Dritte Fortsetzung

Deutsche sind geneigt, in Nationen Sprachgemeinschaften zu sehen, Franzosen Staatsgemeinschaften. In Wahrheit sind Nationen weder das eine noch das andere, sondern: bewusste Kultur- und Schicksalsgemeinschaften.

Darum ist Europa eine große Nation, gegliedert in Staaten und Sprachgruppen, aber verbunden durch eine gemeinsame Kultur und ein gemeinsames Schicksal.


In den letzten zweitausend Jahren war Europa länger geeinigt als zersplittert: erst durch das Römische Reich, dann durch die Römische Kirche.

Die Hauptquelle des völkischen Nationalismus, der Europa in periodische Kriege gestürzt hat, liegt in einem verfälschten Geschichtsunterricht, der das Trennende betont statt des Einenden; der die Gegensätze zwischen den Europäern unterstreicht und verherrlicht, ihre Kriege und Erbfeindschaften,
ihre Siege und Eroberungen. Statt von der unbestreitbaren Tatsache auszugehen, dass alles, was Europa groß gemacht hat, übernationalen Charakter trug: seine Genies, seine Religion, seine Kunst, seine Wissenschaft, seine Technik. Dass alle entscheidenden Entwicklungen seiner Geschichte übernational waren: vom Römerreich zum Triumph des Christentums; von der Völkerwanderung zur Gotik; von der Cluniazensischen Reform zu den Kreuzzügen; Rittertum und Mönchstum, Kirche und Scholastik; Renaissance und Humanismus, Reformation und Gegenreformation; Absolutismus und Aufklärung; Liberalismus und Sozialismus; Faschismus und Kommunismus.

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Statt aus diesen Tatsachen die logischen Konsequenzen zu ziehen, sucht ein nationalistischer Geschichtsunterricht die Kinder glauben zu machen, dass die völkischen Nationen Träger der Kultur waren und sind; und dass in diesem Kampf der Kulturen die eigene Nation an der Spitze stand und steht. Da diese Lehren den Nationen schmeicheln, werden sie gerne geglaubt. Sie werden zur politischen Weltanschauung der Halbgebildeten aller Staaten, die von den großen Kulturzusammenhängen keine Ahnung haben und darum nur zu leicht Opfer eines gefälschten Geschichtsunterrichtes werden.

Es ist Zeit, diese Halbbildung durch wahre Bildung zu ersetzen: den Schülern von Kindheit auf zu erklären, dass es in Europa keine isolierten Nationalkulturen gibt, sondern nur eine einzige, großartige, europäische Kultur, an deren Aufbau alle Völker unseres Erdteiles teilgenommen haben.

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Diese europäische Kultur wurzelt im griechischen Freiheitsgedanken, in der christlichen Brüderlichkeit und in der Ritterlichkeit. Der Zusammenklang dieser drei Ideale hat unsere europäische Kultur geschaffen. Diese Kultur wird erhalten bleiben, solange sie sich dieses dreifachen Ursprungs bewusst bleibt.

Heute ist die europäische Kultur schwerer bedroht als zu irgendeiner Zeit seit den Tagen Dschingis-Khans.

Diese Bedrohung hat in den letzten Jahren das Tempo der europäischen Einigungsbewegung beschleunigt. Sogar die Nationalisten Europas sind sich plötzlich bewusst geworden, dass die Europäer angesichts dieser Todesgefahr mehr denn je eine Schicksalsgemeinschaft bilden - gezwungen, sich zusammenzuschließen oder unterzugehen. Unter dieser Sowjetdrohung hat der europäische Einigungsgedanke in den letzten sechs Jahren größere Fortschritte gemacht als in den vorhergehenden sechs Jahrhunderten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mutterland Europa