Vierte Fortsetzung

Dieser Siegeszug des Europa-Gedankens ist seit dem Tode Stalins ins Stocken geraten. Viele Europäer sind naiv genug, ein Nachlassen des Sowjetdruckes mit einem Nachlassen der bolschewistischen Gefahr zu verwechseln. Sie glauben, dass sie sich wieder den Luxus nationaler Streitigkeiten leisten dürfen. So ist heute das europäische Einigungswerk von neuem bedroht durch die Kurzsichtigkeit von Politikern, die sich von Tagesereignissen stärker beeindrucken lassen als von den Lehren der Geschichte.

Denn der Tod Stalins hat nichts geändert am russischen Ziel der Weltrevolution. Freilich braucht Moskau eine mehr oder weniger lange Atempause, um die durch den Führerwechsel entstandene Krise zu überwinden. Aber während dieser Monate oder Jahre wird es seine Bemühungen verdoppeln, Europa ohne Krieg zu erobern - genau so wie es China ohne Krieg erobert hat. Zu diesem Zweck wird es alles aufbieten, um den europäischen Zusammenschluss zu verhindern oder hinauszuschieben. Um dieses Ziel zu erreichen, unterstützt es heute überall die nationalistischen Bewegungen, soweit es in ihnen Totengräber der europäischen Einheit und Freiheit wittert.


Die sogenannte Friedensoffensive ist darum eher ein Grund zur Beschleunigung des europäischen Zusammenschlusses statt zu dessen Verzögerung. Europa sollte den Augenblick der Schwäche Moskaus dazu benützen, seinen Zusammenschluss durch ein Verfassungswerk zu krönen und vollendete Tatsachen zu schaffen.

Langwierige Verhandlungen zwischen Moskau und dem Westen stehen bevor, mit dem Ziel, den sogenannten Kalten Krieg durch einen Frieden zu ersetzen. Kein Mensch kann wissen, ob diese Verhandlungen zu einem Ergebnis führen werden oder nicht. Auf keinen Fall darf Europa auf die Befreiung der hundert Millionen Europäer verzichten, die heute als Satelliten zwischen dem Eisernen Vorhang und den Sowjetgrenzen leben. In einer Reihe von Verträgen hat sich Moskau verpflichtet, das Recht dieser Völker auf Selbstbestimmung durch freie Wahlen anzuerkennen: Europa muss darauf bestehen, dass diese Verpflichtung eingehalten wird; und wir Europäer sind dem Präsidenten Eisenhower zu besonderem Dank dafür verpflichtet, dass er die Befreiung Osteuropas ohne Krieg in den Mittelpunkt der amerikanischen Außenpolitik gestellt hat.

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Wenn erst diese entscheidende Streitfrage, die den Westen von Russland trennt, eine gerechte Lösung gefunden hat, ist der Weg offen für ein friedliches Nebeneinanderleben der Sowjet-Union mit dem Abendland - trotz der tiefen kulturellen Gegensätze, die sie trennen. Solange Russland kommunistisch
bleibt und der Westen demokratisch, ist ein solcher Modus vivendi die einzige Alternative zu einem dritten Weltkrieg.

Wir müssen aus der Geschichte lernen: als die Christenheit aufgespalten war in Reformation und Gegenreformation, hielten viele Europäer eine Koexistenz von Katholiken und Protestanten für utopisch; sie waren der Überzeugung, dass ein Religionsfriede nur gesichert werden könnte durch Bekehrung, Ausrottung oder Vertreibung des Gegners. Erst nach hundertfünfzig Jahren blutigster Kämpfe wurden sich beide Parteien darüber klar, dass sie schließlich nebeneinander leben könnten und müssten.

Hoffen wir, dass Europäer und Bolschewiken diesmal schneller lernen werden, trotz des größeren Gegensatzes, der sie trennt, friedlich nebeneinander zu leben! Denn der Erdball wird täglich kleiner und die Notwendigkeit eines friedlichen Zusammenlebens täglich größer.

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Die großen Erfolge Paneuropas seit dem Kriegsende haben die gefährliche Illusion geweckt, dass der Zusammenschluss Europas unaufhaltsam sei und darum keiner weiteren Anstrengung mehr bedürfe.

Diese These beruht auf einem fundamentalen Irrtum. Solange Moskau offene Aggressionspolitik trieb, schien Paneuropa die einzige Möglichkeit, dieser Gefahr zu begegnen.

Heute bieten sich jedoch der neuen Moskauer Außenpolitik eine Reihe von Alternativen. Wenn Paneuropa scheitert, könnte Frankreich wieder seine Sicherheit in seiner traditionellen Bündnispolitik mit Russland suchen, während Deutschland verlockt wäre, zur Rapallo-Politik zurückzugreifen, die 1939 ihren letzten Triumph gefeiert hat. Wir dürfen auch nicht den Plan Präsident Roosevelts vergessen, auf Kosten Europas Russland mit Amerika zu versöhnen. Und schließlich gibt es heute wieder eine starke Bewegung, die den Zusammenschluss Europas verhindern will durch die Schaffung eines Atlantischen Bundes, bestehend aus den Vereinigten Staaten von Amerika und den europäischen Nationalstaaten. Die Verwirklichung dieses Programmes würde die Staaten Europas in Vasallen der übermächtigen amerikanischen Zentralsonne verwandeln. Die Geschichte lehrt, dass Vasallen früher oder später versuchen, sich von der Vorherrschaft zu befreien; dass darum die Völker Europas auf die Dauer nicht zugleich Amerikas Satelliten und Freunde sein könnten. Diese Freundschaft kann nur gesichert werden durch ein Bündnis und herzliches Vertrauensverhältnis zwischen zwei gleichberechtigten Partnern: den Vereinigten Staaten von Amerika und den Vereinigten Staaten von Europa.

Auf dieser Freundschaft zwischen Europa und Amerika ruht nicht nur die Zukunft unserer Zivilisation, sondern auch die Erhaltung des Friedens. Denn nur wenn Europa und Amerika unverbrüchlich zusammenstehen, bilden sie auf absehbare Zeit die stärkste Macht der Welt, die uneinnehmbare Zitadelle menschlicher Freiheit.

Und wie immer auch die Sowjets sich künftig zu Europa stellen, wäre es ein verhängnisvoller Fehler, sich auf bolschewistische Unterschriften und Verträge verlassen zu wollen. Der einzige sichere Garant des Friedens liegt in der Übermacht der friedfertigen Staaten über ihre potentiellen Gegner: in der militärischen und moralischen Überlegenheit des Abendlandes über die Pioniere einer kommunistischen Weltrevolution.

Darum bilden europäische und atlantische Politik keine Gegensätze, sondern Ergänzungen, seitdem sich beide in den Dienst der Freiheit gestellt haben und der Sicherung des Weltfriedens.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mutterland Europa