München - Die Vergangenheit

Autor: Ruederer, Josef, Erscheinungsjahr: 1907

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: München, Bayern, Hauptstadt, Stadtgeschichte, Land und Leute, Landesgeschichte, Sagen und Märchen, Mythologie, Wagner, Bismarck, Preußen, Bayreuth, Kunst, Kultur, Künstler, Walküren,
Wohlverdientes Todesurteil des Josephus R. vulgo Patriot welcher auf höchste Anbefehlung eines Churfürstlich hochwohllöbl. Hofrats allhier in München wegen teils einbekannt, teils überwiesenen, höchst vermessenen und tollkühnen Verbrechens der aufrührerischen Schrift: Wahrer Überblick der Geschichte der bayerischen Nation und insonderheit der der Stadt München sohin puncto criminis perduellionis nach dem klaren Inhalt des wohlbestellten Kriminalkodex Plc. 8 § 1 und anderen Argravantien (beschwerenden Umständen) heut Samstag den 11. Oktober 1800 in einer Kuhhaut eingenäht, zur Richtstätte geschleppt, auf dem Wege öfter mit glühenden Zangen gezwickt und allda lebendig mit 4 Pferden zerrissen und so vom Leben zum Tode hingerichtet worden. Die 4 Viertel werden nebenbei zum abschreckenden Beispiel auf den Landstraßen der Landesgrenze auf Viertelgalgen, der Kopf aber hier auf einem besonderen Hauptviertelgalgen mit der Überschrift aufgehangen: Strafe in diesem Lande für Vaterlandsliebe und Aufklärung. Endlich wurde all sein Hab und Gut dem Fiscus anheimgeschlagen.

Vorstehendes Todesurteil fand ich heute unter alten Papieren. Ich las es, las es wieder. Dann stiegen mir so langsam schwere Bedenken auf. Bis hierher hatte ich geschrieben, so auf gut Glück, wie mir’s just in die Feder kam. Mit dem Fasching hatte ich begonnen, weil’s gerade im Fasching war, von Herrn und Frau Schelhaas hatte ich berichtet, weil sie gerade verhandelt wurden. Nun ist der Fasching vorüber, das Ehepaar verurteilt, und ich muss fortfahren in meiner Epistel. Denn das ist mal so Sitte, hat man das erste Kapitel geschrieben, muss man das zweite vornehmen, das dritte usw. bis man findet, dass man nichts mehr zu sagen hat. So wollte ich denn in Gottes Namen erzählen — ja, was wollte ich denn eigentlich erzählen? Von der Literatur? Ihre Vertreter hausen hier in bester Eintracht zusammen, zärtlich wie Turteltauben und wären schon deshalb einer Schilderung wert. Von den Theatern? Sie gehen friedlich weiter, einen angenehmen Trott, und stören in keiner Weise durch selbständige Ideen. Also etwa von bildenden Künstlern? Sie veranstalten Ausstellungen, zerfallen immer mehr in einzelne Gruppen und haben sich beinahe schon so lieb wie die Schriftsteller. Bliebe außerdem noch der Bayrische Landtag, der jetzt schon sieben Monate in der Prannerstraße tagt, es bliebe noch Herr von Possart, der, seitdem er die königlichen Bühnen nicht mehr leitet, Goethe, Schiller und Heine in angenehmer Abwechslung rezitiert oder das große Deutsche Bundesschießen, das diesen Sommer wieder Alldeutschland zu löblichem Tun nach München führt. Stoff genug wäre vorhanden, und ich glaube, ich könnte ihn bewältigen. Hab' ich doch schon öfters über München geschrieben und mich in Art und Sitten seiner Bewohner liebevoll vertieft. Dass ich mich damit besonders in Gunst gesetzt hätte, könnte ich allerdings nicht behaupten. Die Münchner wollten nie recht verstehen, wie ich’s darstellte; sie wünschen retuschierte Photographien und verlangen, dass aus dem vorgehaltenen Spiegel ein anderes Gesicht herausschaut als das, was hineingrinst. Jedenfalls sind sie in diesem Punkt äußerst empfindlich, und dass sie das immer schon waren, beweist mir das Schicksal des Josephus R., das mir nicht mehr aus dem Kopfe will. Mit glühenden Zangen gezwickt, von vier Pferden zerrissen und dann gar noch mit allen möglichen und unmöglichen Körperteilen zur Warnung öffentlich aufgespießt — ich danke für so was. Es ist ja wahr, unsere eminent aufgeklärte Zeit hat die Schrecken der damaligen Hinrichtungsmethoden wesentlich gemildert. Heute köpft man nur, ganz einfach, ganz schmucklos, draußen in Stadelheim, der entzückend gelegenen Strafvollstreckungsanstalt am Perlacher Forst. Zwölf Zeugen, sechs Journalisten, zwei Kapuziner, ein von Humanität triefender Staatsanwalt und in Smoking und schwarzen Glacéhandschuhen der Herr Scharfrichter mit zwei Assistenten. Alles geräuschlos, so ganz en petit comité. Vorüber die herrlichen Tage, wo München zu Füßen des Galgenberges jedes Mal einen Wurstlprater errichtete, der dem der Oktoberfestwiese noch in den vierziger Jahren erfolgreiche Konkurrenz bot. Kein Armersünderkarren mehr, kein öffentliches Schafott, alles Bildung, alles Diskretion, alles Kultur. Trotzdem lockt mich’s nicht. Auch die Aussicht, in der Anatomie von der Zehe bis zum Scheitel als Präparat für wissbegierige Studenten zu dienen, kann mich nicht reizen. Deshalb will ich mir die Sache noch einmal gründlich überlegen, Schritt für Schritt, auf Personen und Umstände, ehe ich richtig hereintappe.

Und da drängt sich mir zunächst eine Frage auf: Was setzen die Münchner von einem voraus, der über ihre Stadt schreibt? Dass er gut schreibt, dass er lobt. Also etwa: München, die unvergleichliche Stadt, gelegen am Fuße der Alpen, mit seiner intelligenten Bevölkerung, seiner berühmten Straßenreinigung, seiner immerwährenden Kanalisation, München, die Stadt des trefflichen Wassers, München, die Stadt der Kunst etc. etc. — so muss es klingen. Und besonders die Kunst kann gar nicht genug betont werden. Sie ist den Münchnern eine Notwendigkeit geworden, wie das Vaterunser mit dem Ave Maria. Der Herr Bürgermeister sagt in jeder Festrede, wenn er die goldene Kette trägt: München ist eine Kunststadt, das Hauptblatt Münchens druckt täglich zweimal, früh und abends, für jeden der’s lesen will: München ist eine Kunststadt, und schließlich wiederholt der Eingeborene mit der selbstgewissen Freude, die er an jedem Besitze empfindet, sei’s ein Stück Geld oder ein schönes Mädel: München ist eine Kunststadt. Warum auch nicht? Es braucht sich ja keiner etwas zu denken dabei. Außerdem ist es wahr. Es leben doch eine Masse Maler in München, überall sieht man Geschäfte, die Pinsel und Farben verkaufen, Modelle gibt’s, dass man sich gar nicht mehr retten kann und die Hauptsache: die zwei Pinakotheken, die Glyptothek, das Maximilianeum, das Ding da — na wie heisst’s denn gleich? — na, das Haus in der Briennerstraße, wo auch so viele Bilder hängen? Richtig! Die Schackgalerie. Obendrein jedes Jahr eine Ausstellung im Glaspalast, die Sezession, alle fünf Jahre eine Internationale, und da soll einer behaupten, München sei keine Kunststadt, da soll einer — Was?

Die Prozessakten des Josephus R. starren mich wieder an, so mahnend, so forschend wie zuerst. Hat der Verbrecher etwa an der Kunststadt gezweifelt? Das war nicht gut möglich. Zu seiner Zeit gab’s in ganz München, einige Ahnenbilder in der alten Kurfürstenresidenz ausgenommen, nichts, was an Kunst gemahnte. Ein Pfuhl, ein Morast war die Stadt, worin die Jauche fröhliche Furchen zog, wie am Hof eines Dachauer Moorbauern. Der Dreißigjährige Krieg hatte hier nichts zerstören können an Kultur, wie in der stolzen fränkischen Reichsstadt, dem freien Nürnberg, wo die Meister der Renaissance ihre Wunder wirkten. Ein Winkelwerk von Befestigungen, von elenden Häuschen und Gässchen, so war die Stadt emporgewachsen, von dem Tage an, da Heinrich der Löwe unten an der Isar eine Salzstätte errichtete. Nur die Alte Residenz, von der Gustav Adolf gesagt hatte, er möchte sie am liebsten auf Rädern nach Stockholm schaffen, konnte das Auge erfreuen und später da und dort noch ein Bau in Rokoko oder Barock, herübergebracht aus dem Lande, von dem bayrische Kurfürsten im 18. Jahrhundert, wie ihre liebwerten Vettern im übrigen Deutschland, alles bezogen, was an Kultur gemahnte, von Frankreich. Sonst weit und breit eine schreckliche Öde, und wie der Sumpf in der ganzen Stadt, so dünstete er aus in den oberen Gesellschaftskreisen. Ein korrumpiertes Beamtentum, ein versimpelter Adel, ein diese beiden ausschlachtender Klerus. An der Spitze der kaum ins Land gezogene Kurfürst Max Josef I., jener grobe, pfiffige Pfälzer mit dem feisten Gesichte, den goldenen Ohrringen, den die Münchner, weil er gern mit ihnen verkehrte, kurzweg den Maxi nannten.

Mitten im Studium der Akten halte ich ein. Was ich da aus verschnörkeltem Schrifttum übertrug, wollte ich nämlich selber sagen, Wort für Wort. Auch mir war’s kein Geheimnis, dass der Braunschweiger Herzog, der finstere Heinrich, weil er da unten bei Föhring einmal seinen Löwen spazieren führte, der Gründer Münchens genannt wird. Dass ferner die bayrischen Kurfürsten mit gottergebener Demut Klöster zur Ablegung von Ordensgelübden und Lustschlösser zur Ablegung von Maitressen in Menge errichteten, kann man heute noch sehen, und von den Zuständen Münchens vor hundert Jahren hat mir auch der Ritter Heinrich von Lang in seinen Memoiren ausführlich berichtet. Ein gar trefflicher Kenner bayrischer Verhältnisse, ein noch besserer Erzähler heilloser, zum Teil schier unglaublicher Anekdoten. Ihn zerriss man gerade nicht in Stücke, aber man tat ihm, was man in Bayerns Hauptstadt jedem tut, der kritisiert und eine halbe Stunde nördlich der Donau geboren ist: man nannte ihn öffentlich einen Preußen, heimlich einen Saupreußen. Dabei trug der gute Mann den Titel eines bayrischen Reichs- und Domänenrats, war von Ansbach nach München gekommen, verlebte also außer der Zeit, wo der korsische Eroberer die fränkischen Fürstentümer Bayern einverleibte und MaxJoseph zum König machte, auch jene Tage mit, wo in München der böse, französische Geist wieder zu weichen begann und einem brausenden Patriotismus in Schnauzbärten und himmelblauen Röcklein Platz machte. „Präsidenten, Kanzler und Räte fingen an zu exerzieren; die Herren Grafen und Barone suchten in den Kaffeehäusern und an den Wirtstafeln die alten, französischen Freunde auf, um vor ihnen ihre Verwünschungen und Flüche auszuschicken, und so ist sie nun mit Gottes Hilfe um den Preis unseres vielen Blutes wieder da, die alte schöne Zeit der Patrimonialgerichte, der Landessperren, der Siegelmäßigkeit und Steuerprivilegien, der neuen Fideikommisse, der wiederbefestigten Leibeigenen Gütergebundenheit, der geheiligten Gemeindeordnungen, der Wallfahrten, des Kapuzinerbettels."

Für solch freimütige Meinungsäußerung als Preuße tituliert zu werden ist um so härter, als der Altbayer auf Erden keine größere Strafe kennt. Drum muss ich nach den bösen Martyrien, die meine Vorgänger zu erdulden hatten, eine zweite Frage aufwerfen, fast noch wichtiger wie die zuerst gestellte: Wer soll über München schreiben? Natürlich ein Eingeborener. Die Fremden gucken uns sowieso schon genug in die Töpfe, jeden Sommer überschwemmen sie das Gebirge, tragen kurze Wichs- und Nagelschuhe, dass man sie von den Einheimischen schon bald nicht mehr unterscheiden kann. Sie berauschen sich auf unseren Kellern — denn dass ihrs nur wisst, die Ausländer trinken so viel Bier, niemals die Münchner — sie machen sich auch schon so breit in der Stadt, ja, sie bauen Häuser und Villen. Das Geld, das sie hereinbringen, mag ja recht sein, Geld nimmt man immer. Non olet, hat schon ein alter Römer gesagt. Aber dreinreden sollen sie uns nicht; wir wollen unter uns bleiben, wir wollen unsere Sachen allein ausfressen. Fehlt was am Ort, können wir Münchner selbst Musterung halten und brauchen keine „Reingeschmeckten“. Das haben wir schon öfters bewiesen. Ha, ha, eine nette Gaudi, anno 48, als uns die Lola Montez auf den Köpfen herumsprang! Doch wir haben’s ihr besorgt, ihr und dem König. Nachgeben musste er. Half ihm alles nichts. War überhaupt ein eigener Herr mit seinen kostspieligen Bauten. Und sein Sohn, der König Max, na ja, ein guter Mann, und dass er alle Mittel- und Kleinstaaten Deutschlands unter den bayrischen Hut bringen wollte, sei ihm heute noch unvergessen. Aber seine besonderen Ideen hatte auch er. Was brauchte er die Leute da zu holen, die Geibel, die Heyse, die Bodenstedt, Dönniges und wie sie alle heißen, die aufgeklärten Nordlichtln? Waren die etwa gescheiter als wir? Mein Gott, da müsste es erst auf die Probe ankommen. Übrigens haben wir’s den Herren ebenfalls gesteckt. Ja wohl. Wisst ihr noch, wie wir dem Dingelstedt München verleideten? Besinnt ihr euch noch auf den Franz Bacherl, den armen bayrischen Dorfschullehrer, dem die superklugen Herren seinen „Fechter von Ravenna" stehlen wollten? Eine feine Mett’n im Hoftheater! Wie nur die Münchner sie inszenieren können. Und endlich anno 70. Da hat man in der Stadt der Intelligenz gemeint, man könnte uns so ohne weiteres vorschreiben, was wir im Süden zu tun haben. Aber sogar der Bismarck — der Münchner spricht dies Wort stets mit drei i aus — hat schließlich dranglauben müssen, das wir uns nichts gefallen lassen, von den jetzigen Machthabern schon gar nicht zu reden.

Ein sympathischer Grundzug, der mir fast wieder Mut gibt, in der nun einmal begonnenen Arbeit fortzufahren. Denn, wenn der Groll sich nur gegen Ausländer richtet, darf ich auf mildernde Umstände hoffen. Ich bin nämlich in München geboren, im Herzen der Stadt, zu Füßen der Peterskirche, am Rindermarkt. Früher habe ich immer behauptet, am Marienplatz, weil ich das feiner fand; will ich aber die Literarhistoriker dorthin weisen, wohin sie gehören, muss ich schon am Rindermarkt festhalten. Und weil ich im Stil des Josephus R. als hochnotpeinlich Beklagter eben dabei bin, meine Personalien anzugeben, muss ich ihren Schmerz noch vergrößern. Ich war nämlich ein fauler Kerl, ging viel lieber ins Freie als in die Schule, noch lieber ins Theater. Mein Vater trieb ein Geschäft, das eigentlich nicht ahnen ließ, wie tief der Sohn sinken sollte. Er war Kaufmann, gleichfalls am Rindermarkt, und wollte aus mir einen brauchbaren Menschen machen. Da mir aber die Herren Professoren auf dem Gymnasium einen Vierer nach dem andern im Deutschen verabreichten, war ich berechtigt, schon damals ein ausgesprochenes Talent zur Schriftstellerei in mir zu vermuten. Die Stadt selbst bot mir reiche Anregung dazu. Es war nicht mehr das München der Lang und Josephus R., sondern jenes, das der Teutscheste der Teutschen, Ludwig der Erste, mit griechischen Palästen und italienischen Renaissancebauten frisch aus der Taufe gehoben hatte. Das stolze Gelübde des bei aller Bizarrerie genial veranlagten Fürsten, aus München eine Stadt zu machen, dass, wer sie nicht gesehen hatte, nimmer sich rühmen sollte, die Welt gesehen zu haben, war erfüllt. Fand er dazu keine Männer, die einen eigenen, neuen Stil schaffen konnten, so nahm er von den Ländern, denen seine Begeisterung galt, das Beste zum Muster.

Zunächst war freilich alles noch unvermittelt, mit dem Alten gar nicht zusammengestimmt. Korinthische Säulen wuchsen aus Wiesen und Kiesfeldern empor, die Pracht des Palazzo Pitti schaute hochmütig auf verschrobene Familienhäuser herab, und im Charakter eines römischen Triumphbogens verdeckte das massige Siegestor als Abschluss der breiten Ludwigstrasse wie ein Schamtuch Schwabings Wüstenei. Die alte Stadt lag noch im Argen. Pettenkofer hatte noch nicht eingegriffen, das Wasser war noch typhös, das Schlachthaus noch nicht gebaut, als Kanäle dienten die Straßen. Unreguliert zog die Isar zwischen Weidengebüschen, ein unbändiges Frauenzimmer, und drunten am Gasthaus zum Ketterl legten die Flößer an, die das Holz aus der Jachenau über Lenggries und Tölz in die Stadt trieben. Die Brücken, die den Fluss überspannten, waren nicht schön, aber sie fielen wenigstens nicht ein wie die von moderner Technik erbauten. Anspruchslos bildeten sie die Verbindung mit den Vorstädten, wo auf den alten Bierkellern jedes Geräusch, jede Musik verpönt war. Dort, unter den schweren Kastanienbäumen mochte sich’s wirklich mal treffen, dass die heute noch so gern zitierte Legende vom Minister, der mit dem Arbeiter fröhlich an einem Tische zusammensitzt, gelegentlich Tatsache wurde. Gemütlich. Dies viel angewandte Wort passte damals auf München. Man konnte in tiefem Sinnen über die Straßen wandern, ohne von Radlern und Automobilen angefahren zu werden, man hörte noch nicht die scheußlichen Rumpelkästen der elektrischen Trambahn, die hier lauter als irgendwo poltern, und auf dem Bürgersteig konnte man mit den Einwohnern im gleichmäßigen Tempo einer ausgeglichenen Seelenstimmung promenieren. Gemütlich. Hätte ich damals das Buch geschrieben, ich brauchte nicht das Schicksal des Josephus R. zu fürchten. Im Gegenteil, ich wäre einer der allgemein beliebten Erzähler geworden, die, sehr geehrt von jung und alt, von hoch und niedrig, überall dabei sind, wo was los ist, ihren sicheren Weg wandeln, jedes Jahr zwei oder drei Bücher schreiben, zum 60. Geburtstag einen langmächtigen Titel und zum 70. den persönlichen Adel erhalten.

Anders sollte es kommen. Mein Vater drängte etwas dazwischen, was die frühzeitige Entwicklung des Talents unbedingt hemmen musste. Auch ich sollte Kaufmann werden; Hochöfen sollte ich bauen, wie sie auf den Hüttenwerken Westfalens und Schlesiens, Frankreichs und Schottlands brennen. In dieser Branche, um einen fachmännischen Ausdruck zu gebrauchen, hatte ein Mann ein System gefunden oder richtiger gesagt das System, Dreck in Gold zu verwandeln. Es war kein Trug, keine Täuschung; die Lösung des oft erörterten Problems war es, so klar, so einfach, so bestrickend. Nichts weiter brauchte man, als oben beim Kamin den Dreck hineinzuwerfen, um unten die Zwanzigmarkstücke herauszuziehen. Eine epochale Erfindung, patentiert in jedem Kulturland, bestimmt, alle Grundgesetze der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft mit einem Schlage außer Geltung zu setzen. Nur dass sie bei mir in entgegengesetztem Sinne wirkte. War ich nicht Fachmann genug oder zu sehr zerstreut: ich warf oben die Zwanzigmarkstücke hinein und zog unten den Dreck heraus.

Zum zweiten Mal war somit der Beweis erbracht, dass ich zum Schriftsteller ein ausgesprochenes Talent besaß. So setzte ich mich denn hin und schrieb ein patriotisches Gedicht. Das war scheußlich. Nun kam ein lyrisches, ein langes, lyrisches Werk mit vielen Strophen und Kapiteln. Das war womöglich noch scheußlicher. Drum musste das Drama dranglauben. Mit fünf- oder noch mehrfüßigen Jamben. Das war das scheußlichste von allem. Ich merkte, dass der Schmerz über die verfehlte Ausbeutung eines Patents nicht in gebundener Sprache ausklingen konnte, und schrieb mit neunundzwanzig Jahren kurzentschlossen meine Erinnerungen. Im Lapidarstil eines oft sehr persönlichen Ausdrucks. Die dem Alchimisten in freundlicher Weise geholfen hatten, sein Gold in Dreck zu verwandeln, waren die schwärzesten Teufel, ich selber ein lichtumflossener Engel. Eine echte Kampfschrift, im Grundton gehalten in der schwungvollen Vortragsart der französischen Nationalisten, die sich stets für verraten erklären, wenn sie vorher eine Riesendummheit gemacht haben. Meine Vaterstadt blieb nicht zurück bei der Kapuzinerpredigt. Ich sah sie plötzlich im ganz anderen Lichte, sah die Schädel der Münchner dreimal so groß wie vorher, ihre Gehirne dreimal so klein, ihre Kneipen dreimal so schmierig, kurz ich lud mit einem Ruck ab, was ich an Galle nur übrig hatte. Alle Schandtaten der Münchner beschwor ich herauf. Denn wie sie mich nicht verstanden hatten, so hatten sie jeden missverstanden, der ihnen etwas Großes, Eigenes bringen wollte. Mit Beispielen und schmeichelhaften Vergleichen war ich nicht sehr bescheiden. Ich brauchte nur zurückzugehen vom Tag des Bankerotts bis zu meiner Kindheit. Da hatte mein Vater oft einen Namen genannt, der mir auffiel. Wagner lautete er, und wenn er zur Sprache kam, folgten ihm Ausdrücke wie Hornochsen, Esel und Schafsköpfe. Anfangs begriff ich das nicht. Erst später erfuhr ich, dass mit dem Wagner ein Musikant gemeint war, mit den verschiedenen Viechern aber die Münchner. Die verleideten ihm einfach die Stadt, schmähten und verleumdeten ihn, ihn und den romantischen König, den jungen Ludwig, der dem Freunde auf stolzer Höhe das schönste Theater der Erde durch Gottfried Semper erbauen wollte. Warum? Das wissen die Münchner heute selbst nicht. Damals wurden jedenfalls alle Schandmäuler aufgerissen, Gevatter Schneider und Handschuhmacher rasten im Gemeindekollegium, und die Clique der Beckmesser, der Geläuterten und Maßvollen rieb sich heimlich die Hände, als die gesamte Knüppelgarde der katholischen Gesellenvereine im Namen der zur Abwechslung wieder einmal schwer bedrohten Religion gegen den norddeutschen Freimaurer losgelassen wurde. Aber ein Trost blieb für jeden, der den Schimpf nicht verwinden konnte. Ein bitterer Trost, aber doch eine Genugtuung: einmal wenigstens hat auf der Welt blödes Banausentum die gehörigen Prügel erhalten, einmal folgte der rohen Tat die Strafe auf dem Fuße. Wagner ging nach Bayreuth. Das war dem Philister anfangs sehr gleichgültig. Als aber nach mageren Jahren auch fette kamen, und die Goldfüchse plötzlich in das lutherische Nest zogen, statt ins gutkatholische München, da fühlte er sich an jener Stelle getroffen, an der er allein verwundbar ist, am Geldbeutel. Und da merkte er endlich, was er getan hatte.

Das alles schrieb ich den Münchnern ins Stammbuch, wie ich’s heute noch einmal tue zur bleibenden Erinnerung. Und je weiter ich kam, desto lebendiger ward es um mich von Sagen und Geschichten aus der damaligen Zeit. Der unglückliche König stand wieder vor mir in all seiner Schönheit und Glorie. Ich sah ihn auf seinen geheimnisvollen Schlössern, sah ihn des Nachts bei Mondlicht und Fackelschein durch das Gebirge jagen und sah sein düsteres Ende im Starnbergersee. Hundinghütte, Wälsungenschwert, Lohengrin mit dem Schwan, alle seine Lieblingsphantasien vermengten sich mit den meinen, und so verlebte ich in Gedanken noch einmal jene große, faszinierende Zeit, Ende der siebziger Jahre, wo der Ring des Nibelungen in München seinen Einzug hielt, und wo eine Aufführung des Siegfried noch ein Ereignis war, von dem man drei Wochen vorher und drei Wochen nachher sprach. Damals warteten wir jungen Burschen oft sechs Stunden am Theatereingang, um uns im ärgsten Gedränge auf die Galerie quetschen zu lassen. Dort saßen wir mit aufgeschlagenen Partituren und fiebernden Pulsen, den Kopf in die Hände vergraben, Augen und Ohren weit aufgerissen, vor dem unerhörten Erlebnis. War dann der große Zwiegesang zu Ende, oder sprengte Therese Vogl mit ihrem Rappen am Schluss der Götterdämmerung in den lodernden Scheiterhaufen, dann löste sich langsam die Spannung in einen ungemessenen Jubel, und wir donnerten sie mit ihrem Gatten und Hermann Levi so dreißigmal an die Rampe.

Heute, wo die Eintrittspreise ums dreifache teurer sind und die Aufführungen ums dreifache schlechter, behaupten kundige Thebaner mit hochgezogenen Augenbrauen und aufgeblähten Backen, die Tempi von damals seien nicht richtig gewesen, mit der Beleuchtung habe es an so mancher Stelle gehapert und die brodelnden Dämpfe um den Walkürenfelsen seien nicht immer aus dem richtigen Loche gekommen. Da hätten Bayreuth und die Zeit aufklärend gewirkt, so dass jetzt erst die Morgenröte der Wagner’schen Kunst anbreche. Sie locken damit keinen Hund hinter dem Ofen hervor, sie bringen nie wieder jene Zeit zurück, die den Höhepunkt der flammenden Begeisterung für Wagner darstellt, und vor allem, sie können der neuen Zeit keine Gesetze vorschreiben. Der Zauber der Romantik ist zerstoben, die Jugend von heute glaubt nicht mehr so feurig an den Gott, wie wir alle geglaubt haben. Wer im Stabreim gedichtet und alte Germanen auf die Bretter geschleppt hatte, musste einsehen, dass Wagner eine Schule nicht hinterließ, nicht hinterlassen konnte. Auf sich selber besinnen. Das hieß es bei uns. Auf sich selber besinnen. Das hieß es bei den Münchnern. Sie hätten mich im Gegensatz zu Josephus R. mit siedendem Blei begossen oder ad maiorem Dei gloriam in die Salve Regina-Glocke der Frauenkirche geknüpft, Füße nach oben, Hände nach unten, um hohe Festtage einzuläuten, wäre meine böse Epistel mit allen Zutaten gedruckt worden. Damit hätten sie an mir eine Strafe vollzogen, die mein elender Stil allein schon verdiente, nie und nimmer aber hätten sie jene Gelegenheit zurückgerufen, die durch die Vertreibung Wagners und derer, die mit ihm arbeiteten, für alle Zeiten schimpflich verpasst war.

Franken 062 Baireuth

Franken 062 Baireuth

Blick auf München von der Giesinger Höhe - Heinzmann 1836

Blick auf München von der Giesinger Höhe - Heinzmann 1836

Blick auf München von Norden - W. von Kobell

Blick auf München von Norden - W. von Kobell

Blick auf München von der Gasteighöhe - Heinzmann

Blick auf München von der Gasteighöhe - Heinzmann

In der Schwabinger-Gasse. - F. Bollinger

In der Schwabinger-Gasse. - F. Bollinger

Am Färbergraben. - F. Bollinger

Am Färbergraben. - F. Bollinger

In der Sendlingergasse. - F. Bollinger

In der Sendlingergasse. - F. Bollinger

Blick auf München von der Bogenhausener Höhe - Jakob Dorner

Blick auf München von der Bogenhausener Höhe - Jakob Dorner

Ansicht von München mit der Goesinger Höhe - Heinzmann 1838

Ansicht von München mit der Goesinger Höhe - Heinzmann 1838

Am Färbergraben - Bollinger

Am Färbergraben - Bollinger

Am Parade-, jetzt Promenadeplatz - F. Bollinger

Am Parade-, jetzt Promenadeplatz - F. Bollinger

München - Der schöne Turm - F. Bollinger

München - Der schöne Turm - F. Bollinger

München - Das Kapuzinerkloster - F. Schießl

München - Das Kapuzinerkloster - F. Schießl

Münche - Der Max Joseph-Platz - F. Schießl

Münche - Der Max Joseph-Platz - F. Schießl

Ansicht von München vom Norden; in Vordergrund links die Freisinger Landstraße - G. Kraus 1837

Ansicht von München vom Norden; in Vordergrund links die Freisinger Landstraße - G. Kraus 1837

Anscicht von München vom Osten. - J. C. Ettinger

Anscicht von München vom Osten. - J. C. Ettinger

Ansicht von München von der Südseite; im Vordergrunde Thalkirchen und Maria Einsiedel - H. Adam / Gustav Kraus

Ansicht von München von der Südseite; im Vordergrunde Thalkirchen und Maria Einsiedel - H. Adam / Gustav Kraus

Ansicht der Churfürstl. bayrschen Haupt- und Residenzstadt München

Ansicht der Churfürstl. bayrschen Haupt- und Residenzstadt München

München - Eingestürzte Häuser am Thiereckgäßl. - F. Bollinger

München - Eingestürzte Häuser am Thiereckgäßl. - F. Bollinger

München - Bräuer und Bräuerin - F. Bollinger

München - Bräuer und Bräuerin - F. Bollinger

München - Brotladen in der Sendlingergasse - F. Bollinger

München - Brotladen in der Sendlingergasse - F. Bollinger

München - Der Schäfflerstanz - Gustav Kraus

München - Der Schäfflerstanz - Gustav Kraus

München - Der Metzgersprung - Albrecht Adam um 1825

München - Der Metzgersprung - Albrecht Adam um 1825

München - Ansicht der Isarbrücke nach dem Einsturz am 13, September 1813 - C. Wenng

München - Ansicht der Isarbrücke nach dem Einsturz am 13, September 1813 - C. Wenng

München - Brand des Hoftheaters am 14. Januar 1823 - Peter Ellmer

München - Brand des Hoftheaters am 14. Januar 1823 - Peter Ellmer

München - Pferdestall der Postillone - F. Bollinger

München - Pferdestall der Postillone - F. Bollinger

Maximilian Joseph I., König von Bayern (1756-1825)

Maximilian Joseph I., König von Bayern (1756-1825)

Max Joseph Graf von Montgelas, bayerischer Minister (1810)

Max Joseph Graf von Montgelas, bayerischer Minister (1810)

Das neue Rathaus in München

Das neue Rathaus in München

München, neues Volkstheater

München, neues Volkstheater

Wagner, Richard (1813-1883) Komponist, Dichter, Schriftsteller, Dramaturg

Wagner, Richard (1813-1883) Komponist, Dichter, Schriftsteller, Dramaturg