Erste Fortsetzung

Das Trommelfeuer europäischer Initiativen, das wir erlebt haben, ist die Folge dieser kontinentalen Regierungsaktion. Ohne sie hätte der europäische Zusammenschluss viele Jahre gebraucht. Aber die Raschheit dieser Fortschritte birgt große Gefahren für die Zukunft. Europa einigt sich, ohne dass das Gros der Europäer für diese Einigung reif ist. Europa einigt sich in Staatskanzleien und Parlamenten, aber nicht in den Herzen der Europäer.

Die nationale Einigung Deutschlands, mit der die Paneuropa-Bewegung oft verglichen wird, nahm einen anderen Weg. Hier waren es die Völker, die vorangingen. Unter dem Druck Napoleons wurden sich Hannoveraner und Westfalen, Rheinländer, Preußen, Sachsen, Bayern und Württemberger plötzlich bewusst, dass sie in erster Linie Deutsche waren. Diese Bewegung führte erst zum Zollverein, dann zum Reich. Regierungen und Potentaten folgten nur zögernd dem Einigungswillen des Volkes. Die italienische Einigung geschah auf ähnliche Weise: das Volk ging voran, das Haus Savoyen folgte.


Das Paradoxe an der Einigung Europas ist, dass sie von keiner echten Volksbewegung getragen wird. Die Völker billigen, in ihrer Mehrheit, die Einigungspolitik ihrer Regierungen, ohne sich für sie zu begeistern. Es sind Deutsche, Franzosen und Italiener, die mit Paneuropa sympathisieren - aber keine europäischen Patrioten.

Solange die Europa-Politik, wie dies augenblicklich der Fall ist, allen beteiligten Nationen nur Vorteile bringt, genügt diese Einstellung für den Aufbau der europäischen Föderation. Nur droht dieses Europa ohne Europäer bei der ersten weltpolitischen Krise zusammenzubrechen und sich in seine nationalen Bestandteile aufzulösen: mit oder ohne Bürgerkrieg.

Denn früher oder später muss der Augenblick kommen, wo es notwendig sein wird, nationale Interessen auf dem europäischen Altar zu opfern. Wenn zu jenem Zeitpunkt Europa aus Deutschen, Franzosen und Italienern besteht und nicht aus Europäern deutscher, französischer und italienischer Zunge, wird es ebenso auseinanderbrechen wie einst die Vereinigten Staaten von Amerika, trotz ihrer großartigen Verfassung, als die Sklavenfrage die Lebensinteressen des Südens denen des Nordens entgegenstellte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mutterland Europa