Fortsetzung unkorregiert

in Schnellschrift aufgeschrieben habe." Seine Handschrift wird deutMcher, einige herrliche beigegebene Zeichnungen bezeugen es dem Bruder.

Bezeichnend ist, wen er in dem Suchen nach der soliden, festen und charakterisierenden Linie zum Vorbild nimmt, Daumier oder die enghschen Figurenzeichner, wegen ihrer „montagmorgenartigen Niichternheit und gewollten Einfachheit, wegen ihrer Prosa und Analyse,


wegen dieser Dinge, die solid und tiichtig sind, und an denen man einen Halt hat in Tagen, an denen man sich matt fuhlt". Die Analyse der Form iiberstrahlt alles. Wenn er einen Grabenden zeichnen will, der einBein oder einen Arm vordemandemoderdenKopfvornubergebeugt halt, so zeichnet er doch die verdeckten Teile zunachst genau auf undlegtdiegesehenendann erst daruber. Durch die Jahre derBriefeaus dem Borinage, aus Briissel, aus der Heimat Etten, aus dem Haag zieht sich derTriumph desZeichnens uber das Malen. Das Zeichnen ist Malen in SchwarzweiB. Charakter, Struktur, Bewegung der Figuren, sagt er, nimmt seine personliche Empfindung zuerst wahr, und so kommt er zuerst zu einer Zeichnung, in der die Farbe noch nicht mitredet. Er verteidigt sich oft damit gegen die Unverkauflichkeit seiner Studien, die ihm vorgeworfen wird. Ja, dieFarbesiehteralsFolge einer Entkraftung an, die er an sich korperlich beobachtet. „Es ist, als kame ich, wenn ich mich gehen lasse und mit halbgeschlossenem Auge sehe, eher dahin, die Dinge als ein Beieinander von Farbflecken zu sehen, als wenn ich ihnen

scharf auf die Gelenke seheund analysiere, wie sie ineinander sitzen."

Millets Religion der Natur wird ihm in allem jetzt ein starkes Erlebnis, ganz im Verhaltnis seines inneren Sehens zeichnerischer Funktionen imGegensatz zum farblichen Spiel.Er starrt die Kopfweiden an, wie eine Prozession von Waisenmannern, das niedergetretene Gras wie eine Arbeiterbevolkerung, ermudet und bestaubt, erfrorner Wirsingkohl laBt ihm die Erinnerung an eine Gruppe vonFrauen in diinnen Rocken und alten Umschlagetuchern fruh in einem HeiBwasserladen aufsteigen. Die dreiBewegungsstudien zu seinen Kartoffelarbeitern, das Stechen, Ausziehen, Korbwerfen sieht er nicht anders als unter einer „gewissen andachtigenStimmung t '.Es ist da eineStelle, wo eriiber sturmgepeitschte Baume in Holland spricht, in jeder „Figur", er meint in jedem Baume ein Drama. Alberne Pavillons dort, naBgeregnet und verweht,werden Charakter. Ein Gleichnis: der albernsteMensch, vom Schmerz gepeitscht, wird so zum dramatischen Charakter. Die heutige Gesellschaft, gegen das Licht irgendeiner Erneuerung gesehen, hebt sich so wunderbar wie eine groBe, diistere Silhouette ab. „Ja, das Drama des Sturms in der Natur, das Drama des Schmerzes im Leben, das ist fur mich wohl das Beste. EinParadon ist schon, aberGethsemane ist doch schoner."

Der soziale Maler spricht. Uber jedem Holzhauer, Minenarbeiter, Heidebauer liegt ihm die Stimmung: sie sind einer ewigen Heimat nahe. MitdemBibelleser,demTischgebet,daserzeichnet,fuhlt er selbst den Glauben an quelque chose la-haut, ohne sie noch theologisch definieren zu wollen. Gavarni sprach ihm vor : il s'agit de saisir ce qui ne passe pas dans ce qui passe. Aber der Wirkungswille kommt jetzt hinzu. Er neigt zu einer Organisation, die die Blatter uber die Armen den Armen wirklich zufuhrt, daB sie nichtnur iiber die Arbeiter,von einemArbeiter, auch fur Arbeiter gezeichnet sein mochten. Das Predigtbedurfhis iibersetzt sich ganz in die Kunstpropaganda. Einen Saer, einen Maher, einen Torftrager zeichnet er dafiir. Er arbeitet Statuten einer Genossenschaft fur diesen Druck aus, je dreiBig Blatter zu 10—15 Centimes. Gleich

gesinnte sollten sich unter uneigenniitzigsten BedingungenzusammenschlieBen.Wastraumte ernochvomZusammenschluB? Er, der einer vergangenen Generation folgende trauernde Worte nachrief : „Es gab eine Generation von Malern, SchriftsteUem,kurzvonKunstlern, die trotz ihrer Uneinigkeiten etwas Einheitliches hatten und eine Kraft waren. Sie wandelten nicht imDunkeln, sondern hatten dieErleuchtung, so dafi sie wohl wuflten, was sie wollten, undnichtzweifelten.IchsprechevonderZeit,als Corot,Millet,Daubigny,JacqueundBretonjung waren— in Holland Israels, Mauve, Maris usw. Das einestutzte das andere,es war das etwasKraftiges und Edles. Die vollgepfropften Ateliers, die kleineren Schaufenster, der,K6hlerglaube' der Kiinstler, ihreWarme, ihr Feuer, ihre Begeisterung — was waren das fur erhabene Dinge." Die letzte Reinigung geschah durch die Trennung von Christine. Dire Qual nimmt einebreite Stelle in den Briefen ein. Er erkannte sie ziemlich. „Sie ist nicht lieb, sie ist nicht gut, allein ich selbst bin es auch nicht, und doch hingen wir, so wie wir waren, ernstlich aneinander.Ich habe

das Bediirmis nach Arbeit ..." Er erinnert sich uberfliissigerweise, wie George Sand dem reumutigen Musset antwortete: jetzt ist es nicht mehr moglich. Sie hatte eine neue Arbeit begonnen. Noch immer spiegelt erliterarischund kiinstlerisch. Aber nur das Stoffliche wirdVergleich, gegen dasMenschliche ist er ahnungslos. Christinens Abschied hatte ihm darin nichts geholfen. ImmerhinwardasMilieugesaubert. Er stand auf sich selbst.

„Ich gehe also vorwarts als einUnwissender, der dies Eine weiB : innerhalb einiger Jahre muB ich eine gewisse Arbeit vollbringen; zu iibereilen brauche ich mich nicht, denn darin ist keinHeil. Die Welt geht mich nur insoweit etwas an, als ich eine gewisse Schuld und Verpflichtung ihr gegeniiber habe, aus Dankbarkeit — weil ich namlich dreiBig Jahre in der Welt herummarschiert bin— ein bestimmtes Andenken in der Form von Zeichnungen oder Gemalden zu hinterlassen, die ich nicht machte, um diesehi oder jenem damit zu gefallen, sondern um ein aufrichtiges, menschhches Gefuhl darin zum Ausdruck zu bringen. Diese Arbeit also ist das

Ziel — und wenn man sich auf diesen Gedanken konzentriert, daun vereinfacht sich alles Tun und Lassen in derWeise, daB es nun kein Chaos mehr, dafi vielmehr alles, was man tut, eben dasselbe Streben ist."

Die absoluteEhrlichkeit dieser Briefe, je weiter wir in ihnen lesen, wie die seines Wesens, wie die seiner Kunst hat etwas hinreiCend Heroisches. Sind wir nicht meist gewohnt, Briefe von Menschen zu Menschen so zu lesen, dafl sie geschrieben wurden, weil sie nicht gesprochen werden sollten?

EIN, er kommt von Christine nicht los,

JL 1 innerlich nicht. Erstehtzuihr, wie Christus zur Ehebrecherin. Er sagte zu den oberflachhch Gebildeten, denanstandigenLeuten seiner Zeit: die Huren gehen euch voran. So spricht van Gogh gegen die „Gerechten", die ihrer Leidenschaft,mrerWarme,ihrerMenschhchkeit— wie er sie konstruierte— nicht das Wasser reichen durften. Die Proletarierin der Menschlichkeit wachst ihm aus ihr als Ideal. „Frauen wie sie konnen fatal schlecht sein — ich

spreche hier nicht einmal von den Nanas, die vollbliitig und wollustigsind, sondern von denjenigen, die eher ein nervos nachdenkliches Temperament haben — Frauen wie sie rechtfertigen in vollem MaBe den Ausspruch Proudhons: ,La femme estla desolation du juste.' Auf das, was wir la raison nennen, geben sie nichts, sie handeln ihr viehnehr schnurstraks und in frevelhafterWeise entgegen, das weiB ich wohl; andrerseits aber haben sie wiederum jenes echt Menschliche, das macht, daB man nicht ohne sie sein mag oder kann, und das einen fuhlen laBt, daB etwas Gutes in ihnen steckt, und sogar etwas auBerordentlich Gutes, wenn man dies auch nicht anders definieren kann als ein je ne sais quoi, qui fait, qu'on les aime apres tout. Gavarni war ernst, als er sagte: avec chaque, que j'ai quitt6e, j'ai senti quelque chose se mourir en moi. Und das schonste und beste Wort, das ich iiber diese Frauenfrage gehort habe, ist dieses,das du auchkennst: o femme, que j'aurais aim£e, und damit wiinschte man in die Ewigkeit eingehen zu konnen— und nichts anderes als dieses mochte man davon wissen. IchweiB,

daB es Frauen gibt, die, absurd genug— sie tun noch viel mehr Boses als die Manner — ganz und gar von derEhrsucht gelenkt werden; ihr Typus ist Lady Macbeth. Diese Frauen sind verhangnisvoll, und man muB sie meiden, ungeachtet ihrer Reize, oder man wird ein Schurke und steht in kurzer Zeit vor einer entsetzlichen Schuld, die man begangen hat und nie wieder gut machen kann. Doch so etwas war in ihr, mit der ich zusammen war, nicht, obgleich sie eitel war, ebenso wie wir alle es zu gewissen Zeiten sind. Armes, armes, armes Gesch6pf,ist das einzige,was ich am Anfang fiihlte und wasich ebenso am Ende fuhle. Schlecht?— que soit— doch wer in unserer Zeit ist gut? Das sei ferne von mir. Delacroix, sage ich, hatte sie begriffen, und GottesBarmherzigkeitwirdsie,denkeichzuweilen, doch noch besser begreifen." Nun lebt er wie ein Hund. Er fuhlt, die Eltern wollen den zottigen Hund nicht mehr haben. Und er belit so laut. Gut, sagt er, aber das Tier hat eine menschliche Geschichte, eine Menschenseele und eine zartfuhlende, daB es selbst weiB, wie man iiber es denkt. Dein Geld, lieber

Bruder,bleibt steril, wennichkein eigenesHeim habe, es geht dann schlecht vorwarts mit der Kunst. Der Bruder kauft ihm sozusagen seine Produktion durch eineRente ab,er bleibtbissig. Gelegentlichder„Kartoffelesser"erscheinendie ersten Kritiken, er will sie nicht, er fuhlt sich ihnen noch nicht gewachsen. Er malt Kopfeichen mit havannafarbenen Periickeii. Ein Bekannter mochte sie kaufen. Man hangt sie auf, sie stehen gut zur Wand. Und die Folge dieses „Aufleuchtens guten Mutes" ist es, daB er sie ihm schenkt. Der „zarte, melancholischeFiiede dieser Farbenzusammenstellung" hat die Wirkung, daB er nicht verkaufen kannl Und wenn er gar Geld bekommt, ist sein grofiter Hunger, wenn er auch gefastet hat, nicht auf das Essen, sondern noch starker auf dasMalen,dieModelljagd beginnt und das Geld geht damit durch. Fruhstiick bei den Leuten, wo er wohnt, abends Kaffee und Brot in einer Cremerie. Wenn er luxurios sein will, schiebt er noch einmal Kaffee und Brot ein. Sonst hat er ein Roggenbrot im Koffer. Das ist alles.

Er mochte mit einer Brotkruste zehn Jahre lang vor Rembrandts „Judenbraut" sitzen, sie zu studieren und zu genieBen. Nein, er ist noch nicht fertig, Wirkung von Bildern ist noch zu stark. Sie zieht sich durch alle Berichte. Von Liebermann hort er schieferfarbene Eindriicke mit tfbergangen ins Graugelbe undGraubraune. Er beneidet ihn um das „System". Spater in Erregung gegen den abgelehnten Uhde, dessen verwandte christlich-soziale Stoffe ihn reizen, wird ihm das Graumalen als System unertraglich. Uhde hefe die Gefahr der Trockenheit und Korrektheit.Unerhort sind die Eindriicke der Alten in den Museen Amsterdams. Hier gibt es ganze Briefe als Abhandlungen uber Rembrandt und Hals, Analysen derFarbwerte,Theorien des Alla prima und derHellmalerei. Von einer genialen Einseitigkeit. Rubens in Antwerpen wirft ihn um.DieEinfachheitundSicherheitseinerTechnik,dasFlotte,Verlegenheitslosebeschamenihn undtreibenihnzuruckinSchiilerstudien.Dabei iibterdasAugeimBeobachtenaufdaspraziseste. Es gibt Beschreibungen, wie die abendliche HeimkehreinerHerdealsMassevonWollklumpen und Schlamm gesehen, eine visionare Ra

cherung,oderdieAnalysenvonAntwerpensmalerischen Reizen, die die Suggestion von hundert ungemalten Bildern haben. Diese Beschreibungen, mit fruheren verglichen, sind bewuBter, konstruktiver. Wie gewaltig ist das Material der Briefe. Man konnte uber diebloBeEntwickmng seiner Schilderungen allein eine Dissertation schreiben lassen.

In dieser Zeit stoBen alle Gegensatze aufeinander. Die schlichte Frommigkeit der Leute von Barbizon, ihr Puritanertum, ihm heilig, wie das Missionsgefuhl der alten Pilgrim fathers, der Hymnus auf die Heide, das Kartoffelfeld, den Pflug, den Schafhirten, den Sturm, Millet als Vater der Malerei und Fuhrer in allem Menschlichen, Rustikalen, Erdgewachsenen, wie sinkt es dem Lasterer von Paris zu Boden, wenn er die GroBstadtluft von Antwerpen mit hungrigen Sinnen einatmet. Karmin und Kobalt stechen ihn. Aber die SiiBigkeit des fin de siecle umschmeichelt ihn mehr. Die Frauen haben den Reiz der Revolutionszeit, man miiBte retir^ du monde sein, wenn man sieumginge. Lebenslust, Weiberbegierde, Menschenhunger verfuhren

diesen heiligen Antonius. Dann senkt sich wieder dieWolke der Trostlosigkeit uber dieStadt, des heimlichen Elends.Und so schreitet er,Christus im Tempel, seinen altenWeg zu den Menschen. „Mogen die Illusionen schwinden — aber was bleibt ? Das Sublime. Und ichfinde, daB man in Augenblicken, da man um die Natur nichts mehr gibt, noch sehr viel um Menschen gibt." Ein gewisser Abgang von der Natur ist gleichzeitig in seiner kunstlerischen Auffassung zu spiiren. Genie, Inspiration als dunkle Geheimnisse gelten nicht viel, das Wunder ist vorbei, die prachtvollen Gesetze der Farbe sind zu suchen und aufzustellen. Zum ton entier kommt nun der ton rompu. Er lauft ihm fast naturwissenschaftlichnach.DasKontrarebeschaftigt ihn.DieblauenBauerngegenGoldtonedesLaubes, so daB die verschossenenNuancen des Blau sich wieder beleben und starker sprechen. Er iiberwindet es durch Rraftigung des inneren Stils, eines Expressionismus. Abweichungen, Anderungen, Umwandlungen der banalen Wirklichkeit, selbst Liigen sind unter Umstanden wahrer als die buchstablicheWahrheit. Das

Gefuhl derForm entscheidet. DasNeuschaffen ineiner gleichwertigen Farbenskala ersetzt die dumme Nachahmung,Farbe driickt durch sich selbst etwas aus. Schaffen und Dichten! Nicht zu vielnach der Natur studieren! On commence par tuer, on finit par guerir. Der 418. Brief enthalt diese revolutionare Auseinandersetzung mit demNaturalismuSjdieeinehistorischeWichtigkeit beansprucht. Inzwischen, aus dem Gesetz der Widerspriiche, beginnt er in Antwerpen wieder oder erst zu studieren, malt bei Verlat, Schuler neben Schulern, verekelt sich auf der Akademie das offizielleprendre parlecontour: van Gogh zeichnet nach antiken Gipsen. Dieses StuckLeben,beneidenswert inseiner unmusikalischen Zielstrebigkeit, in seinen prazisen Willensexplosionen, feindlich dem Spiel und im Klange ohne Zauber, hat den Rhythmus eines modernen, wolkigen, nassen, blitzenden Gedichts.

N dieser Nacht hatte ich wieder einen Traum.Wenigstenserinnereichmichdeutlich, daB ich in dem engen Bett der kleinen Kabine lange nicht schlafenkonnte, indem ichuberdie,,AbwendungvonderWirklichkeit" und die,,Vitalitat derZukunft"merkwurdigeVorstellungen walzte. Neben mir sprachenFranzosenundRussensehrheftigbisgegen die dritte Stunde. Endlich schlummerte ich und sah hinter den verschlossenen Augen, die von einer gewissen Angst derwestlichenZivilisation beschattet waren, in Umrissen eine Vision, die ich mir spater in folgender Art deutete. Damals im Sommer 1914 strahlte der Strand des russischen Seebades von freudigen Menschen. Die Welt war weiB, weiB der Sand, weiB das Wasser,weiB dieKleider,weiB derHimmeLEine weiBeFlamme von Jubel undGluckloderte auf. Auf einmal fiel der Schrecken herab. DasWort Krieg wurde zugeworfen. Die Manner schrien es den Frauen hinauf, die auf dem Balkon warteten, die Sohne stiirzten zur Mutter hinein und sie horte auf, Klavier zu spielen. Der Sanger fiel dem alten Vater um den Hals, dem alten guten

judischenVater,dersichamRuhmseinesSohnes sonnte, imKreise der groBen, dankbarenFamilie. Josef hat in der Synagoge gesungen als Kind, wie hundert Kinder. Die Welt hatte ihn entdeckt, diese heimliche, vergrabene, schwermiitige Stimme herausgeholt auf ihre weite Flache. Er war einWeltsanger geworden, rund um die Erde herum, zu Hause auf Ozeandampfern und Luxusziigen, lachelnd seine Kunst in die tausendkopfige Menge streuend. Doch er war nicht eitel und hochmutig geworden. Das heimatliche Herz saB ihm fest. Der Geruch des guten jiidischen Hauses blieb in seiner Erinnerung. Er hielt einenWinkel seines Gemiites frei fur die Dankbarkeit an seine Jugend. Sie war Wurzel, Echtheit, Wahrheit gegen die Blendungen desBerufes. „Vater,es dauert nicht allzu lange. Ich komme heut noch uber die Grenze. Ich muB ins Freie. Ich darf nicht verdorren. Die Welt wartet.Vielleicht Amerika. Leb wohl, Vater, wir sehen uns wieder." DerVater sendet ihm einen langen traurigen Blick nach. Der Sanger verschwindet mit dem angstlich abdampfenden Zuge. DerVater mit der alten Mutter, mit

den guten Kindern packt die Sachen und, zu einem treuen schwarzen Haufen zusammengeballt, rollen sie in die Stadt. Tranen sind ihre Spur. Der Krieg stampfte sich dazwischen. Der Krieg nahm die beiden Lander in die Hand und riB sie durch. Hiiben und druben, einst durchsuBe Faden verbunden, wuBte mannichts mehr voneinander. Wenn sie sich traf en, war es, um sich zu toten. Der Abgrund des Todes klaffte zwischen den Landern. Nur iiber ihn heriiber zu denken, krampfte das Herz. Mein armer, alter Vater, denkt der Sanger, wo bist dujetzt? BistduzuHause,indeinerkleinen Wohnung, bist du geflohen in unwirtsame, fremde, kalte Gegenden? Sind die Bruder und Schwestern und die Kinder bei dir, seid ihr getrennt, und iiberlebt die arme Mutter dieses Elend?Jahresindvergangen,ichhabedichnicht mehr. Ich bin getragen von der groBen Woge des Erfolges und singe Herrlichkeiten vor den traurigen Sinnen der Menschen. Mitten in einem Liede fallt mir dein armes Gesicht vor die Augen. Ich mochte verschwenden an dich, den kleinenVater in der kleinen Stadt. Ich will

versuchen, irgendwie auf Umwegen giitiger Freunde zu horen, ob du lebst, wie du bist, will dir sagen lassen, daB ich an dich denke, daB ich warte, daB ich hoffe.

Mein groBer Sohn, denkt derVater driiben, was mag aus dir geworden sein. Meine Sonne ist untergegangen, mein Himmel ist schwer und vollerWolken.LiebtdichnochdasVolk,dassich feindlich nennen muB,liebt dichdeinFiirst und alle die Reichen, die dir ihre Arme offneten? Du bist unter Feinden und derNeid wird dir nachstellen. Haben sie dich ergriffen und gepeinigt? HabensiedenRuhmumdeinHauptzerschlagen und seine Stiicke dir vor dieFuBe geworfen? Du Unschuldiger, Freund unter Feinden, Treuer, PflichtbewuBter. Blieben sie Freunde, wurden sie Feinde? Was ist mit dir? Wo lebst du, atmest du, hungerst du? Horte ich nur ein Teilchen deiner Stimme, der gesegneten, der guten Josefstimme. Herr, gib mir ein Zeichen. Da ertonten die Geschutze des Feindes vor der Stadt des Vaters und sie fiel in seine Hande. Eines Abends fahrt der Sanger mit seiner Frau in seine Heimat, endlich die Eltera zu sehen.

Wird er sie gesund finden in der alten Wohnung seiner Jugend, leben sie, warten sie auf ihn? Er legt an diesem Abend allen Ruhm und allen Glanz der groBenWelt ab,um noch einmalganz Sohn werden zu diirfen. Der Krieg hat ihm die Halfte derWelt genommen, in seinen besten Jahren ihn auf einen kleinen Kreis beschrankt, seine Kunst, wenn auch nicht ihn selbst, interniert und nur zu winzigen Spaziergangen frei gegeben. Was ist ihm dieser Verlust gegen die Hoffnung,denVaternichtzuverlieren.DerKern seiner eigensten und wahrstenNatur schalt sich los. Er macht sich ganz niedrig, ganz einfach, ganz klein, um wurdig zu sein. Er betet die alten Hausgebete.

Die Stadt ist erreicht. Kaum zu erkennen. Wo ist die HauptstraBe? Ach hier, sie hat ihr Haupt verloren. Bretterzaune, zerschossene Hauser, Absperrungen, Finsternis, Schnee, Polizeistunde, Belagerungszustand. Wo ist derVater? SaB er inmitten dieser Zerstorungen und Wirrsale unbekummert uber seiner heiligenSchrift? Hat er sich dem Elend unterworfen, oder blieb er unzerstort?

Wir fahren zuerst zur Schwester, sagt er. Anna, ich bin es, Josef . Mach Licht, ich sehe dich nicht, ich bin Josef, habt ihr das Telegramm nicht bekommen? Kein Telegramm ist angekommen. Sie umarmen sichstumm. Der Schlitten wartet unten, gib mir Martha mit, wir werden jetzt zu denEltern fahren. Sie wissen nichts. Wir diirfen Sie nicht erschrecken, Martha muB voraus. Durch finstere StraBen geht es hin. Das Herz klopft. Die Schellen wollen Jugend und Erinnerung lauten. Sie klingen zerbrochen. War es so weit? Der Sanger denkt plotzlich an die Osterszene aus der „Judin". Wie kommt sie ihm geradejetztindenKopf?Ersummtleise.Endhch! GroBvater, GroBvater, horst du? Was ist, mein Kind?

Ich bin Martha, mach auf, GroBvater, Josef hat ein Telegramm geschickt. Josef? Ach,meinGott,erkommtdoch,erkommt doch.

Er ist auch schon selber da, GroBvater. Und der Sanger tritt in das Zimmer durch die dunkle Tur. Der Vater sitzt bei einer Kerze an dem kleinen Tisch. Er liest das heihge Buch. Die

Mutter ist schlafen gegangen. In dem weifien Haar duldet ein verharmtes Gesicht und zwei Augen fallen miide herab. Er steht auf , halt sich an die Tischkante und bricht in ein bitterliches Weinen aus. Der Sohn sinkt nieder. Langehort man nichts wie Schluchzen. Mittenin dem grausen Elend des Krieges waren zwei Seelen, durch die Welt getrennt, wieder zusammengeflossen. Zwei Herzen zitterten in ihrer menschlichen Triibsal,zwei einfache,kleine treue Herzen mitten im Gewuhl der wahnsinnigen Welt. Und nichts unterschied mehr den ruhmvollenKonig der Kunst und den schlichten, gedriickten, armen Juden. DreiTage und drei Nachte wahrte die Erlaubnis und so lange haben sie zusammen geredet und sich das Leid von den Herzen gewalzt. _ jncENT ist mit Theo 1886-88 in

/ Paris zusammen. Die Briefe pausie / ren, eine Wandlung ist eingetreten. y DieBriefe aus Aries zeigen einen neuen, V wenigstens einen reiferen und geschlossenerenMenschen.In Aries, inderBezwingung des siidlichen Klimas durch den nordischen Kiinstler, findet seine Malerei die letzte Formel : die Analyse der Natur wird durch eine starke, selbstandige Farbensprache quittiert, das Konstruktive der Zeichnung geht restlos in den malerischenVortrag auf, mit einer heifien undbrutalenKraftwerdendieDingepositiv,groBziigig, monumental, bis ins Dekorative gesteigert, in der schonungslosen Plastik einer inneren Vorstellung, ein eindeutiger Aufbau derBlume, der Natur, des Menschen aus den gierigen Sinnen der Kunst hingesetzt, in unerhortemMafie vital, aktiv.

Auf einmal spielen dielmpressionisten, Seurat, Signac ihre Rolle in den Briefen. Er liest von einem Impressionistenhause, aus violetten Flaschenboden, aus schwarzen undgoldnenWeinreben als Tragern, der gelbe Reflex der Sonne

spiegelt sich, der Garten hatgelbenKies. „Ohne etwas zu andern, mochte ich es durchWanddekorationenzueinemrichtigenKunstlerhause machen." Er liebt die Pointillisten, er sieht im Impressionismus eine Auferstehung von Delacroix, aber eine Formulierung der Lehre ist es noch lange nicht. Delacroix und Monticelli haben die „suggestive Farbe" gemacht, ohne viel davon zu reden. Delacroix ist derVater, Monticelli ist dasVorbild. Dieser hat zehn Jahre lang nebensachliche Studien gemalt, um ein paar Figuren zu schaffen, in einer breiten und wundervollen Zeichnung, die nian einst als KunstwerkerstenRangespreisenwird.Aberein besonders starkes Verhaltnis, ein heimliches menschliches Interesse zieht ihn zu Gauguin, und hier ist alles Impressionistische, das ihn mehr als eine Art Gilde reizte, im personlichen Werk iiberwunden. Es geht eine nervose Unruhe durch die Briefe, bis er Gauguin endlich zu sich bekommt, in sein Doppelatelier, das er wie eine FiMale der Malergruppe von St. Aven zu einem Asyl sozial gestimmter Kollegen erheben mochte. Der iibUcheBildertausch ist ein

harmloses Mittel bewundernder Verstandigung. Als dann Gauguin wirklich kommt, erhitzen sich die beiden derart aneinander, da!3 sie von ihren Gesprachen aufstehen wie von einer elektrischen Entladung. Die Briefe sind dariiber einsilbiger, als man vermutet. Er hatte ja jetzt sein Sprachrohr. Gauguin frafi manches davon weg, was sonst Theo vorgesetzt bekam. Indessen richtet er sich sein gelbes Haus ein, funktionell wie er malt, suggestiv in Form und Farbe, stark und kraftig als Behausung ziindenderKunstleidenschaft. Ein beruhmter Brief beschreibt und zeichnet das Schlafzimmer: die Wande hellviolett, der Boden rote Fliesen, die Holzbetten buttergelb, Vorhang, Decke, Kopfkissen hellgelb und griin, Bettuberziige scharlachrot, Fenster griin, Waschtisch orange, Waschkanne blau, die Tiiren lila. „Die viereckigen Mobel miissen eine unerschiitterliche Ruhe ausdriicken." Wenn er es malt, wird es weiB gerahmt,weil sonst nichtsWeiCesimBilde ist. Dies geschah in Aries zu einer Zeit, da solche Vorstellungen und Bediirfhisse inMitteleuropa kaum bekannt waren: das Haus als Ausdruck

desMenschen. Und es geschahganzunenglisch und unsezessionistisch, aber echt van Goghsch, isoliert inForm undFarbeundassoziativinihrer kernigen, ungebrochenen, brutalenHarmonie. So malt er die gottlichen Baume von Aries, zergliedernd als Funktionen vegetabilischer Seele, so malt er die Arlesierin, den Brieftrager, den Zuaven, den Dienstmann, die paar karglichen Modelle, die er zu monumentalen Analysen farblicher Struktur erhoht, so malt er die Sonnenblumen, die Felder, die Wunder des Siidens.

Mit dem Auge der unmittelbarenVision, wie es Giotto hatte („er hat mich am meisten erschiittert, der immer litt, immer voller Giite und Glut war, als lebte er in einer andern Welt"), geht er durch Zypressen, Kirschlorbeer, Tannen, Platanen,Trauerweiden— vielleicht sah siePetrarca, aber wieviel auBerordentlicher als Petrarca, Dante, Boccaccio ist Giotto; der Dichter klagt, der Maler sagt nichts, er schweigt — „und ich ziehe das vor". Zitronenfarbene Garten, wie Petrarca, intime und keusche Gebiische, wie Boccaccio! Obstgarten der Provence mit ihrer hin

reiBenden Heiterkeit, der Friihling der Aprikosen, ein violetter Birnbaum mit weifien Bliiten und ein gelber Schmetterling auf einem der Tuffs, rosaHauschen imHintergrund, brennende Natur im Sommer mit dem Kupfer des Laubes, dem griinen Azur des Himmels, bis zur WeiBglut erhitzt— nur bei Cezanne sah er solches Feuer der Farben, und neugierig legt er seine Studien auf die brennend roten Fliesen: sie werden nicht kasig, sie halten sich stark. O, Entdecker des Siidens zu werden! Nichts als groBe Sonnenblumen sollen das Atelier dekorieren!

Der Maler der Zukunft, sagt er jetzt, das ist ein Farbiger, wie es ihn noch nie gab. Manet hat ihn vorbereitet. Er wird nicht so in Kneipen liegen und in Zuavenbordelle gehn, wie der arme vanGogh. Um ein Glied in derKette derKiinstler zu sein, zahlt er selbst mit seinem Blut, seiner Jugend, seiner Freiheit, deren er niemals froh wird „wie ein Droschkengaul, der einenWagen voli Leute zieht, die in den Fruhling fahren". In der Zukunft wird es eine Kunst geben, so schon, so jung, so wirkhch wie wahr. Arbeiten

wir dafur. Der Zuave, ein bronzener Katzenkopf mit roter Miitze, einmal gegen eine griine Tiir und orangene Mauer gesetzt, einmal gegen eine weiBe. Farben, Farben! Kann man einen Saer farbig machen? Der Himmel ist griin und gelb, der Boden violett und orange, kann man es malen wie die Apollodecke von Delacroix? Er kann es noch nicht ganz, aber ein andrer wird kommen. Die Pariser Impressionisterei fallt langsamab.DelacroixwirdihmReligion.„Denn anstatt, daBichdas, wasichvormirhabe, genau wiedergebe,bediene ich mich willkiirlicher der Farbe, um mich stark auszudriicken." Er malt einen blonden Freund, der groBe Traume traumt, der arbeitet, wie die Nachtigall singt. Er iibertreibt dasBlond, zuOrange,zum Chrom, zu heller Zitronenfarbe, dahinter reinstes Blau als das Unendliche. So beginnt die mystische Wirkung. Er malt einen Bauer, schrecklich, in dervollenGlutderErnteimMittagslicht,orange Blitze wie rote Feuer, Tone von altem Gold, „die in den Finsternissen blitzen". Stelltihnnur neben euren Lautrec, er gewinnt nur durch den Reispuder und die Toiletten.

Drei Nachte lang malt er das Nachtcafe, blutrot und dunkelgelb, das griine Billard, und zitronengelbe Lampen, Gegensatze von zartem Rosa undWeinrot, siiBes Louis XV-griin und Veronesergrun,Gelbgrun,Blaugrun,etwasVerbrecherisches, gliihende Unterwelt, bleiches Leiden. Der iibertriebene Saer und das iibertriebene Nachtcafe scheinen ihm graBlichhafilich und auf dieDauerschlecht, „aber wenn ich durch eine Sache erschiittert bin, wie j etzt durch diesen kleinen Aufsatz Dostojewskis, so scheinen es mir die einzigen zu sein, die wirklichBedeutung haben. Ich habe jetzt eine dritte Landschaft mit einer Fabrik und einer ungeheuren Sonne auf rotem Himmel iiber roten Dachern. Die Natur scheint da iiber einen niedertrachtigenMistraltag inWut zusein." Van Gogh sitzt drauBen, rasend iiber die Leinwand fahrend, der Mistral fegt und wirft ihm das Gerat zusammen, er ruht nicht und gibt nicht nach, er wird zugrunde gehn, aber eine neue Kunst wird geboren werden.

,^A.ch heber Bruder," ruft er aus, „manchmal weiB ich genau, was ich will. Ich kann im Leben

und in der Malerei recht gut ohne den lieben Gott auskommen, aber ich leidender Mensch kann nicht eine Sache, die starker ist als ich, ent

behren,diemeinwirklichesLebenist,dieMacht zum Schaffen."

^ OCH wahrend Gauguin bei ihm war, kam 1 l derersteAnfalLErschneidetsicheinStiick vomOhrlappchen ab und gibt es einem Bordellmadchen. Das Klima des Landes briitet iiber ihm, wie iiber einem Tollwiitigen. Tollheit, Wahnsinn, Fieber ist allgemein ringsherum, es wundert ihn nichts. Mit Unterbrechungen bleibt er in meist leichter Internierung, in Aries, dann in StRemy, zuletzt in Auvers unter Aufsicht desDoktors Gachet, der Arzt und Sammler ist. Die Krisen wiederholen sich. Er schreibt fast unbefangen weiter, oft beruhigt iiber seinenZustand, wenn er die chronischen Irren vergleicht, und immer in seltener Klarheit iiber seine Exzesse. SchlieBlich fuhlt er sichin dieser ArtPension wohler als in dem verwahrlosten Zustand fiiiherer Jahre. Er ist vor Angriffen geschiitzt und hat die MuBe zur Arbeit. Man muB, ent

schliefitersich,dieWirklichkeitunddasSchicksal schlucken, das ist alles. Er schreibt von religidsenWahnvorstellungen, dieihm dasKlosterliche im Siiden gesteigert hatte. Nie hatte er es imNorden in seinem Gehirn gespiirt. Die Klage gegen den Siiden ergreift sein sensibles Herz. Eine wundervolle, versohnende Resignation kommt uber sein krankes Gemiit. Er besingtdie01ive,ihrAltsilber gegen dasBlau — nicht Liebe wie Kirschlorbeer, sondern wie abgeschnittene Trauerweiden hollandischer Wiesen oder die eichenen Biische auf den Dii. nen. Er beschaftigt sich mit den Zypressen als dem schwarzen Fleck in der sonnigen Landschaft, das schwierigste schwarze Problem gegen das Blau, das er kennt. Immer standenmitfuhlende Baume an seinem Weg. Er will nicht ermatten,schreibter,aufjederneuenLeinwand suche erNeues.Er mochte glauben, erhabeeine neue Zeit von Helle vor sich. Damals entstand dasunsagbareKornfeld.AberdieKrisenmachen Halbtone undlockenzumGrau. „IchhatteLust, mit einer Palette wie im Norden wieder zu beginnen." Wird er an dem Tage, da er Erfolge

erzielt,seinejetzigeEinsamkeitbedauern,alser durch die Eisenstabe der Tollwutzelle auf die MaherimFeldesah?Niemandhindertihn,aber der Glaube ist gebrochen. Man miisse von anderemTemperament sein als er. „Ich werde niemals das machen, wonach ich hatte strebensollen und konnen; aber ich, dem der Kopf so oft schwindelt, kann nur eine Stelle vierten oder funftenRanges einnehmen." VorVerzweiflung malt er den Warter. Hatte er die Kraft gehabt fortzufahren, ruft er aus, so hatte er Bilder von heiligen Mannern und Frauen nach der Natur geschaffen, die das Gesicht unserer Jahrhunderte trugen. Und wieder, wie einst, kopiert er Millet, er kopiert ihn nicht, er ubersetzt ihn, interpretiert ihn. Er improvisiert dariiber Farben,halb nur ausErinnerung. „ Vor allem trostet es." So schnell gehen die Pinsel durch seine Finger, wie ein Bogen iiber dieVioline hin. Heut versucht er die Schafschererin zuinterpretieren, inLila und Gelb. Gleichzeitig schickt er wieder ein Selbstportrat, das willigste seiner armenModelle. „Du wirst, hoffe ich, sehen, daB mein Gesicht ruhig ist, obwohl der Blick bei mir jetzt leerer ist als friiher." Er segnet sein Ungliick. Er gewinnt nur Zeit zu neuer Arbeit. In seiner Erhitzung aber lafit er die Gedanken schneller nochlaufenalsseineHande,undhellsichtigahnt er die Zukunft. Nur die durchgefiihlte Linie, die erlebte Farbe gilt, auch wo sie iibertreibt. „Das ist ein wenig, was Bernard und Gauguin finden: sie verlangen nicht die genaue Form eines Baumes, sondern sie wollen absolut, daB man sieht, ob die Form rund oder viereckig ist. Und bei Gott, sie haben recht. Angewidert von photographischer Vollkommenheit und dem Blodsinn gewisser Leute. Sie fordern nicht genauTone der Berge, sondern sie sagen, Herr Gott Sakra, dieBerge waren blau, bringt also das Blau heraus, aber kommt mir nicht damit, daB es ein Blau so oder so war, sie waren blau, gut, macht sie blau und damit genug." Der Stil wird ihm wichtiger als andere Qualitaten. Der Stil mache seine Zeichnung mannhcher und willensstarker. DiesGesamtgefuhl, die innereBindung der Landschaft, unterscheide C^zanne von jedem anderen. „Ich fiihle wohl, wenn ich in denNordenzuruckkame, daB ich dortklarer

als fruher sahe." Dann im Norden wachsen ihm Phantasien: Weizenfelder, nichts als Ahrenhalme, blau, griin, schlanke Blatter wie Bander, die griin und rosa leuchten, die etwas gilben, vom Bliitenstaub hellrosa gesaumt, ein Reflex, der sich um einen Ahrenhalm rollt — daruber auf dem ganz lebhaften und trotzdem ruhigen Hintergrund Portrate, Griine, die an das siiBe Rauschen der Halmeim Winde erinnern— Menschen, Kleider, Natur als eine innerlich geschaute Einheit . . . Wie in Umrissen leuchten solche Visionen aus letzten Zeilen und sehr erregenden Skizzen.

ImGrunde herrscht der graueZweifel. „AlsMaler", sagt er, „werde ich nie etwas GroBes bedeuten, das spiire ich absolut. Waren der Charakter, die Erziehung und die Umstande andere gewesen,sohattedasoderjeneswerdenkonnen; aber wir sind zu positiv, um durcheinander zu werfen; mitunter bedauere ich, daB ich nicht einfach bei meiner hollandischen Palette mit den grauen Tonen geblieben bin und auf dem Montmartre gepinselt habe. SchlieBUch was macht es uns aus, etwas mehr oder etwas we

nigerWiderwartigkeiten zuhaben. Sicherhast du viel friiher als ichDienst genommenbei den Goupils, wo du oft genug viel schlechteViertelstunden durchmachtest, die man dir nicht gedankt. Und gerade du tatest es mit Eifer und Ergebung, zumal unserVater mit seiner groBen Familie damals in einerschwerenLage war und es notig war, damit alles weitergehe. Was hast du darum alles getan. Ich dachte an diese alten Dinge oft wahrend meiner Krankheit . . ." Vincent, gebrochen durch Arbeit, Hitze, Hunger, Alkohol, Tabak (die „Gegenmittel gegen die Liebe"), ein verwahrlostes, der Ehre seiner Kunst geopfertesLeben, ging dahin imGlauben an die Zukunft seines Strebens, nicht seiner selbst. Er erkannte ein Martyrertum an, das er niemals gewollt hatte. Er beugte sich mit der Demut des Glaubigen, die er einst gepredigt. So schloB sich in einem tiefen germanischen Sinne derKreis seinesDaseins zurTragodie.Wie er sich in diesen Briefen vollendet, die die Trane der Ergebung nicht unterdriicken, darf nicht ohneRuhrung verstanden werden. Ich setze die letzten Zeilen, vom 27. Juli 1890, hierher.

„Wirklich, wir konnen nur unsere Bilder sprechen lassen. Aber trotzdem, mein lieber Bruder, das sage ich Dir immer, und ich sage es noch einmal mit der ganzen Schwere, die eine hartnackige Gedankenarbeit eingeben kann, ich sage es Dir noch einmal, ich sehe Dich immer fur etwas anderes an, als fur einen einfachen Kunsthandler. Durch mich hast Du selbst an dem Zustandekommen gewisser Bilder teilgenommen, die sogar in derVerwirrungbestehen bleiben. Denn da sind wir wieder, und das ist alles und zum wenigsten dieHauptsache,die ich Dir im Augenblick einer ziemlichen Krise sagen kann. In einem Augenblick, wo die Dinge zwischen den Handlern von Bildern toter Kiinstler und denen lebender Kiinstler etwas gespannt sind. Nun, meine Arbeit gehort Dir. Ich setze dafiir mein Leben ein, und meine Vernunft ging dabei zur Halfte drauf." Zwei Tage darauf totete er sich.

ALTEundHitze geben sich ganz aus inRuBland und losen sich scharf ab. Arm und reich stehen schroff gegeneinander,aberbeide geben sich _ schrankenlos ihren Einflussen hin. Jene beherrscht die Religion, diese das Leben. Ganz geben sie sich aus, alles LebengenieBende, alles Glaubige flieBt unbeherrscht in die unendliche Zeit. Es ist das Land der unausgeglichenen ExtremeundderrucksichtslosenAufopferung. Auf den Bahnhofen hangen Heiligenbilder. Auf den Strafien liegen queriiber Betrunkene. Man kann wochenlang w arteri, bis man in einem Zug befordert wird, wenn die Platzkarten verkauft sind. Die Betrunkenen lafit man liegen. Tatsachen andert man nicht. Man gibt sichStromungen hin. In Moskau stehen Lasterhohlen neben Heiligenkapellen. Die Varietes haben Heimlichkeiten, die Paris iibertreffen. Ein groBes Hotel offnet der Halbwelt die Zimmer und gibt den Herren alle Gelegenheit, ja Aufforderung. Dicht daneben stromt die Menge in die Kirchen und drangt sich um Reliquien irgendwelcher Heiliger.

Die Kirche herrscht vollkommen, und vollkommener als je, iiber die Masse. Ich war in Moskau Zeuge der Heiligsprechung des Hermogenes, dessen Gebeine unter Prozessionen und Kirchenfesten in der Uspenski-Kathedrale bestattet wurden. Man arrangiert Heiligsprechungen,umdenGlaubenwachzuhalten.Tagelang stand das Volk harrend vor den Kirchen. Der Kathedralplatz des Kremls war abgesperrt. Das Volk wurde in einer Riesenschlange geordnet und schubweise eingelassen. Pilger aus dem ganzenReich waren gekommen, mitRanzen und Stock und braunem Kittel, langen Haaren, das groBe Ereignis mitzuerleben. Es drangte sich die niedrige Masse aller Dummen und Eingeschiichterten, mittelalterlich stumpfe Scharen von Armseligen jeden Alters. Sie trugen kleine,brennende Kerzen im Freien und beteten vor dem roten Tschudowkloster im Freien tagelang mit dem zelebrierenden Priester. Die Glocken schlugen und donnerten, die tiefen zuerst einzeln, dann der ganze larmende Chor der hellen. Aus dem gelben Nikolaipalais blickten weiBe Nonnen, auf die

Fenster verteilt. Ich wuBte durch einen Trick den Kopf der Menschenschlange zu erreichen, die schon den halbenTag gewartet hatte. Man schob mich in die Kirche und plotzlich umgab mieh schwere, mattgoldene Dunkelheit, von Gebeten und Qualen erfullt. Ich standbeiHermogenes. Ich sah das Volk sich auf sein Grab sturzen, der Reihe nach, fur jeden einzelnen der Augenblick, auf den hin er so lange gelebt hatte, die groBe Erlosung, die vollige Hingabe an den Gott, alles Weinen, alle Hysterie, Kiissen und Hinwerfen und Opfern einer Gabe, die ein Priester geschaftig, gleichgultig zu den ubrigen tut.

Ich ging durch das Erloser-Tor hinaus, unter dem Gesetz ist, den Hut zu liiften. Ich sah nur noch Sichbekreuzigende auf der StraBe. Oft fand man kaum den Gegenstand ihrer Anbetung. SchlieBlich entdeckte man ihn doch noch irgendwo an einer hohenMauer. Moskau scheint reicher an Heiligen und Kapellen als Rom. Gen Suden zu geben die Mohammedaner an Frommigkeit nichts nach. Wie oft sah ich einenTrager zwischen Heringstonnen auf Last

schiffen,wennihninnerlichderMuezzinrief,wo er saB und stand, seine Andacht verrichten. Die religiose Hingabe deckt dem Volk sein Elend. Was armes Elend ist, qualvolle Arbeit, Ringen mit der Last des Tages, korperliches Martyrium, habe ich dort gefuhlt. Das ist die furchtbare Welt des Tragers, des Kulis, der Lasten schleppt und schleppt um des kargen Brotes willen. Keine Maschine erleichtert es ihnen, kein Kran, kein Aufzug ersetzt dieHundearbeit des einzelnen. Sie stehen fur ewige Erinnerung vor mir, diese Trager der Mehlsacke, Fischtonnen, Holzklotze, die die Boschungen der Ufer erklimmen — oft fallen sie unter ihrer Last, wie Christus unterm Kreuz, und Barmherzige heben sie, wahrend die Jiingeren lachend leichtere Lasten erbeuten — die aufund niederkeuchen, von einem Schiff aufs andere, vom Schiff auf den Wagen weit drinnen am Hafenplatz, kontrolliert von Beamten, immer wieder neubepackt von Aufsehern. Um einen Armenlohn kommen die Perser im Sommer nach Astrachan, Trager zu werden. Die Fremden freuen sich ihres Anblickes. Sieselbst

schreien in hellen Stimmen sichVerwunschungen oder GalgenspaBe zu. ImWinter dann kehren sie zuDareiosundXerxeszuriick.DerRusse erleichtert es sich mit Gesang. Wenn sie den Anker heben, oder das Klavier herausschaffen, oder in Magazinen auf Leitern Kisten hochschieben, singen sie einfache rhythmische Lieder, drei stetig wiederholte Noten, ohne viel Wortsinn,um denTakt sich zu machen. Arbeit und Rhythmus.

Jetzt ist eine plotzliche Aufregung am Wasser. Gelbe Priester kommen mit Ikonostaten und Tabernakeln, treten in einen schnell gezimmerten Pavillon und sprechen ihre Gebete uber den FluB. Sie weihen das Wasser. Und kaum ist es geschehen, sturzenVolk,Trager, Klosterbettler, was nurglaubigist, an dasUfer, waschen sich Kopf, Brust, Arme, schopfen in Kannchen Wasser, trinken es, tragen es nach Hause.Unsereiner steht starr daneben. Wir sehen den unbeschreiblichen Schmutz und Abfall unserer Kultur im FluB schwimmen und in dieKehlen dieser Menschen, ohne Ekel und Furcht, gleiten. Das Wasser ist geweiht. Es kann nichts schaden. Die Priester ziehen befriedigt durch die Stadt zuriick. Und wir griiBen sie alle. Der russische Mensch wirft sich in die Extreme. Die Armut opfert sich der Religion, die Intelligenz der Revolution. Mit ungeheuren Entbehrungen geben sie sich den Stromungen hin, aus Hingabe, aus Auflosung, ohne je ein letztes Ziel zu erreichen. Menschenmassen opfern sie und miissen auf dem halben Wege versagen. Aus dieser unseligen Mischung von asiatischer Despotie und modernemWillensdrang wird langsam, nach Niederlagen und Blutzeugenschaften, der russische Zukunftsmensch erstehen, dessen Elemente wir hier und dort, noch unorganisiert, verstreut fanden. Aus dem Elend der Armen sprang ich hiniiber zu der Lebensfulle der Reichen, verwirrt von der Plotzlichkeit. Unsagbar ist ihre Gastfreundschaft Sie kennen den groBen Stil des Lebens und freuen sich, anderen diese Freude zu machen. Dieselbe Hingabe, die den Mittellosen in seinen IdeaMsmus treibt, bliiht in reichen MittelnzuunendlicherGute,Aufmerksamkeitund selbstverstandhcher Freigebigkeit. Ich wollte etwas von diesem Gliick mitnehmen, als ich beiGroBindustriellen draufien in derNahe von Moskau auf dem Sommersitz war— sie nennen es Datsche. Walder als Parke, Lander als Gut, ein reizendes herrschaftliches Empirehaus und siiBe kleine Holzhauser ringsum, GenuB an Erholung undLebenskunst. Die Dame desHauses war Malerin. Sie hatte Sinn dafur, in starken, kraftigen Sommerfarben Wande, Kissen, Mobel, Bilder aufzuhellen: einenaturlicheLosung modemster dekorativerTendenzen. Dann gingen wir durch die Alleen und sprachen vonZukiinftigem. Man warbescheiden, selbstlos, hoffend, klug arrangiert mit demLeben. Ich vergaB den Hafengeruch und traumte vom Menschlichen. Es war das grofie Herz RuBlands, das irgendwie in die Zukunft schlagt iiber allen Grausamkeiten und Mittelalterlichkeiten der aufgeregten Tage.

Aber die Lebensfulle hat ihre Nachspiele. Gleicht sie sich nicht mit Europa aus, so wachst sie leieht in Brutalitaten der Kraft. Der alte Karamasoff erscheint. In Moskau liegt schwerer Reichtum, in einer stillen StraBe hinter der Moskwa. Er liegt tief und tragt keine Friichte. Die Sohne schlagen aus und wissen ihren LebensuberfluB nicht zu kanalisieren. Strelnageschichten wiirde das Kapitel heifien. Strelna ist ein herrlicherWinterpalmengarten von ausgesuchten tropischen Pflanzen, neben Yar das fashionable Lokal. EinesTages fragt ein junger Mann, was es koste, das Lokal einen Abendfiir sich allein zu haben — er zahlt die 10000 Rubel. Ein anderer sagt eine afrikanische echte Palme durch, aus tlbermut; er zahlt 20000. Ein dritter zieht einen schwimmenden Sterlett aus dem Bassin und sabelt ihm den Kopf ab, daB das Blut spritzt. Aus Emotion. Das sind die Enkel Iwans des Grausamen, dessen Geruch heute noch uber den historischen Stellen der Stadt schwelt

SchlieBlichuberschwemmt derWeltkitsch alle Diiferenzierungen. Abends drauBen in den Varietas zerflieBt alles ins Banale des GroBstadttyps. Selbst in Zaritsin, der Kamelstadt, promenierten wir vor den Akrobaten in gedrangter Halbund Viertelwelt, wahrend drin im Saal die Eroika gespielt wurde. Ich schwanzte sie teilweise. Ich besah mir die Kokotten von Zaritsin. Es war, wie es uberall ist, die schale Sauce abgestandener Lebenslust. Ich schliirfte die Fadheit eine halbe Stunde. Die eine hatte oben das russische Kopftuch, unten war sie Paris. Viel Staub lag in der Luft und das Licht brannte unwillig. Sie hatten wenig Erfolg. Die paar Baume hingen traurig herab. Dann sang ein Chor irgendeinen Wiener Gassenhauer. Und ein ferner Dampfer spann den letztenTon fort. IR hatten vier Bechsteins mit. Einer stand ? » unten in einem abgesperrten Raum zum tlben, der hieB das Konservatorium. Zwei standen im Salon zum Ohrenschmaus : tagelang ging zu je zwei Handen dasTschaikowskikonzert auf ihnen nieder. Der groBe Konzertfliigel war fertig in einer Kiste auf Rollen vor dem unteren Schiffsausgang. Ein Stimmerhuteteihn dauernd, ein ernster, zuverlassiger Mann und Altglaubiger. Nahte das Konzert, of&iete sich die Luke und heraus krochen zuerst die Kontrabasse auf den Riicken der Matrosen, dann Pauken, Harfe, Celli, Pulte, Podium und als Hauptpiece der Menagerie das edle Klavier. Auf Wagen wurden sie zum Saal geschafft, und kaum war der letzte Ton verklungen, riB der Diener den Spielern schon wieder die Celli aus der Hand und rollte das Klavier hinter die Kulissen. Sind dielnstrumente alle an Bord? Dann konnen wir abfahren. Aber einmal fehlteWichtigeres: der Konzertmeister und erste Fagottist waren in Astrachan zumckgeblieben.Wir merken es erstunterwegs und halten an derNaphthastation. Andreij Andrewitsch gondelt hinuber,zuruckzutelephonierenJndessenerreicht uns ein kleinerDampfer, der diebeiden Deserteure bringt. Sie hatten uns abbiegen sehen und waren darauflosgefahrenuns einzuholen. Jetzt pfeifen wir wie wild nach den Telephonierenden. Sie horen es nicht. Wir miissen fast eine Stunde auf sie warten. So verriickt, so umsonst alles. Da ist ein Kalmiickendorf, Buddhatempel, Schornstein, Fischerei,Telephonieren,Fag 0tt _ ich notiere mir es und notiere mir dazu, daC, wahrend ich dies hinschreibe, ich wirkhchdenBuddhatempelvormirsehe.NichtbloB schreibe. Und alles geht weiter, der Dampfer fahrt, alle sprechen, als ware nichts gewesen. Und jetzt erst schreibe ich es. Bisweilen iibt der Trompeter unter mir seine Skalen, wahrend die Sangerin in ihrer Kabine die ihren probiert.Danniibt derKonzertmeister seinen Bach gegeniiber von Kamellagern. Von Zeit zu Zeit besucht uns ein Kontrabassist. Er ist Dane undnachRuBland verschlagen, gliicklich mit einem jungen deutschen Madchen, das unbefangenund vorurteilslos in dieWeltblickt. Romane haben sie wohl erlebt und Romane umgeben sie. Auch unserWirt und Fuhrer war einst Kontrabassist ohneMittel und sichereZukunft Er treibt sich als Junge in den Waldern umher und man findet ihn gerade noch. Er lernt KontrabaB, weil darauf ein Stipendium beim Konservatorium steht. Schnell oifenbart sich sein musikahsches Genie, er erobert die Welt mit seinem Listrument, dessenVirtuositat er entdeckt, er reiht sich unter die ersten Dirigenten ein, er findet eine geliebte Frau von stiller und feiner Giite, seinen Reichtum wendet er segenspendend an, jetzt leitet er dieses Schiff, Kultur nach femen Stadten zu tragen unter einem Aufwande von vielleicht 150000 Mark, gegen den dieRonzerteinnahmen kaum in Betracht kommen. So wuchs der arme musikalische Bube in den groBten Stil seines Berufes ein. Dann denke ich an den anderen Kontrabassisten und wage Schicksale. Er erzahlt von seiner Not, als bohrte er sein eignes Leben zuriick, und ich vergleiche den Palast voli erlesener Schatze und Bilder, den sich der eine amSmolensk-Boulevard erwarb, mitdem Wohnungselend des anderen. Ich sehe ihn mit der Terpentinspritze Moskauer Insekten verfolgen. Russen heiBen sie bei uns, dort heiBen sie PreuBen. Es gibt auch Kafer, die heilig sind. Sie werden in Brote gebacken, aber sie toten ist eine Siinde. Im Winter verkitten sie die Fenster. Den Begriff Luft kennen sie nicht. Und ich habe den Geruch vor meiner Nase. Sie nannten den Danen den Deutschen, weil er deutsch sprach, und die Frau Franzosin. Jetzt stehen sie in der freien Luft auf Deck und ihre Erlebnisse liegen wie Bucher vor mir. Ich konnte sie weiter dichten, die des reichen und die des armen Kontrabassisten. Auf Schiffen kommt man sich nahe. Aber es sind lebende Menschen. SchlieBlich iibt der Kpdak seine nivellierende Wirkung.Wirgruppierenunshundertmalnach ZufallundGrofie. Daslnnere schweigt. MitTataren und Kalmiicken und Persern. Nach malerischen Prinzipien. So gelangen wir zur FilmEwigkeit.

DREI Maler waren bei uns. DerUngar Gerlizzi hatte die Fahigkeit, die vorubergleitende Landschaft mit wenigen Strichen und Farbandeutungen charakteristisch zu fassen. KuBnetzoff , einer der angesehensten Jungrussen, war elegant und modern pariserisch in der Aufhahme der Ufer, der Stadtblicke und der Stilleben unserer eigenen Gewohnheiten. Sterl aus Dresden pflegte seine Spezialitat, die Hafenarbeiter, und machte zu ihrer Verherrlichung schon das drittemal diese Reise mit. Ein Meister seines Faches, den ich liebgewann um des ernsten undunermiidlichenEiferswillen, mit dem er seine Augen und seine Handin den Dienst seiner Kunst stellte. KuBnetzoff arbeitete groB in Ol auf dem Promenadendeck wahrend des bunten Tages. Gerlizzi zeichnete unten oder oben die Veduten des Landes und Wassers. Sterl saB in aller Herrgottsfriihe fur sich allein auf Deckund skizzierte die Trager und das Volk, Fischereien und Prozessionen, um es dann in seiner als Atelier eingerichteten Kabine zu Ende zu fuhren. SchlieBlich hing es am Promenadendeck zum Trocknen. Mit ihm stand ich gern und sprach uber dieEindrucke. Wie die riicksichtslosen Farben auf denPferdebugeln strahlten, auf den Kinderwagen, den Dachern, den Kuppeln, golden, silbern, griin, blau — frei gegen den Himmel. Wie die Linien sich aus der europaischen Vertikale ins Horizontale wandelten, alles breit, niedrig, asiatisch, ein Netz wagerecht gewebter Maschen, in das sich abgesetzt die Farben eintrugen, bisweilen scharf und bestimmt, bisweilen von leichtem Dunst harmonisiert, um jede Tageszeit anders und jeden Tag neu, diese letzte Auseinandersetzung des ausgesprochenErdhaften mit dem ausgesprochen Wasserhaften. Die anhaltende Gewohnung lieB uns Reize in den Dingen entdecken, die dem ublichen Reisenden verloren gehen. Sie lehrteuns das Personliche, in langen AuBerungen Charaktergewordene dieser Natur und noch mehr dieser Menschen. Zuerst erscheinen sie dem Blick als massive, bunte Materie, als Ethnologie, als RuBland, als Armut und Korperschwere. Dann schwindet diese Neugierde, wir sehen nicht mehr den Elenden, denRussen, denTyp desTrachtenmuseums, wir fassen dieses Hafengetriebe und Prozessionsgeschiebe in derwassergeschwangerten,in der staubfarbenen Luft von einem eigenen Stil aus, der alle malerischenMoglichkeiten einer tlbersetzung in den Geist uns an dieHand gibt. Jetzt wird dasTragen zu einer monumentalenGeste, das Schiffsleben zu einem differenzierenden Milieu, die Tracht zu einem Blitzen ungebrochener Farben, die Luft zu einer Instrumentation in wesenthche Klange, Kirchenkuppeln undlanggestreckteHausermassen,Wolganatur und Segelatem, Priestergewander, Sarafane, Kaftane, Chalats, Bohlen undFasserund Sacke, alles eint sich zu einer Musik, in der der einzelne Gegenstand ins Sensitive riickt, die Ak

zente undTakte denWillen des malenden Regisseurs darstellen und die Bewegung zur Melodie der Arbeit,dieser groBen Arbeit derHande, FiiBe, Riicken, zur Kontur der treibenden Energie sich erhebt. So fand ich es in SterlsBildern. Wundervoll abgestuft nach der Struktur j eder einzelnen Aufgabe. Es schien mir, daB er die malerische Anschauung derWolgaphanomene prazisertrafalsmancherRusse.VieUeichtmuBte dazu ein Fremder kommen, denn die Russen sehen malerisch aus ihrem Lande weit heraus. Die jungen Russen als Maler sind sehr begabt, aber sie sind zweite Hand, wie es alle ihre Vorganger waren. Dichterischund musikalisch geschaffen, eigeneWelten zuproduzieren,stehen und standen sie malerisch durchausunter dem EinfluB Westeuropas. Durchwandern wir die Sale der beiden groBen Nationalgalerien, des Museums Alexanders III. in Petersburg und der Tretjakoffgalerie in Moskau, so bewundern wir Kopien. Mitunter fallt uns von den alten ein warmer Techniker auf, wie Bruloff, mit gliihenden Portraten, scharmanten Kleiderfarben; doch sofort stellen wir ihn neben seine vorbildlichen Franzosen. Repin wurde national interessant nur in dem einzigenKosakenbild, dessen prachtigeUnruhe erin dreiVarianten erprobte. Seroff, manuell entschieden das groBteTalent, bewegte sich durch alle noblen Atelierkiinste Europas, um noch zuletzt in der Aktaufnahme der Tanzerin Rubinstein dem neuesten Stilgesetz seinenTribut zu zollen. WaBnetzow unter den Historikern behielt einen Schimmer von barbarischer Kraft, die man als russisch ansprechen konnte. Wrubel ist als Phantast sicherlich der nationalste geworden, doch leiden seine krausen, legendenhaften Gespinste an Gestaltlosigkeit und Zerfahrenheit. Mussatow, noch mehr als Somoff, ist ein zivilisierter Stilkiinstler, der sich in alten feinen Moden nach Europa zuriickwendet. Sooft ich sonst in diesen Gegenden moderner russischer Malerei mich erging, war ich eingenommen von der groBen und radikalen Begeisterung, die fur letzte Werte derZeit hier aufgebracht und auch erwidert wurde, aber sie schien mir nicht der eigentumhche Ausdruck russischer Anschauung, mehr ein dekorativer Reiz, der in den prachtigenTheaterdekorationen und Kostiimbildern, wiirdig in die Museen aufgenommen zu werden, viel unemgeschrankter zur Geltung kam. Wir kennen und lieben sie von der russischen Oper und dem Ballett. Die nationale Musik befliigelte sie.

Dann kam ich in die Petersburger Eremitage und betete diese einzige Rembrandtsammlung ab. Wie kam es, daB der „Verlorene Sohn", eines der wunderbarsten Bilder, die je gemalt wurden, mir so russisch erschien? In derHerrlichkeit derElendfarben des knienden Zuriickgekehrten sah ich die Apotheose derWolga. In der unendlichen Giite des umarmenden Vaters das Herz des Landes, das sich in allen Abarten der Worte Vaterchen und Miitterchen sein Gefuhl zeichnet. Und in den mystisch Wartenden und Zuschauenden alles dunkleGeheimnis, das tief in Religion verklart iiber den Zwiespalten ruht. Was kraus und unausgeglichen nebeneinander sich gedrangt hatte, war hier von einem weitsehenden Kiinstler in starkem Augenblick, rein von den Zufalligkeiten, groB in der Anschauung zur Losung gefuhrt. Noch jetzt in der Erinnerung steht mir das Bild wie eine Kuppel uber dem europaischen und dem asiatischenRuBland. Ich weiB, man spricht heut iiber Bilder von der Seite des Pinsels. Ich mdchte einmal auch anders dariiber gesprochen haben: denn an seiner Stelle wird das Bild aus der Malerei zum Erlebnis. Auch die Stadt sehe ich nicht blofi nach ihren Bausteinen und Stilbedurfhissen, sondern ich sehe sie als Lebensproblem an der Stelle, wo sie steht. Moskau ist das starr gewordene Bild des ZusammenstoBes von Asien und Europa, phantastisch in dieser Barbarei, unwahrscheinlich in seinenKontrasten. DieMitte derKreml, einer der merkwiirdigsten Platze derErde, die hiigelhoch gehobene Einsamkeit unzahliger goldener Kirchenkuppeln, gelber Kasernen, roter Kloster und weifier Palaste. Weite Platze, auf denen uns Ehrfurcht vor der Majestat beschleicht, enge Kirchen auf vier dunklen Pfeilern, mit Gold und Malerei bis oben bedeckt, Gold und Edelstein iiber allen Rehquien und Grabern, jederWinkel von Gottesdienst belegt, jede Flache mit Rehefen und Ikonostaten geschmuckt, Gedenken an hundert Heilige, Patriarchen undFiirsten und der Geruch tausendjahriger Gebete.Ringsum eine asiatischeMauer mit marchenhaften Toren, Zinnen,Turmen in halbtatarischem Stil. Und mitten darin, wie ein Schlag ins Gesicht, ein kitschiges, modernes marmor-erzenes Denkmal Alexanders II. in europaischen Saulenhallen. DrauBen in weiten Kreisen dieselben Schroffheiten. Vergrabene alte Kloster und moderae Basare, alte Niederhauser und achtstockigeHochbauten, die weiBgoldene groI3e Erloserkirche und die vier Riesenschornsteine, keine ausgepragte Wohngegend, alles durcheinander,Palaste,Fabriken, Scheunen, Kapellen,Theater, Mietshauser, Promenaden, das ist das wundervolle, ungeordnete, sich nie zurechtfindende, paradoxe Moskau. Aber den Gipfel seines Wahnsinns erreicht es in der historischenWassilikirche: innen Katakombenenge, goldgedrangte Gange und Kapellen, aufien ein Auf bau buntester Turme und Kuppeln und Dacher in Zwiebel-, Glocken-, Ananas-, Melonenform, gedreht, gespitzt, geriefelt, gesponnen, immer verschieden, immer unmoglicher, immer teuflischer in Farbenmischungen, Linienschnitten, Gliederungen, Perspektiven— nur einmal auf derWeltkonnte ein solcher Bau entstehen, durch die wahnsinnige Phantasie eines alten Zaren, dem die Kultur nicht die Mittel geraubt hatte, sie auszufuhren. O, heiliges Moskau, ich kannte dich nicht und dachte dich mir als reines Marchen des katholischen und hierarchischen Ostens. Ich sah dich von den Sperlingsbergen, wie Napoleon dich sah, und vom Kremlturm deslwan Welikij, wie Joseph II. dich sah, und nun weifi ich, daB du viel mehr bist als ein stilles und verborgenes Marchen, du bist derWahnsinn aller Krafte, die aus den Erdteilen aneinander rennen, Religion und Laster, Absolutismus und Proletariat, Oper,Tanz, Elektrizitat und Iwans Schrecken, du bist die Phantasie unserer ungelosten Schmerzen.

Wogegen Petersburg ihre schone Banalitat ist. Eine elegante europaische Stadt, in der nicht Iwans Geist spukt, sondern die Personlichkeit Peters noch allenthalben fortlebt, der aus gesundem Menschenverstand das Russentum opf erte. Das rote Winterpalais liegt freundlich an der Newa, und an seiner Riickseite offnet sich ein schoner roter runder Platz, der seinen Namen nicht vom Blute hat, wie der rote Platz in Moskau. Freundliches Rot und Empiregelb mit weiBen Halbsaulen wiederholt sich durch die Stadt. Ihre Konstruktion hat die Behrenssche Deutsche Botschaft gliicklich ins Moderne iibergefuhrt. Klare, praktische, hohe Wohnhauser betonen schlanke HauptstraBen, den Newski-Prospektund dieneueTrasse desKammeno-Ostrowski-Prospekts, die bei einer eleganten Moschee und derVilla einer Tanzerin beginnt, um uber das Aquarium nach den lieblichen Inseln zu fiihren, wo man Stolypins weiBes Haus verwiinscht. Die Kirchen sind prachtig stimmungslos. Die Isaaksund Kasankathedrale haben romischen Prunkstil. Den nationalen Stil versuchte man in der Suhnekirche, dieiiberderStelle desBombenattentats auf Alexander H. errichtet wurde. Die Stelle des Pflasters sparte man in derKirche aus. Die Kirche ist eine miBverstandene Nachahmung des Pfeilerund Kuppelstils von Moskau. Die bemalten Pfeiler bleiben kait, die variierten bunten Ruppeln bleiben kindisch. Was unter Iwan echte Naivitat war, ist hier falsche und der Wahnsinn racht sich in Geschmacklosigkeit. SchlieBlich fahren wir hinaus nach Peterhof und stehen in reizender Fontanenlandschaft bei Mon Plaisir am Ufer der Ostsee. Alte Baume beschatten uns im Kreise, die miiden Wellen des Meeres schlagen in gleichemTakt ans Ufer, Peters Geist laBt uns in die Ferne, in die Heimat schweifen.

MOTTERCHEN Wolga flieBt um alle ErinnerungenherumundschlieBtdenKreis. Kleinmiitterchen? Von dem groBten Strom Europas, 3700 Kilometer lang, bis zu 8000 Meter breit, bei Hochwasser oft iiber 200 Kilometer ausgegossen, waren wir ein schones Stiick gefahren. Nicht gar so weit von dieser Petersburger Gegend nimmt er seinenLauf aus Siimpfen ins Kaspische Meer und von diesem bis zur Ostsee zuriick reichte unser geographisches Gefuhl. Ein Riesenaufgebot eines Flusses, der zwischen den Breitengraden von Stockholm und Venedig, zuletzt von Nebenfliissen ganz verlassen in einem Binnenmeere sich zu Tode laufen wiirde, hatte man ihn nicht durch Kanale mit derMoskwa, mit derDwinaund auch mit dem baltischenWasser verbunden. So wissen wir: er lauft nicht umsonst sein trachtiges Leben ab von einem kleinen Sumpf zu einem groBen, er lauft inVerbindung mit denHauptstadten seines Landes und hat seinen Zulauf von den Weltmeeren.

Gering ist sein Gefalle, wie dreimal die Hohe des Kreuzbergs. Gewaltig sein Stromgebiet, fast dreimal so groB als Frankreich. Am groBten, eine Welt fiir sich, der Kreis seiner Erlebnisse. Ich maB in Astrachan bis nach Hause und schlugRadien. Es war durch dieLuftdieHalfte nach China oder Indien, es reichte bis in die Sahara, oder zum Nordkap. Am Nordkap hatte ich diese Entfernung nicht empfunden. Hatte sie in der Sahara wohl ganz empfunden. Hier empfand ich das halbe Europa, China, Indien und war ganz bei Beethoven. Ich stand auf der Schwelle — Er zog rein und ungemischt uber die Lande. Es war zwei Monate vor dem Krieg. Heut erscheint mir das alles wie ein Riesenschauspiel, in dem die alte und die neue Zeit, Asien und Europa unerlost nebeneinander ruhten. Hier brach der Vulkan aus. Meine Wolgawelt liegt im Chaos. Die Stadte brennen, die Datschen sind zerstort, der FluB ist rot. Die Zukunft wachst dunkel. Die Musik wartet in jedemEinzelnen von uns.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Musik auf der Wolga