Stünkel

Wenn ihr nach Moskau kommt, vergesst nicht, Stünkel einen Besuch zu machen. Aber meldet euch vorher an, denn der Mann ist hart beschäftigt. Er arbeitet Zimmer 125 im Gebäude des Obersten Volkswirtschaftsrates. Er ist ein Metallgewaltiger Russlands, ein Organisator der Metallabteilung des Obersten Volkswirtschaftsrates, die die ganze Metallindustrie Russlands umfasst oder umfassen soll. Die Privatwohnung sage ich euch nicht. Denn nachts muss Stünkel ungestört bleiben. Er arbeitet von früh morgens bis spät, bis in die Nacht. Nachts muss er ungestört bleiben, damit er von frühmorgens bis in die Nacht arbeiten kann.

Ihr habt gewiss von Stünkel noch nichts gehört. Ihr hört nur, ihr hörtet nur von den Sowjetsternen, von den Sowjetstars. Aber ich möchte euch etwas tuscheln: auf die Politiker kommt es nicht sehr so an wie auf die Wirtschaftsorganisatoren. Ich habe vieles aus Moskau mitgebracht, darunter auch eine heftige Abneigung gegen die Politiker. Die Politiker, das ist etwas Abgestandenes, etwas Unproduktives, etwas Sichwichtigtuendes, Leitartikelndes, Leitredendes, aber nichts Arbeitendes. Es ist eine Abgestandenheit, es hat mit der Neuzeit nichts zu tun. Soeben ist das Mittelalter vorüber, die Neuzeit bricht an, hoffentlich ohne Politiker. Die Neuzeit wird nicht von Politikern gemacht werden, sondern von den Arbeitern aller Sorten. Sie wird gemacht werden von den Maschinenarbeitern, den Gartenarbeitern, den Wirtschaftsorganisatoren, den Ärzten, den Lehrern, den Volkskünstlern, den Architekten, den Technikern, den Arbeitern aller Sorten, aber nicht von Politikern. Es gibt Politiker in Moskau, die Arbeiter sind, und es gibt Arbeiter, die Politiker sind. Lenin beispielsweise ist ein politischer Arbeiter und ein arbeitender Politiker. Aber auch die Lenine werden die neue Zeit nicht machen, so wichtig sie für den Übergang sind. Die neue Zeit wird von anderen gezimmert. Beispielsweise von Stünkel.


Stünkel ist ein Finne mit deutscher Schulung. Er ist ein Ingenieur, einer von den wenigen russischen Ingenieuren, die frühzeitig die Entwicklung erkannt haben. Er spielt eine Rolle im russischen Ingenieurverein. Eine Rolle im russischen Ingenieurverein spielen, das heißt eine Rolle in einem Stück Seele der russischen Revolution spielen. Ich kann das hier nicht näher erörtern, ich kann nur sagen, daß dieser Verein etwas sehr Bedeutungsvolles für Russland ist. Für die russische Revolution, negativ und positiv.

Stünkel ist freundlich, Stünkel ist kühl, Stünkel hat Überblicksaugen. Er sieht sofort, ob in Kolomna etwas nicht klappt, in Kolomna, einem der Metallherzen Russlands. Er sieht den Entwicklungskreis, die Entwicklungsstraße, er sieht die ökonomische Tendenz, er sieht die Fehler und die Möglichkeiten, und er handelt danach. Er handelt rasch, ohne großen Apparat, ohne das sonst in Moskau übliche Instanzengeschludere, ohne die sonst in Moskau üblichen Schwerfälligkeiten, ohne die langweiligen Besinnungen, die Umwege und die fruchtlosen Diskussionen. Er ist kein Papierdekretmensch, sondern ein praktischer Mensch. Stünkel ist ein ganz prachtvoller Mensch.

In seinem Vorzimmer (125 a) stehen schon beruhigte Leute, entscheidgewisse Leute. Die Leute sind sicher, daß Stünkel ihnen etwas Positives sagen wird. Etwas Pluspositives oder Minuspositives, aber etwas Positives. Er macht das ganz ruhig, hintereinander, nicht durcheinander. Er telephoniert dazwischen, leise und bestimmt, sozusagen mit freundlicher Peitsche. Er ist ein großartiger Geschäftsmann, ein kaltglatter Organisator, ein ruhigenergischer Antreiber. Solche Leute braucht Sowjetrussland. Es hat viel zu wenig davon. Deutschland hat solche Leute, Amerika hat solche Leute. Schickt solche Leute rüber nach Sowjetrussland, ihr werdet es nicht bereuen.

Draußen, hinter der Moskwa, in einer stillen Straße, in einem kirschbaumbestandenen Garten, von Stünkelkindern umkreiselt, habe ich mit ihm gearbeitet. Bis in die Nacht gearbeitet. Das heißt, er hat mit mir gearbeitet. Bei Tee, der von der gütigen Frau Stünkel aufgetragen wurde, erzählte er mir Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Er hielt mir, an vier Abenden, ein Kolleg über die Geschichte der Nationalisierung. Ich begriff die Notwendigkeiten, die Entwicklungsvoraussetzungen, die Unterschiede. Er nahm das Reißbrett und zeichnete. Er illustrierte mir so die Geschichte der Nationalisierung, er umstrich sie mit dem Finger in der Luft.

Ich sah nun die drängende Wirtschaft, das nach Ordnung drängende Chaos, ich sah die Menschen in diesem Chaos, über diesem Chaos, ich sah das Geld in diesem Chaos, das flüchtende und verlorene Geld. Ich sah die Vorwärtsdränger und die Bremser, die Versteher und die Nichtversteher, die Woller und die Nichtwoller. Alles wurde nun eine Linie, eine Straße, es wurde eine Entwirrung, und ich atmete auf. Stünkel veschaffte mir den Hochstand, den Turm, den Berg, von dem aus ich übersehen konnte.

Ich verstand nun die Sozialökonomie Russlands, die sozialpsychologischen Verschiebungen, die zur Revolution drängten, die sozialpsychologischen Umstellungen, ihre Ursachen, ihre Einflüsse auf die Revolution. Ich begriff den Kampf der Beamten und Privatangestellten gegen die Arbeiter, den Kampf der Ingenieure gegen die Arbeiter und den Gegenkampf der Arbeiter. Ich begriff zum ersten Male die neue Wirtschaftsgeographie, die neue ökonomische Karte Russlands, die mir später Krzyizanowski fingerzeigte, wie mir einst der tüchtige Wermut, der jetzige Oberbürgermeister von Berlin, einer der besten Beamten Preußens, eine bisher unverstandene Sache auf der Karte aufgehellt hat.

In dem kleinen Kirschbaumgarten hat mir Stünkel diese Weisungen gegeben, diese Aufhellungen. Ich danke ihm dafür. Nur selten hatte ich solch einen klärenden Lehrer.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter