Vier Bilder bunten Lebens

Juden, Christen, Mohammedaner, Buddhisten — alle passierten sie vor uns, wusste der eine noch, was dem anderen ernst ist? In vier Bildern sind sie mir geblieben. InWarschau waren wir Sonntag. Die christliche Stadt war still und die Laden geschlossen, das Ghetto war geschaftig und erregt. Hebraische Schilder, Gewimmel von Kaftanen, Geschlenker vonMadchen, die aus jiidischemHause Arm in Arm in den christlichen Sonntag spazieren gehen. Unter einem Plakat steht ein Jude, steht und steht und wartet auf das Ende. Zusammengebrochen, traurig, verlassen, Sinnbild alles Jammers, so steht erunterm Plakat und wartet. In einer Kasaner Kirche, eng, inKlostermauern, Mauern und Baume ganz eng zusammengebetet, steht ein Pilger, ein junger, schonerMann in braunem Kittel, Bastschuhen, langem blonden Haar, in einer demiitigen und doch selbstbewuBten Stellung. Draufien ist Parade und Geburtstagsfeier fur den Zaren. In der Kirche seitlich singt ein tenoriger Pope vor segensbedurftigenKindern. Der Pilger steht unverwandt mitten in der Kirche, der braune schone junge Mann in der goldenen Kirche, er ruhrt sich nicht, er wird eine Statue werden und unbeirrt

geradeaus blicken auf den Altar, von dem er sein Heil erwartet. Er hat den FuB leicht zuriickgestellt, das Haupt leicht geneigt, mitten in der Kirche, ganz allein. Kasan hat eine Tatarenvorstadt. Sie ist mohammedanisch und die Schilder haben arabische Schrift. Die Fremden kaufen daTatarenstiefel. An der Hauptecke liegt eine Moschee. Es ist Mittagszeit und wir treten zum Gottesdienst ein. Ein Vorbeter kraht den Namen Allahs wie ein Hahn. Die anderen hocken verteilt auf Teppichen im Gebet. Dann stehen sie auf, bilden drei regelmafiige Reihen und vollziehen die Freiubungen, die ihr Ritus ihnen vorschreibt. Sie werfen sich wie gedrillt mit einem Schlage aufs Gesicht. Ich bin oben in der Galerie. Ein Moslem, in fettig bunt gestreiftem Gewande kommtherauf, keuchtvor Atemnot, gibt mir die Hand. Mir, demUnglaubigen, der nicht mal seine Stiefel auszog. Ich denke, es ist das erstemal, dafl so ein Moslem michberuhrt. Ich substituiere ihn sofort einigenKaufmannsfigurenausTausendundeinerNacht.WerweiB, wer diesen da verzauberte im seidig-streifigen


Kleid, gerade diesen, der mir die Hand gibt Schon betet er dieMaueran. Doch dieMoschee ist arm und hohl. Es spinnt sich nicht fort. Die Kalmiicken haben mehrere Niederlassungen in der Nahe von Astrachan mit buddhistischen Tempeln. Eine sehr groBe Pagode steht unmittelbar am Wolgaufer. Ein Kalmiickenbasar liegt bei den Fischereien gegeniiber der Stadt. Eine weniger besuchte Stelle mehr fluBaufwarts liefen wir an. Landungsmoglichkeit gibt es nicht. Wir booteten uber und sprangen auf die Wiese. Die Kalmiicken kamen uns entgegen, bronzene Gestalten, teils typische Ethnologie, teils edlerer Einschlag ins Ephebenhafte. Wir erfrischten uns an der Wiesenluft, am Duft des Griinen, der uns eine Seltenheit war. Drei Baume standen auf der Wiese. Ein Geier schwebte dariiber, nach Sperlingen zu fahnden. Hiitten aus Pelz, Binsen, Mortel gekleistert hoben sich niedrig iiber den Boden, in denen Frauen und Kinder aufbewahrt wurden. Sie konnten erschrecken, sie sollten uns nicht sehen. Jetzt tritt ein gelbgewandeter Priester oder Tempelwarter zu uns, blind, mit un

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endlich gefaltetem langlichem Gesicht, eine asiatische lebende Bronze. Er fiihrt uns auf einen reinlich weiten, ganz leeren Platz, in dessen Mitte die Pagode sich erhebt, im Umkreise die Holzhauschen der begrabenen und der noch tatigen Priester. Alles farbig und hell gegen den Himmel und von einer wohltuenden Gepflegtheit undSauberkeit. Die indische Symbolik in Bau, Gliederung, Oraament steht vor unsin einem provinziellen Abbild, geschandet durch einen elend modemen Eisengitterzaun. Wer hat ihnen dieseTempel gebaut? Wer ihnen dies Gitter dazu geschmuggelt? ImSommer sind sie auf Nomadengeschafte, imWinter versammeln sie sich hier und halten Gottesdienst. Welcher gottesdienstliche Aufwand gegen diese paar elendenWohnhiitten! Der Eindruckuberwaltigt, es ist wie ein Stiiekbesserer Welt, in dieHande dieserKalmiicken gegeben, eine weise Reinlichkeit gegen das Leben, ein Teil keuschester Philosophie, der hier auf dem auBersten Vorposten Indiens nicht verloren ging. Auf diesem Tempelplatze weht uns ein Atem Buddhas an. Der gelbe Mann schheBt

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den Tempel auf. Bis zur Schwelle diirfen wir gehen und sehen die groBe, sehr betrachtliche Buddhafigur umgeben von einer Anzahl hochst dekorativer heiliger Bilder, etwas Wesen von Gauguin und etwas Ziel neuester Stilisierung. Das Opfer fiir Buddha steht bereit. Wir starren nur auf die Bilder, die in unseren Galerien Aufsehen erregen wurden.Wiekommt diesePracht hierher? Die Tur schliefit sich, wir werden zuriickgeleitet. Die Kalmiicken sind von einer naturlichen, angeborenen Hoflichkeit und beschamen manche der neugierigen Besucher durch ihre Zuruckhaltung, die vor jeder fremden Beruhrung zu scheuen scheint. Sie lassen uns gehen. Nur einer ist europareif. Er schaufelt uns Stufen, damit wir ins Boot steigen konnen. Wir verzeihen ihm, da er dabei ein ganzes Stiick seiner kostbaren Erde ins Wasser warf. Als der Dampfer fortfuhr, war es Dammerung. In ihr entfernte sich das Kalmuckendorf wie etwas Unwirkliches. Es schien mir der Hohepunkt der Reise. In niedrigem Kleide war hier ein Gott zu fuhlen gewesen.

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ZEIT ohne Grenzen — das gedehnte Gefiihl der unbegrenzten Zeit kommt uber uns in diesem Lande der groBen Entfernungen, auf diesem groBen Wasser mit dem weiten Horizonte.StundenundStundenliegenwiraufDeck und das Wasser rauscht an uns voriiber, tagelang von einer Stadt zur anderen. Oder dieAbende hullen uns ein, Balalaikagondeln umschwarmen das Schiff, Lieder tonen von den Kahnen, meistmelancholischinMollundvollschleppender Verzierungen, byzantinisch verschnorkelt und gern yon einer goldenen Dominante gehalten.Wolgaliederhort man im Chor und einzeln, „Hinab, unsere KleinMutter Wolga" mit der eigenen russischen Melodie, die schmerzlich den Blick hebt und sich in Trauer auf Akkorde bettet, allerwarts von archaischem dekorativem Schnitt. Die Reise spielt ihre Musik, die Musik der unendlichen Zeit, derWeite und der Ebene, des glasernen hohen Himmels uber griinen und goldenen Kuppeln. Heute und morgen und jedenTag, daB Wochen zu Monaten und Jahren werden. Das Schiff tragt uns durch den Raum, dasHerzweitet sich, dieGedanken flieBen aus,

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wir wissen nichts mehr und lassen uns die Zeit gefallen.

Alle Volker sind wir zusammen. Der beobachtende Deutsche, der kluge Amerikaner, franzosisches Blut und in Rislers Frau die Krone der Pariserin, der russische Geschaftsfreund und die Sangerin aus Petersburg, der jungeKlavierstudent und der Bechsteinvertreter, der ritterliche Ungar und die thronende Moskowiterin — Matrosen singen vor uns ihre Volkslieder, Risler wird zum Akrobaten, unverstandeneToaste werden in russischer Sprache abgefertigt, Gassenhauer fliegen von Kiinstlerhanden uber Klaviere, deren Refrains wir in einer internationalen tierischen Lust losbrullen, Bakchus herrscht, Laune, Unsinn, Tollheit wird Losung, unsere Karikaturen grinsen uns von den Wanden an, briiderlich Uegen wir uns in den Armen, kiissen uns, reden und reden und reden auf RuBlands Zukunft, auf Kultur, auf Musik, auf Welt, Schonheit, Reichtum, Gastfreundschaft, erstickt in Likor, Sekt, Torten, Kaviar, vergessen die Heimat, die Grenze, die Politik, die Gefahr, ahnungslos hingegeben dem

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siiBen Augenblick — was gibt es, was kann es geben?

Nitschewo, sagtderRusse — es liegt nichts daran. Nichts daran, ob jetzt oder spater oder gar nicht. Der Grieche sagt dafur 6iv aber es pafit nicht zu seinem Ideinen Lande, das darauf angewiesen ist, sich zu reiben und zu zunden. Im grofien Rufiland paBt es. Es scheint unmoglich in strenger Zucht zu verwalten, es widerstrebt dem Begriff des Staates. Damals war es das letztemal, daB die unendhche, die wasserplatschernde Zeit anunsvoriiberstrich, soweit in sich, so weit von der Heimat, und alles versank und vergaB sich. Wie lang war eine Sekunde, wie dehnten wir sie aus und sattigten sie mit tiefer Ruhe. Welche Elusion umfing uns von der weiten, weiten Luft RuBlands, der ewigen Ebene, des ewigen Sichgehenlassens, ahnungslos, daB um uns schon die Krafte sich sammelten, Gottes Ruhe fiir eine furchtbare Zeit zu storen. War uns Musik solches Nirwana geworden auf dem stillen Buddhaplatze?

N diese Stelle setze ich das Intermezzo iiber die Briefe van Goghs. Es war die , Lektiire in den stillen Stunden und h das Gesprach mit den Malern. Wir JLbrauchten Erlosung, das Gegenteil von RuBland, das Feurige, Strebende, Ringende, Ereignisvolle. Vielleicht das Antimusikalische. Statt schwebender Schonheit und unorganischer Kultur, die Auseinandersetzung von Mensch und Arbeit, von Erde und Kunst, von Norden und Suden, von Seele und Leben. Wir bildeten uns einen Gegenpol zu unserer Reise: die sozial gebundene Malerei. Ich schrieb das Folgende nieder.

VrANGoghsBriefe an seinenBruderTheo,zwei starke, mit Briefzeichnungen geschmiickte Bande, sind wohl im Fache der Malerei das groBte Briefwerk an eine einzige Adresse, das bisher gedruckt wurde. Diese 1500 Seiten sind an keinem Punkte leer, ein kurzes Leben kocht sichinihnen maBlos aus.Es istnichtnurVincent, der anTheo schreibt, es schreibt der Kiinstler an denKunsthandler, und typische Gegensatze, in

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himmlischer Freundschaft verbunden, stellen sich aufeinander ein. Die Kunst und Phantasie schreibt an die Industrie und denHandel, doch so, daB die Kunst voli organisatorischer Plane undderHandelvoUfeinfuhlendenMiterlebens wird. Ein Netz modemer allgemeinster Interessen, von wundervollen Extremen vertreten, spannt sich iiberwenigeOrteund geringenZeitraum, als iiber die Welt. Dies ist das Einzige, das Erschutternde der Sammlung. Die WitweTheos, der seinemBruderbald in den Tod gefolgt ist,hat in einerEinleitungmit zarter Hand die personlichenUmrisse desLebensbeiderMenschen gezeichnet. Es ist ein ganz kleines und einfaches Leben, durch das Vincent vom Schicksalgefuhrtwird,etwasHolland,England, Belgien und Frankreich, bald zuHause, bald in der Fremde, in derWohnung und imlrrenhaus, wenig Verkehr, meist einfache Leute, einige Frauenenttauschungen und das Zusammenleben mit der schwangerenDirne, die ervon der StraBe aufgelesen hat— aber das Literieurlicht dieses kleinen und engen Lebens ist scharf und brandig, und zwischen dem idyllischen Pre

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digerheim der Eltern und dem bald freiwillig gewahltenlnternat imlrrenhaus, zwischen akademischen Studien und dem gereizten Einsamkeitstaumel seiner eigensinnigen Ateliers schwingen Nervenfaden, die eine Biographie nicht aufwickeln kann. Der Schrei des Menschen ruht hinter diesenTatsachen. In den Briefen lost er sich und, was wir ahnten, erfiillt sich: der Blick in die Holle des Kiinstlertums. Bisweilen decken sich Briefe und Menschen ganz. Liest man Briefe C6zannes, so hat man durchaus den Eindruck logischer Priizision. Liest man Renoir, tritt die Kulturdialektik hervor. Bei Gauguin erscheint ein armer Edelmann. Bei Courbet ein ehrliches, geradliniges Gesicht. Millet ist am ahnlichsten van Gogh, indem er sichimmerbemuhtjdemAdressatenseineBilder nicht als Zufalligkeiten, sondern Notwencligkeiten des inneren Ausdrucks klar zu machen. Aber um wie viel ruhiger ist Millet. Van Gogh ist uberall explosivund dozierendzugleich, von einer ewigen Unruhe, von Eroberungslust getrieben, dasTemperament mit der Disziplin in Ausgleich zu bringen. Diese Briefe an Theo sind

noch heifl von der Arbeit unddemGrubeln,mitunter geben sie zur schnelleren Verstandigung eine Zeichnung, immer sind sie eine Auslosung unfertiger Zustande mit einem eisemen Willen zur Klarheit selbst uber den Irrsinn. Der Urtrieb des Kiinstlers, das sinnlos Schopferische, sucht den Sinn des Lebens und die Kontrolle des Gefuhls. Das Soziale im Kiins tler, bis in seineletzten Unmoglichkeiten, hat sein Wort gefunden. Van Gogh staunt iiber sich : er sieht in sich, unerklarlich, den malenden Arbeiter. Wie ein Arbeiter lebt er, ernahrt er sich, kleidet er sich und malt er. Raffaeli schuf Vorstadte, Carriere soziale

Empfmdungen,MeunierArbeiter.VanGoghist Arbeiter.

Wie der Bauer ackert, so malt er. Er beginnt von vora auf dem nackten Boden. Er malt um des Segens willen. Und er segnet schon in der Arbeit die Menschen, die er bei allem MiBtrauen als Kinder des Schicksals liebt. Zu Menschen, zur Natur, zuKunstlern und zu sich selbst— immer steik er sich sozial, auch in der Einsamkeit eingegliedert, auch im Egoismus gegen das unbeschrankte Recht einer spielenden Phantasie,

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mitempfindend, ja mitleidig bis zu dem EntschluB einer organisierten Hilfe. DerVerkaufsgedanke schlagt gleich in die Idee einer genossenschaftlichen Vereinigung ura. Den Freund Gauguin mochte er zu einem organisierten Mitarbeiter erziehen.Sich selbst setzt er unter einen dauerndenTraining. DieNatur liebt er, j e armer sie ist, und die Mitmenschen, je ungliicklicher sie scheinen. Seine iiberreiche Lektiire gruppiertsichnachsozialerFruchtbarkeit.Dienackte Erde braucht er, um Paradiese aus ihr zu schaffen, deren Erkenntnisbaume keine siindige Frucht mehr tragen.

Das nordische Wesen kompliziert sich durch mancherlei Erfahrungen des Lebens, den Impressionismus in jeder Form, der ihm in Paris naheriickt, und den Siiden, der in Aries iiber ihn hereinbricht. InWahrheit rettete ihn dieser Siiden,nacheinerwunderbarenSchicksalsfugung, vor dem Impressionismus. Er zwang ihn zum Krieg und reizte solcheKrafte in ihm, daB sie von aller Reflexionskunst in die Diktatur des Subjektiven frohlockend sich stiirzten. In dem gelben Hauschen, das er sich daeingerichtethatte,

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ein Arbeiter seiner selbst, mit den gut proletarischenMobeln und der gut proletarischen Gesellschaft, iiberwand er in die Zukunft hinein das Zeitalter der rezeptiven Bildermalerei. Gegenuber diesem immer analytischen und dochbindungssehnsuchtigen, immer erobernden und doch hilfebewuBtenVincent, in dem das Malen zu einer Art sozialen Ausdrucksmittels wird, ohne daB er je imstande ist, die schopferische Kunst wirtschaftlich einzuordnen, gegenuber dieser gewaltigen tragischen Pers6nlichkeitstehtTheo,feinsinnigundweichhandig, ein wirklicher Helfer fur ihn und fur andere, ein taktvoller Besehwichtiger, uneigenniitziger Freund, ein wirklicher, stiller, kluger, bedachtiger Organisator, in dem niemals das Produktive das Ordnende iiberwuchern kann. OhneTheowareVincentdahingeschlagen,ohne VincentTheo leer geblieben. DieBriefe erlosten nicht nur den einen, sondera fullten den anderen: eine Fiigung zwischen Menschengattungen, und darum fur die Ewigkeit geschrieben.

ORA et labora, schreibt er aus Paris 1875. Das orare wird ihm zunachst wichtiger. Er, dessen Jugend in einer schwierigen Mitte zwischen Kunst und Kirche dahinging, findet sich durch die Theologie erst zur Kunst hiniiber. Nachdem er von Goupil entlassen war (er muB in diesem Kunstgeschaft Bekehrungen vorgenommen haben statt Verkaufe), tritt die Predigerneigung, die er zuHauseeingenistethatte, starknach auBen. Sie verwirrt ihn mehr, als daB sie ihn kraftigt. Er schreibt fromme Briefe aus Paris, und in der Wahl seiner Lieblinge im Luxembourg figurieren fromme Bilder. „Suche nach Licht und Freiheit, und vertief e dich nicht allzu sehr im Schlamm der Welt." Damals las er Eliots Scenes of clerical life. Das Leben eines Predigersin derletzten derErzahlungen ergreift ihn: der PredigerlebtemitdenBewohnern einer schmutzigen StraBe. Sein Studierzimmer sah hinaus auf Garten mitKohlstrunken und auf die roten Dacher und rauchenden Schornsteine armer Hauser. Im Alter von 54 Jahren starb er und wurde in einer langwierigen Krankheit gepflegt von einer Frau, die friiher dem Trunk er

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geben war, aber durch ihn fiir ihre Seele Ruhe gefundenhatte.VanGoghkonntebeidieserLektiire nicht wissen, oder ahnte es doch, wie viel davon sein eignes Leben werden sollte. In England bei seinen ersten Predigtversuchen nimmt die theologische Stimmung zu und durchsetzt die Briefe bis zur Bigotterie. Etwas allzu Hingegebenes, fast Schleimiges kommt in ihren Vortrag. Es wird sofort quittiert durch ein kraftiges Gefuhl fiir die eigentiimliche landschaftliche Schdnheit des Nordens, die ihm zu Herzen geht. Die offhen, mit Grasbewachsenen Platze zwischen Hausern und Garten derVorstadte, meistens mit einer Schule oder Kirche oder einem Armenhaus zwischen den Baumen, mit der rot untergehenden Sonne im durchsichtigen Abendnebel (ich zitiere alle solche Beobachtungen) wecken den Sinn fiir das Konstruktive der auBeren Stadtlandschaft, das ihn beschaftigte. „Theo, dein Bruder," schreibt er, „hatvorigenSonntagzumerstenmalgesprochen inGottesHaus,anderStatte,vondergeschrieben steht : an dieser Statte werde ichFrieden geben." Der Text seiner ersten Predigt war: I am a

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stranger on the earth, hide not Thy commandementsfromme.AberdarumwarseinAugenicht blind geblieben gegen den herrlichen Spaziergang nachRichmond an der Themse, in der die groBenKastanien mit ihrerLastvon gelbenBlattern und die hellblaue Luft sich spiegelten, und zwischen den Gipfeln der Baume sah man auf Richmond mit seinen roten Dachern und gardinenlosen Fenstern und griinen Garten, den grauenTurm, die groBe graue Briicke mit den hohen Pappeln, uber welche dieMenschen wie kleine schwarze Figiirchen gingen. Aus Amsterdam, 1878, tonen erst recht manche Briefe als vollkommene Predigten. Das Dogma ist ihm gewiB: es ist ein Gott, der lebt und Er ist mit unsern Eltern und Sein Auge ist auch uber uns, und dieser Gott ist kein anderer als Christus. DieReligion derLiebe wachst inihm: es ist gut, so viel zu lieben, wie man kann ; denn darin liegt die wahreStarke, und werviele liebhat, dertut viel und vermag viel, und was mit Liebe getan wird, das wird gut getan. Die stille und arme Einsamkeit bereitet sich in ihm vor: es ist manchmal gut, viel in die Welt zu gehn und mit den

Menschen zu verkehren — am sichersten aber geht in derWeltundunter Menschen derjenige umher,derlieber stille allein an seiner Arbeit sein und nur sehr wenigFreunde haben mochte. EineLese atisBriefen ist es, die wir, hier und da die buntesten Bliiten pfluckend, zusammenstellen. Wir vergessen leicht, daB es ein Mensch war, der sie ohne jede Offentlichkeit schrieb, vollen Herzens, das er dem Bruder ausschuttet. Rein beruf liches Amt zwang ihn dazu, wohl studierte er daraufhin, aber der Drang des Laienpredigers war starker als die Begutachtung durchTitel undExamen.Den kommendenMaler sehen wir in seiner ersten Jugenddurch seine kleineWelt reisen,trachtig von religiosenBesserungslehren, triefend von Giite undLiebe, sentimental wie ein Sektierer. Verlieren wir das lebendige Bild nicht aus dem Auge, den Mahner und Propheten van Gogh in junglingshaftem Christusgewande. Dem die Natur dienen soli, wie Franziskus von Assisi. Dem sein unbegreiflich reichesWissen in Biichern und Bildern, das aus jeder Zeile quillt, wie Thomas von Aquino nur ein Nebenfach der Bibliothek wird gegen

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das Hauptfach, den Gekreuzigten hinter dem Vorhang. Noch sieht er dieWirklichkeit mittelbar, zwecklich, selbst im Dienste der Literatur: der dauernde Vergleich von Landschaften mit bestehendenBildern ist von jederNaivitat entfernt. Nicht der Sinn herrscht, nur der Geist. „Es beginnt", schreibt er einmal, „bereits zu dammern. BlessedTwilight nannte esDickens, und er hatte recht. Blessed Twilight, wenn zwei oder drei inEinmutigkeitbeieinander sindund als Schriftkundige aus ihrem Schatz alte und neue Dinge hervorbringen. Blessed Twilight, wenn zwei oder drei versammelt sind in Seinem Namen und Er selbst unter ihnen weilt. Und selig war, der um diese Dinge weiB und auch danach handelt. Rembrandt wuBte darum." Aber plotzlich sehen wir ihn auf demBlumenmarkt am Singel stehen, ein Bauer hat Topf e f eil, hinten ist Efeu, dazwischen sitzt ein Madchen („wie Maris es malen wiirde"), so einfach, mit schwarzer Miitze und ein paar lebendigen und freundlichen Augen. Sie saB und strickte. Und derMann weist auf dasTochterchen undsagt: „Sieht es nicht gut aus?" Vincent schreibt es als

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Postskriptum an einen Brief hinzu. Besonders gern beschreibt er Fensteraussichten. Sie sind das taglich Gegebene, das unwillkiirlich ins Auge dringt, sich wiederholt und dadurch belebt und zur Antwort auffordert.Er sieht auf die Werft, mit der kleinen Allee vonPappeln, deren schlankeFormen und diinneZweige sich so fein gegen die Abendluft abheben, und das alte Gebaude des Magazins im Wasser, das still ist wie dasWasserdesaltenTeiches,,,vondemimBuche Jesaias gesprochen wird". So sind in den Briefen aus Amsterdam 1877 die ersten Spuren vonZeichnungen zu entdecken. Aber nicht so sehr unmittelbar nach der Natur, als mittelbar nach der Bibel. Wahrend er das Alte Testament liest und durcharbeitet— „unwillkiirlich, wenn ich so sitze und schreibe, mache ich dann und wann eine kleine Zeichnung, heute morgen zum Beispiel Elias in der Wiiste mit Sturmluft und ein paar Dornstrauchern imVordergrund. Es ist nichts Besonderes, aber es kommt mir manchmal alles so deutMch vor den Geist" ...

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SEINE Missionstatigkeit findet ihren kritischen Punkt in der Bergwerksgegend des Borinage. Er steht der Arbeit und dem Elend Aug in Auge, er spricht zu denen, die aus der Erde das Licht suchen. In derselben Zeit vollziehen sich die groBen Wandlungen in seinem Innern und in seinem Beruf. Es ist die Epoche der chaotischen Aussprachen, besonders reich an weitschweifenden, nach Klarheit drangenden Briefen. Nach dem gewaltigen Briefe, der die Nummeri3o tragt, ist die Entscheidung fur die Malerei gefallen. Die Briefe 156 und 187 sind ahnliche Reservoire einer garenden Zukunft, orientiert durch zwei wichtige Zuneigungen undEntfemungen:Mauve,dermnkunstlerisch fundiert und dann fallen laBt, und die Kusine, die ihn erotisch fesselt, um sich ihm zu versagen. Die Menschenfeindlichkeit, ohne HaB, wachst, er zieht sich auf sich und seine Modelldirne zuriick.

Die Liebe, in unklarer Form, halb Erotik, halb Mitleid, eine erotisch verwirrte Sozialitat, lost langsam die Kirche ab. Er weint und betet um die nackte Wirklichkeit. Zuerst trifrt es ihn aus

dem Auge eines Pferdes, das ihn an ein Blatt der Serie „La vie d'un cheval" noch erinnert: Hinter diesem traurigen Blick eines abgematteten und belasteten Tieres fiihlt er die Auferstehung — E>hatsiedurchseinWortunwiderleglichon c enbart. Hinter dem Tier sieht er den armen, geplagten Menschen. „Und was die Fuhrleute selbst in ihren schmutzigen, schlampigen Kleidern betrifft, so schienen sie fast noch tiefer in Armut versunken und eingewurzelt, als die lange Reihe von Armen, die Meister de Groux auf seiner banc des pauvres gezeichnet hat. Sieh, espacktemichstetsundesistetwasEigenartiges, wenn wir das Bild von unaussprechlicher und unbeschreiblicher Verlassenheit, wenn wir in der Einsamkeit, dem Elend und der Armut etwas wie ein AuBerstes, ein Ende derDingesahen — denn dann steigt in unserem Geiste der Gedanke an Gott auf." Und dies Gefuhl verdichtet sich, wenn er auf die Frau sieht, die arme Frau. DieLiebe istvon allenMachten diemachtigste, sie scheint nur Abhangigkeit, sie ist Freiheit, weckt Arbeit und, indem wir ihre Pflichten erfiillen,tunwirGottesWillen.Die„theologischen

und mystischenTiefsinnigkeiten", zu denen er sichemstverleitenlieB,fallenvonihmab.„Wenn man morgens aufwachtundnichtalleineistund man sieht dann da in der Dammerung ein Mitmenschlein, so macht das dieWelt um sehr viel angenehmer als Erbauungsbiicher und weiBgetiinchte Kirchenmauern, in welche die Pfarrer verliebt sind." In dieser Zeit begegnet ihm die Dirne, und Mitleid lind Liebe schlagen zusammen iiber sie hin. Auch Malerei: denn sie, die er in einem Interieur fand „warm wie ein Bild von Chardin", wird ihm bewuBtesModell. Sie ist, denkt er, eine ouvriere, er ein ouvrier. Er kannTheo nicht genug von diesem Zusammenleben schwarmen. Seitenlange Betrachtungen iiber den Edelsinn dieser Tat. Wie er ihre HaBlichkeit versteht und braucht. Wie elend gliicklich er mit ihr haust: ?Ich verlange nichts,keine alte Tasse oder auch nur Untertasse, nur ein einziges Ding, daB man mich mein armes, schwaches, gemartertes Frauchen lieben und versorgen lasse so gut, wie meine ArmuteszulaBt,ohne Schritte zu tun, um uns zu trennen." Sie war allein wie ein fortgeworfener Lumpen und er

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hat sie aufgehoben.Und sie ward wie dasLamm, das von seinem Munde aB, aus seinem Becher trankundin seinemSchoBeschlief. IhreNiederkunft wird ihm ein Idyll. Das fremde Kind wird ihm eine Gnade. „Kein mystisches Atelier, sondern eines, welches Wurzel in das volle Leben selbstgeschlagenhat,einAteliermiteinerWiege und einem Kackstuhl." So fuhlt er sich stark im Schwachen und reich im Elenden, in dem, was man in den Runsthandlungen haBlich nannte. „Ich, der ich mich in einem ziemlich gutenRock in einem feinen Laden nicht wohl fuhlte, ich bin ein ganz anderer Mensch, wenn ichirgendwo auf derGeest oderHeide oderindenDiinen in der Arbeit bin. Dann paBt mein haBliches Gesicht und mein verwitterter Rock auch vollkommen zu meinerUmgebung, und ich bin ich selbst und arbeite mitVergniigen." Er wird unausstehlich. Mauve macht ihn nach und sagt : so ein Gesicht schneidest du. Mauve sagt: du hast einen boshaften Charakter, und laBt im stehen, in denDiinen. „Umeszuvergessen,legeichmich in einem leinenen Kittel in den Sand vor eine alteBaumwurzelundmacheeineZeichnungda

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von, rauche meine Pfeife und blicke in die tief e blaueLuft.Dasberuhigtmich.Undebensoruliig fuhle ich mich, wenn Christine oder ihreMutter mir Modell steht und ich die Proportionen berechne und versuche, den Korper mit seinen langen, schwingenden Linien unter denFalten eines schwarzen Kleides fuhlen zu lassen." Inzwischen geht das Predigen in das Zeichnen hinein, das soziale in das egoistischeWirken. Kolorismus, besonders der impressionistische, ist traumerisch, reflexiv, musikalisch. Zeichnen ist wirkenwollend, konstruktiv, dozier end, pr azise. Van Gogh bheb zeichnerisch, auch in der Farbe,daswurdedieAbl6sungdesImpressionismus. Aus Karglichem wachst die stolze Sicherheit seiner Zeichnung. Er beschreibt seinen hungrigen Marsch nach Courrieres, in der Nahe des Ateliers von dem nochumschwarmten Jules Breton. Gegen Zeichnungen tauscht er Brot ein. Fast zu Tode ermattet, hat er doch die Behausungen der Weber gesehen und studiert, die Schober, dieMergelerde, dieStrohdacher. Welches wahnsinnigeFeuer brannte in diesermorderischen Kunstreise. Jetzt reizen ihn die Koh

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lengruben, dieBergleute „von derTiefe des Abgrunds" gegen die somnambulen Weber. Hier und da zeichnet er,Bergwerksdinge,manchmal spat in die Nacht hinein, oder er kopiert Millet. Dieselbe Energie befiehlt ihm, Biicher und Bilder kurzer und intensiver als bisher aufzunehmen. Er packt an. Die Bestellungen auf Papier, Farbe, Geld haufen sich, werden sterotyp. Viel Schreibtischstudium (exercices au fusain von Bargue), aber auch schon strammeres Anlaufen desModells.Funfmal einBauer mit einer Schippe. Scharf ere Skizzen von Landarbeitern begleiten die Briefe, sein eigentiimlicher Sinn fur das konstruktiveLeben des Baumes kiindigt sich an. DerWiderstand belebt ihn: „Die Natur beginnt stets damit, dem Zeichner Widerstand zu leisten,sie ist sicherlichnichtintangible, doeh mari muB sie anpacken, und zwar mit fester Hand. Nachdem man einige Zeit mit der Natur so gerungen hat, beginnt sie nachgiebiger und

gefugiger zu werden "

DerVerkehr mit Mauve zeugt Aquarelle, die erste Freude an Farbe. Theo, ruft er, was fur ein groBes Ding ist doch Ton und Farbe, und wer

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nicht lernt, Gefiihl dafiir zu haben, wie weit wird der vom Leben abbleiben. Aber die Farbe bleibt nebensachlich.Nachdem erVorlagen von Akten merkwiirdig stilisiert hat, wovon S. 290 ein seltsames Beispiel gegeben wird, miiht er sich qualerisch ab, vor der Natur die Einfachheit der Linie, die er kennt, zu finden und zu treffen. Es ist wahres Autodidaktentum. Die Erkenntnis der Armut, als des Ackerbodens, steht ihm fest. Die Liebe zur Kreatur ist nach wie vor seine Triebkraft. Aber der Drang des Produktiven hat die Neigung zum Sozialen gefarbt. Die Sinne uberwinden den Geist. Aber die Sinne haben einen Hunger nach Natur, den seine menschlich begriindete Einsamkeit ihm nicht stillen kann. Er schreit nach dem Akt und dem Modell. Christine gibt ihm nur ein miBverstandenes Grinsen zur Antwort. Die proletarische Disposition und die verschwenderische Schonheit der Kunst haben sich noch nicht ausgeghchen,weilsiezumerstenmalineinemSubjekt sich vereinigen sollen. Die Boheme, als Typ des Kiinstlerlebens, war dagegen eine liignerische Biirgerhchkeit gewesen.

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"r;i Vj IN Schrei nach Abenteuerlichem un| yj * terbricht van Gogh.Wirsind zu erast ff™^ geworden, zu zweckvoll. Auf ein[ ' 1 mal strecken sich alle Finger nach r ,1 -rf' * einem Plakat irgendeines Etablissements irgendeiner, mir ganz entschwundenen Stadt, woTollheiten angekiindigt werden. Die Biicher und Notizen fliegen fort. Man drangt sich zu dem seltenen Vergniigen, es weht heifier Atem, die Augen stieren. Wir werden alle Bruder, Schriftsteller, Musiker, Fabrikanten, Trager — Wunder des Rausches, Trunkenheit des AuBersichseins, Saturnalien derproletarischen Berufe. Exotische Probleme erfullen sich: Optimismus des Martyriums, Jasagen zu Schicksalsschlagen, Psychologie der Technik, Automatie des Mutes, Metaphysik aller keimenden Laster und erotische Rhythmik. Nachdem man sich zuerst in einer Reihe gemischt konvexer und konkaver Spiegel seine Figur zurechtgemacht hat, wobei die Frauen mit Leichtigkeit in recht gesegneteUmstande, die Herren in die entsprechende Marienbader Konstitution zu bringen sind, begibt man sich

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zur Abschreckung an ein Gliicksspiel, das darin besteht, hochzeitlichen Herren den Zylinder vom Kopf zu schmeiBen— eineTatigkeit, die dadurch erschwert ist, daB diePaare im Kreise herum in eine hoffnungsvolleStandesamtstiir marschieren, einige von ihnen miteinerplotzlichen unwilligen Drehung, die man als ein Zeichen derWissenden deuten kann. Ist diese Beschaftigung erledigt,begibt man sichaufeineTreppe, die aber keine gewohnliche Treppe ist, sondern die sonderbare Eigenschaft hat, zu wackeln, rhythmisch elektrisch zu wackeln, teils im ganzen, teils horribile dictu in beiden Beinhalften verschieden, und es kommt nun nicht bloB darauf an, diese Treppe herauf und, was entsetzlich ist, wieder herunter zu gehen, sondern auch das Gelachter der Umstehenden auszuhalten, die aus einem leicht erklarlichen Vergniigen nicht satt werden konnen, in enger Folge Junglinge und Madchen oder solche, die es sein wollen, immer rhythmisch gleich schnell auf und ab b ewegt hintereinander schieben zu sehen. Nicht wahr? Nein, gar nicht, nicht wahr, denn das Schlimmste kommt noch. Das Schhmmste ist

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ein Keri, der aus einem drehbaren Rohr kiinstlichenSturm iiber dieHiite und unter dieRocke derverehrtenAnwesendensendet,wasbeimancher jungen Dame so entziickend wirkt, daC man auf die Idee kommen miiBte, sie dafur anzustellen, nur nicht im zugebundenen Rock. Jetztmale man sich dasBild aus,dasWackelnde, Kletternde undWindige in seinen wechselnden Kombinationen, und man wird in der ganzen Weltliteratur keinen Ausdruck dafur finden, hochstens im Gargantua. Doch ich bin zu faul nachzusehen. Es ist j a auch zwecklos. Ja, das Zwecklose, das ist die Sache. Ein Schiff besteigen, seekrank werden und in Helgoland dann aussteigen und vor Regen nicht aus dem Hause kommen, dashateinenZweck. Aber wie hier seekrank werden und die Quietscher eines marinehaft erregten Madels anhoren, um einfach wieder auszusteigen, sie von einem andern unterhaken zu sehen und den Mantel an der Kasse liegen zu lassen, das ist der Gipfel der Zwecklosigkeit, die Krone des selbstlosen Vergniigens. Noch einmal sitze ich neben ihr im Wackeltopf, sie gibt mir ihreTasche zu halten

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in diesen wahnsinnigen Gefahren einer mit Menschen dichtgemlltenHalbkugel, die durch das unwiderlegte Gravitationsgesetz sich drehend und wirbelnd um ganze Galerien von Barrieren gestoBen in erschopftem Zustande unten ankommt, sie gibt mir ihre Tasche zu halten! Ich dachte mir gleich, das aus Rache in dieser Beschreibung vorzubringen. Aber welchen Zweck hatte es? Das Zwecklose muB an sich bestehen, es schaltet die Logik aus und jedes Gefuhl derVerantwortung. DaB sie mir die Tasche zu halten gab, ist eben eine in ihrer Zwecklosigkeit (denn sie hatte sie ja ihremBegleiter geben konnen) alsDing an sich im platonischen Sinne miBverstandlich begrundete Tatsache auBerhalbjederDiskussion.WoranwederdieWasserrutschbahn noch die Gebirgsbahn etwas andert, weilichbeidemrasendenLaufdererstereniiber einen scharfen Abhang insWasser hineinhinten bespritzt wurde und bei der letzteren die Augen schlieBen muBte, um nicht durch diese unvermittelten Bergabfuhren im Labyrinth der Kurven zu einer weiteren, nach den geltenden Gesetzen der guten Gesellschaft nicht gestatteten

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Kurve veranlaJ3t zu werden. Doch ich habe genug davon.

So bin ich jetzt verzerrt, verwackelt, verschmissen, verschubst, verblasen, verstaut und verliebt geworden, aber das Ende ist nocht nicht abzusehen. Da ist ein Karussell mit viel Elektrizitat und ohne jedeMusik, naturhchmitLuftschiffen — aberwelchenLuftschiffenlMansitztfriedlich in seiner Gondel, das Ding dreht sich, schneller und schneller, die Zentrifugalkraft wirkt, die Gondeln gehen seitlich, in die Hohe, bis 45 Grad ! ManmuBausharren.Daisteinganzgemuthches Haus, man spazierthinein,setztsichauf dieBank und auf einmal dreht sich dasZimmer ohne jede Barmherzigkeit vertikal um einenherum.Man denkt,man dreht sich selber. Ja, so ist dasLeben. Welche Philosophie! Und immer gibt es noch Leute, die die Ansicht verteidigen, da!3 man sich selber dreht. Ich bin jetzt davon geheilt. Wenn aber diese wundervollen Offenbarungen der Zentrifugalund Zentripetalkraft noch einen Rest von Zweifel an der ewigen Gerechtigkeit iibriglassen, so gibt ihm dasTeufelsrad den TodesstoB.DiesesisteineScheibe,diedieMenschen

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wie Kehricht wegfegt, zentrifugal, aber gepolstert. Sie hocken sich zu lieblichen Haufen in der Mitte, die Scheibe rotiert, und einer nach dem andern, manchmal auch mit dem andern oder uber den andern fliegt herunter. Das ist recht. Es gibt besondere Frauenherunterpfefferungen. Das ist recht. Pardon, ich widerrufe mich. EinWeibchen, griinseiden, unten zu, oben Marabu, wartet auf eine Sonderfrauenrotation. Jetzt ist es so weitMit einem reizenden koketten Schritt trippelt sie auf die noch leise bewegte Scheibe, setzt sich in die Mitte, durchbrocheneseideneStrumpfe,ruckt,rutscht,freut sich. Das Schicksal kam.Siebewahrte ihreganze Grazie beim Abschub. Und machte es noch einmal. Solches rotierende jiingste Gericht ist, vom Standpunkt derWissenschaft, der einzige Apparat in diesem Ensemble von Kiinsten, der seine Opferin derBewegungzeigt,in einer individuell verschiedenenundmalerischunerschopflichen Bewegung. Beugen, Krallen,Umarmen, Schleifen, Purzeln, Schieben ist eine Skala von Reaktionen, die sich um so interessantergestalten, je weiter das betreffende Individuum vom Mittel

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punkt der Scheibe entfernt ist.DenMittelpunkt zu gewinnen,gilt es im eiligen Anlauf derHorde, die auf das gegebene Zeichen dieScheibe stiirmt. Ich wiirde sagen, daB Goya diesenSturmauf das Gliick und dessen teuflische Rache in solchen Menschenknaueln hatte malen miissen, wenn ich mich nicht vor Meier-Graefe genierte. Welche Perspektiven. Ausrufungszeichen. Wird uns irgendein Elend des Lebens noch anblasen konnen? Wir lernen es durch die Fortschritte der modernen Technik als reine Emotion iiberwinden. Schon steht ein Katzenjammerhaus da, in dem das Proletariat Sekt trinkt, und bald wird ein Panorama eroffhet, in dem man den Untergang einer Stadt miterlebt. Wir stiirzen uns vier Etagen herunter und werden von einer Feder aus Kruppschem Stahl wieder hochgeschnellt. Wir rutschen die Tabarettawande hinab und ein Panorama fuhrt uns die blumigen Visionen der Abstiirzenden vor. Wir fallen insWasser und das Wasser lauft weg, wir sitzenimRestaurantzumRotenMeer.Ministerwechsel und Geschworenengerichte, religioser Wahnsinn und Sezession, Expressionismus und

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Volkerpsychologie, ungedruckte Dramen, zerbrochene Luftschiffe, verregnete Reisen, verkrachte Opern — was bedeutet das alles? Die Errungenschaften unseres Maschinenzeitalters gestatten, es als zweckloses Spiel zu genieBen. DieeinzigeFolgeisteinKuB.Abernurleise.Denn anderRutschbahnstehtgeschrieben:„Schreien ist polizeilich verboten."

So erwachte ich, uber van Gogh gebeugt. Was war das?

Ahnungen,Abgrunde,Erinnerungen ? t}bermudungen?

Ich schiittelte das Gespenst ab.

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^AN Gogh versucht sich mit derFarbe auseinanderzusetzen. Das Grau X / der Natur verwirrt ihn, er braucht die V Analyse auf Grundfarben. Er bekennt v sich zu den drei Elementen: Rot, Gelb, Blau. Zusammengesetzte Farben seien Bronze, Grun,Violett. DurchBeimischung von Schwarz und WeiB entstehen die grauen Niiancen. So spricht einMethodiker,so verf ahrt einZeichner mitFarben.DieValeursexistierennicht.Beialledem ist ihm die Kontur die Hauptsache. Seine Aquarelle, unter denen ihn eine tote Kopfweide bei einem stillstehenden, mitWasserlinsen bedeckten Tumpel am heftigsten beschaftigt, „stiitzen sich in erster Iinie auf die Zeichnung 44 . EndKch — er empfindet es als groBes Ereignis— operiert er mit Palette und Tuben. Er fiihlt beim Malen, „wie durch die Farbe Dinge bei ihm zumVorschein kommen, die er fruher nicht hatte, Dinge vonBreiteundKraft". Erhebt dennoch die Marderpinsel, welche die eigentlichen Zeichenpinsel seien, um eine Hand, ein Profil, feine Baumzweige „in Farben zu zeichnen". Er ringt auf seine Art mit der Natur.

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„Wie ich es male, weiß ich selbst nicht, ich setze mich mit einem frischen Brett vor den Fleck hin, der mich packt — ich sehe nach dem, was ich vor Augen habe — ich sage mir: aus dem frischen Brett muss etwas werden — ich komme unzufrieden zurück — ich stelle es fort, und wenn ich mich etwas ausgeruht habe, sehe ich mit einer Art Angst danach — dann bleibe ich noch unzufrieden, weil ich die herrliche Natur zu gut in der Erinnerung habe, als dass ich damit zufrieden sein konnte — und doch, ich sehe in meiner Arbeit einen Widerglanz von dem, was mich packte, ich sehe, dass die Natur zu mir gesprochen, dass sie mir etwas erzählt hat, was ich in Sch
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Musik auf der Wolga