sollen; diese Fürsorge steigert sich noch, sobald der neue Erdenbürger den ersten Schrei getan hat. Uns ist heute noch der Ausdruck „Wechselbalg“ geläufig. Diese Bezeichnung ist auch unter den Indoeuropäern, Semiten und Uralaltaiern gang und gäbe. Nach russischem Volksglauben vertauscht der Waldgeist „Leschin“ die Kinder der Menschen mit seinen eigenen, man erkennt das daran, dass die Tauschkinder bis zum zwölften Jahr nichts anderes tun als schreien, essen, trinken und schlafen. Haben sie dieses Alter erreicht, so suchen sie in den Wald zu entfliehen. Gelingt ihnen dies nicht, dann werden sie für den Menschen gefährliche Zauberer. Um das eigene Kind vom Waldkobold zurückzuerhalten, lässt man eine heilige Messe lesen; dies ist aber erfolglos, sobald das Kind von den Speisen der Waldgeister gegessen hat. Sofern das Kleinchen aber vom Waldgeist den bangenden Eltern zurückgegeben wird, soll es noch lange Zeit wild und ungebärdig bleiben und sich nur schwer an die Zivilisation gewöhnen können. In Niederschlesien ist es der „Alp“, der das Tauschgeschäft besorgt. Die sorgenden Eltern malen deshalb über Fenster und Türen mit geweihter Kreide drei Kreuze oder legen eine „Kloppe“, einen zum Wäscheklopfen gebrauchten Holzhammer, und einen Besen kreuzweise unters Bett. Im nördlichen Irland sind es die „Feen“, die den Wechselbalg bringen. Ein störrisch-weinerliches Kind, das vordem gesund war, wird deshalb folgendermaßen behandelt: Man gibt dem Kind drei Tropfen vom Saft der Fingerhutblume auf die Zunge und drei Tropfen in jedes Ohr; nunmehr legt man es auf eine Schaufel, hält es darauf fest und schwingt es in der Haustür dreimal hin und her, wobei man spricht: „Bist du ein Feenkind, fort mit dir!“ Sofern dies zutrifft, stirbt es in der folgenden Nacht, andernfalls gesundet es. Auch in Deutschland lebt der Glaube an den Wechselbalg hier und da noch fort. Im Vogtland dürfen ungetaufte Kinder nicht allein bleiben, weil sie sonst vom Wechselbalg geholt werden. Um diesem Unheil vorzubeugen, zeichnet man deshalb mit Kreide einen Strich auf die Fuge zwischen zwei Dielen vor dem Bett der Wöchnerin; der Wechselbalg kann dann nicht darüber.

Als besonders gefahrbringend für das Kind betrachtet man die Zeit bis zur Namengebung oder bis zur Taufe. Es bedarf dann doppelter Vorsicht. So unterhalten die transsylvanischen Zeltzigeuner von der Geburt des Kindes bis zur Taufe vor dem Wohnzelt der Mutter dauernd ein Feuer, um damit die bösen Geister abzuwehren. Bei den Südslawen ist der dritte und siebente Tag für das Neugeborene am gefährlichsten, an diesen Tagen werden deshalb die Nachbarn und guten Bekannten zum Wachdienst ins Haus der Mutter zusammengerufen, wo sie sich unter Singen und Tanzen vergnügen und munter halten.

Noch heutigentags sehen es in Italien manche Mütter nicht gern, wenn die Kinder unter einem Jahr abends über das Aveläuten noch im Freien sind. Schon bei den ersten Glockenschlägen droht den Kleinen Gefahr, man nimmt sie daher sofort der Wärterin ab, lässt sie von einen Mann ins Haus tragen und außerdem noch segnen oder von einer „Hexenbannerin“ besprechen.

Energischer geht der Kalmücke den Feinden eines Lieblings zu Leibe. Mit einem Knüppel bewaffnet, läuft er um eine Behausung, schlägt in der Luft herum, damit Mutter und Kind nicht von gefährlichen Dämonen behelligt werden. Böse Geister gibt es allerorten, so auch in Südborneo. Die dort sesshaften Dajak machen die „Indu rarawi“, ein gespenstisches Weib, für das viele Weinen ihrer Kinderverantwortlich; man opfert ihr deshalb ein Huhn. Weit gefährlicher ist der „Sawan“, denn er bringt den Kleinen Krämpfe; gegen ihn müssen kräftigere Schutzmittel angewendet werden, das Haus der Wöchnerin wird deshalb mit einer von scharfen Dornen besetzten Schlingpflanze umzäunt.

Als beste Sicherung gelten Amulette, die sich Mutter und Kind umhängen, sie wehren die unsichtbaren Geister ab und schützen vor allem gegen den „bösen Blick“ und das „Beschreien“. Bekannte Schutzmittel dagegen sind das Auge und die Hand, letztere in den Ländern romanischer Sprache namentlich in einer besonderen, den Feind bedrohenden Stellung von Zeigefinger und Mittelfinger. Bei vielen persischen Kindern findet man oft an der Mütze eine Kapsel mit einem Schafsauge darin. Die Zigeunerinnen wenden gegen den bösen Blick folgendes kräftiges Mittel an: Sieben Kohlen, sieben Handvoll Mehl, sieben Knollen Knoblauch werden mit Wasser, das in der Pfingstnacht aus dem Fluss geschöpft worden ist, über dem Feuer gekocht. Dabei wird mit einer dreizackigen Rute das Ganze unter Hersagen eines Zauberspruches umgerührt.

Ein weitverbreitetes Mittel gegen den bösen Blick und Beschreien ist Bemalen und Bespucken. Die Perserin bestreicht ihrem Kind teilweise das Gesicht mit „Surmah“, einer schwarzen Farbe, damit es ja nicht das Wohlgefallen anderer Leute erregt. Die Albanier spucken dagegen dem gefährdeten Kind ins Gesicht und rufen: „Pfui, pfui, auf den bösen Schwund!“ Die Furcht vor dem bösen Blick ist auch unter den Naturvölkern weit verbreitet, doch fehlt es an eingehenden Darstellungen. Nicht wenig erstaunt mag der italienische Forschungsreisende d’Albertis gewesen sein, als eines Tages die Bewohner eines Neuguineadorfes zu ihm kamen mit der Bitte, doch ihr Dorf sofort zu verlassen, da ihre Kinder dahinsterben, seit er gekommen sei und sie angeblickt habe. Bei den Macatecaindianern von Südmexiko ist folgendes Mittel üblich: Bei Erkrankung eines Kindes zerschlägt die Mutter auf dem Kopfwirbel ein frisches Ei und fängt den am Kopf herablaufenden Inhalt in einer Kürbisflasche auf. Bemerkt sie im Dotter einen weißen Punkt, dann ist das Kind durch den bösen Blick behext. Die Frau trägt dann rasch sieben verschiedene Kräuter zusammen und reibt das Kind am ganzen Körper damit ein. Kann sie dabei ein Knistern feststellen, so ist das ein gutes Zeichen, denn dann schreien die bösen Geister und verlassen den Körper ihres kleinen Lieblings. Neben diesen rein magischen Maßnahmen wird auch die hygienische Behandlung des Kindes nicht vernachlässigt, wenngleich sie unseren neuzeitlichen Forderungen nicht standhält. Immerhin sind Bäder und Waschungen bei allen Völkern üblich, ihre Art und Anzahl richtet sich dabei ganz nach den Lebensformen des einzelnen Volkes. Die meisten primitiven Völker der Tropen und subtropischen Gebiete in der Südsee wie in Afrika oder Amerika waschen die neugeborenen Kinder einfach im nächsten Bach, auch im Meerwasser, wie es gerade zur Hand ist. Schlimm ergeht es heutzutage noch teilweise dem Erdenbürger im Abendland; man findet das Kind vollkommen in Binden und Tücher eingewickelt, so dass es direkt bewegungsunfähig ist und kaum Atem schöpfen kann. Was hier zu viel, ist bei vielen Naturvölkern zu wenig. Verschiedentlich werden den Kleinen Lendentücher oder Felle umgelegt, in den meisten Fällen fehlen aber auch diese, so dass die Reinlichkeit sehr zu wünschen übriglässt.

Das schwierigste Problem, das in ältester Zeit die Mutter zu lösen hatte, war die Wartung und Unterbringung des Säuglings. Dies war umso schwerer, als die Wirtschaftsführung zu Beginn der Menschheitsgeschichte zumeist auf den Schultern der Frau lag, wie es heute noch bei vielen Naturvölkern der Fall ist. Ammen und Kindermädchen sind auf diesen Kulturstufen etwas gänzlich Unbekanntes, und so ist die Frau gezwungen, den Säugling mit sich herumzuschleppen. Aber wie die Hände zur Arbeit freibehalten? Verschieden genug ist die Lösung des Problems versucht worden. Das Tragen des Kindes auf einem Arm ist nicht allein auf das Abendland beschränkt, sondern kommt (aber nur vereinzelt) auch anderswo auf dem Erdball noch vor: in Japan und China, bei den Lappen und Tschuktschen und, wie unsere Abbildung zeigt, auch in Persien. Es hindert die Frau aber ebenso sehr wie die folgende Tragart, bei der das Kind auf einer Hüfte reitet, so bei den Zigeunern, den Arabern, in West- und Ostafrika, auf Java, den Karolinen, auf Samoa und bei den alten Maya in Yukatan. Weit verbreitet ist dagegen das Tragen der Kinder auf dem Rücken, es lässt der Frau in fast allen Fällen die Hände zur Betätigung frei. Für Afrika ist diese Tragart typisch; die Abbildungen zeigen, welche Unterschiede es auch hierbei noch gibt. Das kleine Negermädchen trägt ihren pausbackigen Bruder in ihrem weiten Lendentuch, während die Negerfrau ihre beiden Arme als Sitz für den weit größeren Burschen hergeben muss, der sich ängstlich an dem Haarputz seiner Mutter anklammert. Mit welcher Sicherheit trägt dagegen die Sudannegerin ihr Kind! Es sitzt auf einem Holzstab, angelehnt an ein Stück Fell, das durch Schulterbänder gehalten wird; eine große Kürbisschale schützt das kleine Köpfchen vor den sengenden Sonnenstrahlen. Anders die Indianerfrau aus Kostarika, die ihr Kind in einem besonderen Traggurt hängen hat. Eine seltenere Tragart ist das Reiten des Kindes auf den Schultern der Mutter, sie wurde bei den Fellachen, den Papua von Neuguinea, in Australien und auch bei einzelnen Indianerstämmen beobachtet. Schweifende Stämme, seien es Viehzüchter oder Jäger, wie zum Beispiel die Renntiernomaden Nordasiens und die Prärieindianer Nordamerikas, haben ihre Säuglinge in feste Traggestelle in Wiegenform geschnürt, wie es die Abbildung von den Lappländern zeigt. So werden die Kleinen auf Tragtiere verpackt und von einem Weide- oder Jagdgrund zum anderen getragen. Der Wind, die Bäume, die Vögel im blauen Äther singen ihnen dabei das Wiegenlied, und Mutterliebe sorgt für sie.

01 Eine Sudannegerin, die ihr Kind auf dem Rücken trägt und es durch eine Kürbisschale gegen die sengenden Sonnenstrahlen schützt. (Wolter)

02 Lappländerfrauen mit eigenartigen Kinderwiegen. (Haeckel)

03 Sechsjähriges Negermädchen als Kinderwärterin (Die Aufnahmen auf dieser Seite stammen von Otto Haeckel, Berlin)

04 Perserin aus dem Mittelstande mit Kind, das am Arm ein Amulett trägt

05 Negerin mit eigenartiger Haartracht, an der sich das Kind festhalten kann

06 Gehübungen eines Kindes der Khond in Vorderindien

07 Indianerfrau aus Mexiko, die ihrem Kind an zwei Stecken das Laufen beibringt

08 Indianerfrau aus Kostarika mit Säugling, der in einem Flechtbeutel getragen wird

01 Eine Sudannegerin, die ihr Kind auf dem Rücken trägt und es durch eine Kürbisschale gegen die sengenden Sonnenstrahlen schützt. (Wolter)

01 Eine Sudannegerin, die ihr Kind auf dem Rücken trägt und es durch eine Kürbisschale gegen die sengenden Sonnenstrahlen schützt. (Wolter)

03 Sechsjähriges Negermädchen als Kinderwärterin (Die Aufnahmen auf dieser Seite stammen von Otto Haeckel, Berlin)

03 Sechsjähriges Negermädchen als Kinderwärterin (Die Aufnahmen auf dieser Seite stammen von Otto Haeckel, Berlin)

04 Perserin aus dem Mittelstande mit Kind, das am Arm ein Amulett trägt

04 Perserin aus dem Mittelstande mit Kind, das am Arm ein Amulett trägt

05 Negerin mit eigenartiger Haartracht, an der sich das Kind festhalten kann

05 Negerin mit eigenartiger Haartracht, an der sich das Kind festhalten kann

06 Gehübungen eines Kindes der Khond in Vorderindien

06 Gehübungen eines Kindes der Khond in Vorderindien

07 Indianerfrau aus Mexiko, die ihrem Kind an zwei Stecken das Laufen beibringt

07 Indianerfrau aus Mexiko, die ihrem Kind an zwei Stecken das Laufen beibringt

08 Indianerfrau aus Kostarika mit Säugling, der in einem Flechtbeutel getragen wird

08 Indianerfrau aus Kostarika mit Säugling, der in einem Flechtbeutel getragen wird